Die Würze der Kürze (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491521-0 (ISBN)
Klaus Zeyringer, geboren 1953 in Graz, habilitierte sich dort 1993 und war Professor für Germanistik in Frankreich. Er ist als Literaturkritiker u.a. für den »Standard« tätig sowie Jurymitglied der ORF-Bestenliste und moderiert Literatur-Veranstaltungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Im S. Fischer Verlag ist »Fußball. Eine Kulturgeschichte« erschienen sowie das zweibändige Werk »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 1: Sommer« und »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 2: Winter«. Klaus Zeyringer »ist ein begnadeter Erzähler, seine historischen Sachbücher sind eher Romane«. NZZ am Sonntag »Wie nur wenige WissenschaftlerInnen versteht es Klaus Zeyringer, seine LeserInnenschaft literarisch zu fesseln.« Die Wochenzeitung
Klaus Zeyringer, geboren 1953 in Graz, habilitierte sich dort 1993 und war Professor für Germanistik in Frankreich. Er ist als Literaturkritiker u.a. für den »Standard« tätig sowie Jurymitglied der ORF-Bestenliste und moderiert Literatur-Veranstaltungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Im S. Fischer Verlag ist »Fußball. Eine Kulturgeschichte« erschienen sowie das zweibändige Werk »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 1: Sommer« und »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 2: Winter«. Klaus Zeyringer »ist ein begnadeter Erzähler, seine historischen Sachbücher sind eher Romane«. NZZ am Sonntag »Wie nur wenige WissenschaftlerInnen versteht es Klaus Zeyringer, seine LeserInnenschaft literarisch zu fesseln.« Die Wochenzeitung
Leser, Publizisten
1 Vor den Letzten Tagen der Menschheit: »Gleichheit war im allgemeinen überlegen«
Ein soignierter Herr im Lodenmantel steht am Perron des kleinen Bahnhofs. Er sieht zu, wie Hoteldiener ein paar Pakete bedruckten Papiers auf ihre Karren laden und der Wind sie aufzublättern versucht.
Die Morgenausgaben gelangen mit dem ersten Zug aus der Haupt- und Residenzstadt in den Bergkurort. Überregionale Zeitungen folgen zur Stunde, in der weiß beschürzte Kellner das Zweite Frühstück auftragen. Passend für den Fünfuhr-Aperitif trifft schließlich das Nachmittagsblatt ein.
Ob kleine Pension oder Luxushotel, ein gut bestückter Pressetisch gehört sich. Die 64 Kronen für ein Jahresabonnement der Neuen Freien Presse sind den Service wert. Den Pester Lloyd gibt es billiger, trotz seiner längeren Anreise aus Ungarn, 48 Kronen kostet er. Noch günstiger ist das Neue Wiener Journal, man kann es sogar in Ägypten beziehen, um 11,50 Kronen im Quartal. Die Frankfurter sowie die seit Jahresbeginn vom Ullstein-Verlag betriebene Vossische dürfen nicht fehlen, man bekommt sie allerdings manchmal mit einem Tag Verspätung. Blätter aus Übersee liegen erst Wochen nach ihrem Erscheinen in den Stammcafés für Lese-Snobs bereit.
»Welch wundervolle Organisation, wie flott diese großen und kleinen Meldungen alle Welt erreichen«, sagt der Fahrdienstleiter angesichts der schmalen Bündel, die der Schaffner aus dem Waggon reicht.
Der Streckenwärter nimmt sie entgegen. »Ich schwöre auf die Arbeiterzeitung«, antwortet er. »Sie kümmert sich um meinesgleichen, und für das Abonnement zahl ich monatlich nur zwei Kronen zwanzig.«
»Mir ist die Reichspost lieber«, sagt der Fahrdienstleiter. »Sie ist für das christliche Volk gemacht. Das steht gleich unter ihrem Namenszug. So weiß man, was man bekommt. Drei siebzig kostet sie im Monat. Vorgestern hat sie auf der ersten Seite einen schönen Artikel über den Osterglauben gebracht.«
»Die Arbeiterzeitung dafür die Überschrift ›Sozialer Friede oder Klassenkampf?‹ Da haben wir’s schwarz auf weiß gedruckt, was uns unterscheidet«, entgegnet der Streckenwärter.
Vorne, vor dem Schlund des Tunnels, faucht die Lokomotive im Stand.
Hier am Bahnhof hat sich der soignierte Herr die Dampfloks angesehen, mit denen die Moderne heraufzog, über Brücken, durch Tunnels, angesichts von Felszacken und Schluchten. Die Fahrt auf der ersten Alpenstrecke bietet jedes Mal ein Erlebnis, erstaunter Blick links aus dem Fenster, nach der Kurve ergötzlicher Anblick rechts.
»Welch Wunder, diese Eisenbahn«, sagt der Kaiserliche Rat.
Als der Allerhöchste Herr anno 1728 auf dem neuen Weg bequem im Pferdewagen hier herauf kutschiert ist, sein Wohlgefallen darüber bezeugt hat und »die Arbeiter allergnädigst beschencket«, war es dem Hamburgischen Correspondenten in seiner Nummer 110 eine Meldung wert gewesen: Solche Arbeit sei »recht wunders=würdig«, man vermöge fast nicht zu glauben, »daß auf einer solchen Anhöhe eine Land=Straße durch Menschen Hände gemacht werden könnte«.
In den modernen Zeiten, die auch das Pressewesen beschleunigt haben, rollen nun schnaubend, aber flott die Züge herauf. An der Böschungsmauer erinnert ein von dorischen Säulen gerahmtes Denkmal an den Ingenieur, der den Streckenbau plante und leitete.
Nachdem der soignierte Herr im Lodenmantel sich davor verneigt hat, kehrt er vom Spaziergang zurück, schwenkt seinen Stock, geht vorbei an Villen in mariatheresianischem Gelb. Auf kleinen Holzbalkons hängen erwartungsvoll dunkelbraune Blumenkistchen über den Geländern. Dichtgrün steigt der Wald an, durch den eine Riesenhand fährt, so dass die Strähnen der Bäume zu Berge stehen. Fast wäre der Hut vom Kopf geflogen, hätte ihn nicht die Rechte schnell festgehalten. Bei diesem Wetter freut man sich auf die ruhige Salonwärme, auf die Nachrichten aus der großen und der kleinen Welt, die einem Kaiserlichen Rat auch hier im ländlichen Kurzurlaub nicht fehlen dürfen. Schon gar nicht die Kleine Chronik, die kurzen Texteinsprengsel, die er – wie alle noch so klugen Männer, die er kennt – mit Vergnügen, mitunter mit leisem Schaudern liest.
Das mächtige und doch fein gegliedert wirkende Hotelgebäude steht am Hang. Zum Prunkeingang mit seinen getönten Schwingtüren führen weiße Stufen aus exquisitem Stein. Drinnen öffnet sich eine weite helle Halle, deren Hintergrund die gediegen getäfelte Rezeption bildet, mittig an der Wand ein großes Bildnis des Allerhöchsten Herrn. Unter den Kristalllüstern sind rot gepolsterte Fauteuils zu Sitzgruppen zusammengestellt. Auf den Tischchen liegen Zeitungen, ein Pressespektrum der Monarchie, ein paar Exemplare aus dem Ausland.
Großformatig liefern sie viele Meldungen auf einer Seite, in gewohnter Ordnung, so dass die Leserschaft täglich ein Raster ihrer Existenz vorzufinden meint, Koordinaten vom Internationalen bis ins Private. Die ganze Bandbreite bespielen die »Vermischten Meldungen«. Den Redaktionen sind sie praktische Füllsel, die sich dorthin, dahin setzen lassen, Auswüchse des Allzumenschlichen, die dem Publikum bedeuten, dass das berichtenswerte Geschehen vor keiner Haustüre haltmacht.
Der Kaiserliche Rat zieht sich mit ein paar Blättern in eine Polsterecke zurück. Nur leichtes Papierrascheln, manchmal ein Gläserklacken unterbricht die Stille.
Am Wochenende ging es hier oben noch hoch her. Nun kann man die Gespräche und Belustigungen sich setzen lassen. Die Meldungen halten politisch auf dem Laufenden, schließlich ist die Lage nicht einfach. Und am Rande liefern die Kästchen der Kurznachrichten soziale Momentaufnahmen. Der Kaiserliche Rat schlägt die Neue Freie Presse auf, er vertieft sich. Bei der »Kleinen Chronik« hebt er die Augenbrauen, er liest seinen eigenen Namen.
Passend findet er das. Schließlich bietet die Gegend nicht nur mondäne Erholung in den Bergen, in Südbahnnähe von Wien. Hier ereignet sich Gesellschaft. »Seinesgleichen geschieht« wird es später im großen Roman über diese Zeit heißen.
Man schreibt den 14. April 1914, es ist der Dienstag nach Ostern. In der Neuen Freien Presse steht:
Vom Semmering, 13. d., wird uns gemeldet: Das herrliche Wetter hatte zu den Feiertagen zahlreiche Besucher auf den Semmering gelockt. Nicht nur auf dem Semmering selbst, sondern im ganzen Semmeringgebiete waren sämtliche Hotels, Villen und Privatwohnungen vollbesetzt. Das Publikum benützte das sommerlich warme Wetter zu Spaziergängen und Ausflügen. Überall herrschte fröhliches Leben und Treiben.
Das Wiener Blatt hebt Gäste aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur hervor. Im Südbahnhotel Kommerzialrat Fanto, Professor Dr. Jolles, Frau Hofrat v.Popper aus Budapest, den Kaiserlichen Rat Wilhelm Taussig, Fräulein Gerda Walde; im Hotel Panhans Richard Preßburger, Direktor Ben Tieber vom Apollotheater; im Palace Hotel den Kaiserlichen Rat Wertheim, in der Pension Sonnhof den Kaiserlichen Rat Fleischl, Direktor Popper, Frau Medizinalrat Fodor. Zudem nennt die kurze Mitteilung den Justizminister, Generalkonsuln, Offiziere, einen Oberstleutnant »mit Sohn«, Grafen, Freiherrn »samt Familie«, Bankdirektoren, eine »Fabrikantensgattin«, Advokaten, »Fräuleins vom Theater«, den »Flieger Warchalowsky u.a.m.«.
Karl Kraus, das literarisch-moralische Gewissen der Zeit, weiß, dass aus kleinen Meldungen ein Abbild der Welt ersteht. Der scharfe Blick des ungemein renommierten wie auch angefeindeten Publizisten vermag hinter die Kulissen der Phrasen zu schauen und Zustände im Blitzlicht seiner Satire zur Kenntlichkeit zu bringen.
Eine Woche nach den Ostertagen schreibt er unter dem – fett die Phrase ausstellenden – Titel »Leben und Treiben«, Derartiges habe die Neue Freie Presse vermeldet. Am 21. April 1914 steht in der Fackel, Nummer 398:
Leben und Treiben herrschte zu Ostern auf dem Semmering. Ein schlechter Prophet, der es anders erwartet hat. Es lebten: Fanto, Jolles, Popper, Taussig und Gerda Walde. Es trieben: Preßburger, Wertheim, Fleischl, Fodor und Ben Tieber. Da somit auch die Kunstwelt ihre Vertreter entsendet hatte, blieb dem Humor nichts anderes übrig, als in seine Rechte zu treten, während das herrliche Wetter unaufhörlich damit beschäftigt war, Generalkonsuln zu locken.
Die Wege zu den Letzten Tagen der Menschheit wusste Karl Kraus mit Phrasen gepflastert. In den kleinsten Einheiten journalistischen Ausdrucks spürte er sie auf und fand darin einen Weltgeist geäußert, der dann den Großen Krieg auf Formeln brachte. Denn kaum ein halbes Jahr nach dem Osterwochenende auf dem Semmering war das Leben zigmillionenfach einem anderen Treiben ausgesetzt.
Was an diesem 14. April 1914 groß in den Zeitungen stand, mag aus unserer Sicht der Nachgeborenen wie ein Auftakt vor dem gewaltigen Paukenschlag wirken. Am Rande übte sich die »Kleine Chronik« in Fröhlichkeit, die sie, vom Alltag abgehoben, in der Freizeit vor herrlicher Bergkulisse als Society-Stelldichein zeichnete, während »Vermischte Meldungen« private Katastrophen anführten.
Die damaligen Schlagzeilen auf den Titelseiten erscheinen heute wie Vorboten der Weltkatastrophe: Kämpfe in Nordwesten...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aufklärung • Boulevard • Bunte Seiten • FAITS DIVERS • Feuilleton • Journalismus • Kleine Form • Miszellen • Nachrichten • Öffentlichkeit • Pressewesen • Sensation • Soziale Medien • Twitter • Vermischte Meldungen • Zeitung |
ISBN-10 | 3-10-491521-0 / 3104915210 |
ISBN-13 | 978-3-10-491521-0 / 9783104915210 |
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