Unlearn Patriarchy (eBook)
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2844-7 (ISBN)
Obwohl wir inzwischen im 21. Jahrhundert leben, herrscht noch immer das Patriarchat. Warum zur Hölle ist das so? Und was kann jede: r persönlich dazu beitragen, die häufig unbewussten toxischen Strukturen zu erkennen und aufzulösen? Dieser Sammelband mit bekannten Autor:innen bietet Hilfestellung. Sich gegen das Patriarchat zur Wehr zu setzen, ist besonders im Alltag schwierig. Denn Vieles ist uns so vertraut, dass wir es gar nicht hinterfragen. Sogar bekennende Feminist:innen tappen immer wieder in die gleichen Fallen. Wir schließen Frauen durch Sprache aus, folgen veralteten Vorstellungen von einer glücklichen Kleinfamilie inklusive traditionellen Rollenbildern. Oder wir passen uns männergemachten und kapitalistischen Strukturen an, wenn wir im Beruf erfolgreich sein wollen. Die Beitragenden der Anthologie UNLEARN PATRIARCHY berichten von ihren Erfahrungen und spüren eigenen fatalen Denkmustern nach. Sie zeigen, wie über alle Gesellschaftsbereiche hinweg von Sprache und Liebe über Arbeit bis hin zu Politik, Bildung oder Identität die patriarchalen Handlungsmuster gebrochen werden können und ein besseres Leben für alle möglich wird. »Große strukturelle Denkhindernisse werden in diesem Buch von klugen Köpfen analysiert. Sie helfen zu verlernen, was Gegenwart und Zukunft zerstört!«Luisa Neubauer
Lisa Jaspers, *1983, ist mit "Folkdays" angetreten, das angestaubte Image von Fair-Trade-Produkten aufzupolieren. Durch den Verkauf von Kleidung, Schmuck, Taschen usw. hat sie für hunderte von Menschen aus den ärmsten Regionen der Welt ein Einkommen geschaffen. Lisa hat Politik und Entwicklungsökonomie studiert und arbeitete als Beraterin u.a. für Oxfam, wo sie Naomi Ryland kennenlernte.
Kenza Ait Si Abbou ist Expertin für Robotik und künstliche Intelligenz. Sie studierte Elektrotechnik und Wirtschaftsingenieurwesen und arbeitet nach Stationen in Spanien, China und Deutschland als Director Client Engineering bei IBM. Außerdem ist sie gefragt als Rednerin, Jurorin und Moderatorin. Die gebürtige Marokkanerin spricht sieben Sprachen fließend. Die Zeitschrift Capital wählte sie 2020 zu den Top 40 unter 40, u. a. erhielt sie den 'FemTech Award', den Preis 'Engineer Power Women 2019' und den Digital Female Leader Award 2018. 2020 erschien ihr Bestseller 'Keine Panik, ist nur Technik' und 2022 ihr Kinderbuch 'Meine Freundin Roxy: Roboterzähmen leicht gemacht'.
unlearn gender – Linus Giese
Sex vs. Gender – und warum uns das nicht weiterbringt
Mein Name ist Linus Giese, ich bin 36 Jahre alt und habe mich vor fünf Jahren als trans Mann geoutet. Die Erfahrungen, die ich seit meinem Coming-out gemacht habe, haben dazu geführt, dass sich meine Perspektive auf vieles im Leben verändert hat. Das betrifft vor allem unseren gesellschaftlichen Blick auf Geschlecht und Geschlechterrollen – vielleicht kann ich mit meinem Text dazu anregen, mit einem anderen Blick auf ein Thema zu schauen, das für viele von uns oft noch schwer zu greifen ist. Ich denke, dass das Leben ein ewiger Lernprozess ist und dass die Chance, etwas Neues zu lernen, ein großartiges Geschenk sein kann. Veränderungen müssen uns keine Angst machen, sie können unser Leben erweitern und bereichern.
Ich gebe zu: Geschlecht ist ein verdammt kompliziertes Thema, ich selbst habe 31 Jahre gebraucht, bevor ich mein eigenes Geschlecht herausgefunden habe. Was ist das Geschlecht überhaupt? Und warum sprechen manche Menschen von Geschlecht und andere von Gender?
Der Begriff Geschlecht ist ein von Menschen erfundenes soziales Konstrukt. Während sich viele Menschen an die sogenannte Biologie klammern und glauben, dass das Geschlecht von Menschen eindeutig und unveränderbar ist, bin ich der festen Überzeugung, dass es kein »biologisches Geschlecht« gibt, das unabhängig von einem »sozialen Geschlecht« existiert. Das Geschlecht anderer Leute lässt sich nicht von außen erkennen, du ordnest Menschen lediglich in Kategorien ein, die auf gesellschaftliche Stereotype fußen.
Der Begriff Gender begegnet uns im alltäglichen Leben immer öfter. Er taucht zum Beispiel dann auf, wenn es um den Gender Pay Gap geht, aber auch dann, wenn es um toxische Männlichkeit geht. Seit trans Menschen im öffentlichen Raum sichtbarer und besser repräsentiert sind, hören wir auch immer öfter von Menschen, die agender, genderfluid oder genderqueer sind. Am häufigsten begegnet uns der Begriff wahrscheinlich dann, wenn es um das sogenannte Gendern geht. Wenn wir sprachlich gendern, dann sprechen wir von Freunden und Freundinnen, Lehrern und Lehrerinnen. Bei der Verwendung der grammatisch maskulinen und femininen Form bleibt die Binarität aber bestehen. Deshalb bemühen sich immer mehr Menschen darum, beim Sprechen zu entgendern und stattdessen von Freund*innen, Lehrer*innen oder auch Studierenden oder Mitarbeitenden zu sprechen – mit dem Sternchen (oder dem Doppelpunkt) und Partizipialkonstruktionen werden Menschen sprachlich sichtbar gemacht, auf die weder die maskuline grammatische Form noch die feminine grammatische Form passt. Hinter dem Gedanken des (Ent-)Genderns steht der Wunsch, sich geschlechtersensibel auszudrücken und auch marginalisierte Minderheiten sprachlich zu repräsentieren.
Während wir im Deutschen mit »Geschlecht« nur ein einziges Wort haben, mit dem sehr viele Dinge gleichzeitig gemeint sein können (Geschlecht als Rolle, als Identität, als soziales Konstrukt, als Geschlechtseintrag, als etwas, das zugewiesen wird), gibt es im englischen Sprachraum schon immer die Unterscheidung zwischen sex und gender. Gender wurde dort ursprünglich für das grammatische Geschlecht (bei uns »Genus«) benutzt, bis der Begriff im feministischen akademischen Diskurs besetzt wurde als performativer Herstellungsakt. Für mein Empfinden greift diese Zweiteilung oft zu kurz: Was auf den ersten Blick inklusiver erscheint, bleibt am Ende genauso diskriminierend wie die Formulierung »als Mann/als Frau geboren«. In sex und gender zu unterteilen, führt dazu, dass Menschen denken, dass ein trans Mann zwar einen Mann darstellen möchte (gender), biologisch aber eine Frau bleibt (sex). Geschlecht wird aus dieser Perspektive also an Körpern, Hormonen und Chromosomen festgemacht. Und nicht am Empfinden.
Jetzt sind wir schon direkt eingestiegen und bei dem ersten Punkt auf meiner Umlernliste: Das Geschlecht von Menschen ist ein soziales Konstrukt, es wird im Sprechen und Handeln zugeschrieben. Es gibt kein biologisches Geschlecht, sondern lediglich ein zugewiesenes Geschlecht. Zugewiesenes Geschlecht bedeutet, dass Ärzt*innen und Hebammen beim Neugeborenen schauen, ob das Kind eine Vulva oder einen Penis hat. Es werden keine Chromosomen, Hormonspiegel oder inneren Organe untersucht, das Geschlecht wird stattdessen aufgrund eines äußeren Erscheinungsbilds zugewiesen. Auf der Basis bestimmter äußerer Merkmale wird also ein Geschlecht festgelegt, obwohl es schon qua Geburt Mischformen und fließende Übergänge zwischen den Geschlechtern gibt.
Doch warum heißt in der Vorstellung vieler Menschen ein Hautlappen in der Körpermitte Schamlippen, und weshalb bezeichnen viele Menschen Schamlippen auch noch als weiblich? Der Hautlappen ist zweifelsohne biologisch – er ist reale Materie, er hängt dort, darüber lässt sich nur schwer diskutieren. Aber diesen Hautlappen »Schamlippen« und »weiblich« zu nennen, ist nichts Biologisches, sondern eine kulturelle Übereinkunft. Dass wir bestimmten Körperteilen bestimmte Geschlechtsattribute zuweisen, liegt an der tief verwurzelten gesellschaftlichen Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit: Warum gibt es weibliche Brüste, aber keine weiblichen Nieren oder weibliche Ohren? Warum wird einer intimen Anatomie überhaupt ein Geschlecht zugewiesen?
Auf Instagram sah ich vor einigen Wochen, dass die Klitoris endlich auch in Schulbüchern abgebildet wird. Das ist so eine schöne und wichtige Nachricht – und angesichts der Tatsache, dass wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben, wurde es dafür auch verdammt noch mal Zeit. Ich finde es aber genauso wichtig, nicht zu feiern, dass das »weibliche Geschlechtsorgan« endlich im Biologiebuch steht, denn Körperteile haben kein Geschlecht: Auch trans Männer und nicht-binäre Menschen können eine Klitoris haben. Wenn Menschen sagen, dass ich biologisch eine Frau sei, dann meinen sie eigentlich, dass ich an bestimmten Stellen einen Hautlappen und an anderen Stellen Brustgewebe besitze. Der Hautlappen und das Brustgewebe sind biologisch, aber beides als weiblich zu bezeichnen, ist gesellschaftlich und kulturell bedingt. Ich wünsche mir, dass wir damit beginnen, diese normierten Geschlechterzuschreibungen zu hinterfragen – und irgendwann lernen, über diese binäre Zweigeschlechtlichkeit hinaus zu denken.
Der Großteil der Menschen identifiziert sich mit dem ihm zugewiesenen Geschlecht – auch weil ihm nicht bewusst ist, dass es eine Alternative dazu geben könnte. Doch immer mehr Menschen können sich nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Sie stellen es in Frage oder sie leiden gar darunter. Die Zuweisung fühlt sich für diese Menschen nicht richtig an. Sie fühlen sich dem gegenteiligen Geschlecht zugehörig (trans), empfinden sich neutral (agender) oder auf einem Spektrum je nach Kontext (genderfluid).
Dennoch wachsen wir alle in diesem System der Zweigeschlechtlichkeit auf, werden als Mädchen oder Junge erzogen. Es ist schwierig, daraus auszubrechen. Unser patriarchales System, in dem Männer von der binären Logik profitieren, ist für die fest zementierten Vorstellungen verantwortlich, die wir von den Geschlechtern haben: Von dir werden – je nachdem, welches Geschlecht dir bei der Geburt zugewiesen wurde – bestimmte Rollen und Verhaltensweisen erwartet. Diese Erwartungen spiegeln sich im Alltag in deiner Herkunftsfamilie und im sozialen Miteinander, im Bildungsbereich genauso wie kulturell in Büchern, Filmen und Serien.
Während von Männern erwartet wird, dass sie stark, dominant und rational sind, haben Frauen empathisch, sorgend, passiv und begehrenswert zu sein. Von Menschen, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wird, erwartet man also ein Verhalten, das in unserer Gesellschaft als männlich gilt – von Menschen, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wird, wiederum ein Verhalten, das in unserer Gesellschaft als weiblich gilt. Frauen kümmern sich um die Kinder und den Haushalt und tragen gern Kleider, während Männer die Brotverdiener sind, Sport treiben und niemals weinen. Stereotype sind immer eine Verzerrung der Wirklichkeit, aber diese Rollenzuschreibungen sorgen dafür, dass Menschen in vorgegebene Schubladen einsortiert werden. Es gibt Menschen, die sich in dieser Schublade nicht wohl und ihr nicht zugehörig fühlen, denn Schubladen bedeuten immer, dass Menschen sich selbst die Möglichkeit nehmen (lassen), über diese Gegebenheiten hinaus zu denken. Schubladen bedeuten immer Begrenzung:
»Ich würde gern Basketball spielen, aber Mädchen können nicht werfen.«
»Ich würde mir gern die Nägel lackieren, aber Männer tun so etwas nicht.«
»Mir ist die Karriere wichtiger als ein Kind, aber von Frauen wird etwas anderes erwartet.«
Das Geschlecht der Dinge
Dieses Denken in zwei geschlechtlichen Kategorien ist schwer zu verlernen, weil es unseren Alltag so sehr prägt. Wir wachsen von klein an damit auf: Uns wird gesagt, welche Kleidung wir tragen dürfen, welche Bücher die richtigen für uns sind und mit welchem Spielzeug wir spielen dürfen. Als ich...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Psychologie | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Anthologie • Arbeit • Bestseller • Bildung • Dekonstruktion • Erfahrungen • Familie • Feminismus • Feministisch • Frauen • Geld • Gender • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Identität • influencer • Kaptialismus • Kritik • Liebe • Macht • Männer • Patriarchat • Rassismus • Ratgeber • Sachbuch • Sammelband • SPIEGEL-Bestseller • Sprache • Technologie • toxisch • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-8437-2844-5 / 3843728445 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2844-7 / 9783843728447 |
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