Die Löwinnen von Afghanistan (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01460-2 (ISBN)
Waslat Hasrat-Nazimi (geb. 1988) ist deutsch-afghanische Journalistin und Moderatorin und leitet die Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle. Als Kind flüchtete sie mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland, wo sie aufgewachsen ist. Heute nennt sie beide Länder ihre Heimat. Mit ihrer journalistischen Arbeit in beiden Ländern und der Erfahrung aus ihrer eigenen Integrationsgeschichte baut Waslat Brücken zwischen beiden Kulturen - nah dran an den Themen afghanischer Menschen weltweit. Für ihr Bemühen um die Verbesserung der schwierigen politischen Situation und ein besseres Verständnis zwischen den Völkern wurde sie 2015 als erste afghanische Journalistin mit dem 'Rumi Appreciation Award' ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Bonn.
Waslat Hasrat-Nazimi (geb. 1988) ist deutsch-afghanische Journalistin und Moderatorin und leitet die Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle. Als Kind flüchtete sie mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland, wo sie aufgewachsen ist. Heute nennt sie beide Länder ihre Heimat. Mit ihrer journalistischen Arbeit in beiden Ländern und der Erfahrung aus ihrer eigenen Integrationsgeschichte baut Waslat Brücken zwischen beiden Kulturen – nah dran an den Themen afghanischer Menschen weltweit. Für ihr Bemühen um die Verbesserung der schwierigen politischen Situation und ein besseres Verständnis zwischen den Völkern wurde sie 2015 als erste afghanische Journalistin mit dem "Rumi Appreciation Award" ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Bonn.
2 «Der Krieg wurde durch Bilder legitimiert»
Wie Afghaninnen für den Einsatz in Afghanistan instrumentalisiert wurden
Obwohl ich so jung war, als ich Afghanistan verlassen musste, erinnere ich mich noch an vieles aus meinen ersten Lebensjahren in Kabul. Vielleicht liegt das daran, dass diese ersten Jahre so prägend und ereignisreich waren. Bestimmte Szenen sehe ich ganz plastisch vor mir: meinen Großvater väterlicherseits, der mir zum Neujahrsfest Newroz ein gefärbtes Ei schenkt. Meine Großmutter, seine Frau, wie sie in unserer Wohnung ein Bad in der Wanne nimmt, während es klingelt und ich mich vergeblich bemühe, an den Türöffner zu kommen, um aufzumachen. Meine zwei Onkel, die selbst noch Kinder waren und sich darum stritten, welchen von beiden ich lieber mochte. Meinen Vater, der auf unserem Balkon mit einer improvisierten Hantel – einem Betonklotz an einer Kette – seine Muskelkraft trainierte. Den großen Hahn, der im Garten meiner anderen Großeltern hinter mir herrannte, um sein Revier zu verteidigen, und vor dem ich wahnsinnige Angst hatte. Meinen riesigen, roten Delfin aus Plüsch, der immer oben auf dem Kleiderschrank lag und von dort über mich wachte und den ich bei unserer Flucht hatte zurücklassen müssen. Mein improvisiertes Babybett mit Moskitonetz auf Matratzen, die man in Afghanistan als Sitzgelegenheit in den meisten Zimmern auslegt. Wie ich mit der Gewissheit und in dem Vertrauen aufwachte, nicht allein zu sein, und dass meine Eltern sich bestimmt nebenan aufhielten. Zum Zeitpunkt dieser Ereignisse muss ich gerade mal ein Jahr alt gewesen sein, und man könnte meinen, dass diese Erinnerungen das Produkt meiner regen Fantasie sind. Allerdings erinnere ich mich auch an Kleinigkeiten und Details, die ich nicht einfach hätte wissen können und die mir von meiner Familie bestätigt wurden.
Als ich im Rahmen meiner Master-Arbeit über die Rolle der Medien für die Demokratisierung Afghanistans mit einundzwanzig Jahren das erste Mal wieder nach Kabul reiste, traten noch viele weitere Erinnerungen aus meinem Unterbewusstsein zutage, die ich viele Jahre verdrängt hatte. Mittlerweile lebte meine Großmutter in unserer Wohnung im Macroyan, einem linken und relativ modernen Stadtviertel, das von den Sowjets in den 1960er Jahren als Prestigeprojekt errichtet worden war. Wie selbstverständlich lief ich vor den anderen her bis zum Wohnblock meiner Großmutter, als wäre ich den Weg schon etliche Male gegangen. Wo der alte Spielplatz lag und dass sich hinter dem Haus ein großer Platz befand, auf dem die Jungen immer Fußball gespielt hatten – das alles wusste ich noch genau. Ich wusste auch, wie die Zimmer in der Wohnung aufgeteilt waren, obwohl ich sie seit Jahren nicht betreten hatte. Nur die Badewanne gab es nicht mehr. Diesmal schaffte ich es mühelos, die Klingel zu erreichen.
Das Gefühl, das ich mit all diesen Erinnerungen an Kabul verknüpfe, ist immer ein warmes und wohliges. Ein tiefes Empfinden von Zugehörigkeit zu etwas Größerem, davon, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und geliebt zu werden. Ein Gefühl, das mir geraubt wurde, als ich nach Deutschland kam und als fremd, abstoßend – im besten Fall noch als bemitleidenswert – wahrgenommen wurde. Nur in meinem Elternhaus wurde ich als wichtiges Mitglied der Familie gesehen, und man maß mir Bedeutung zu. «Ihr werdet etwas in der Welt bewegen», bekräftigten meine Eltern mich und meine Geschwister regelmäßig. «Das schulden wir dem afghanischen Volk, das nicht so viel Glück hatte wie wir.»
Die Erinnerung an den Tag, an dem ich realisierte, dass wir Afghanistan verlassen würden, ist eine der prägendsten für mich und tief in mir verankert. An jenem Tag holte mich meine Mutter vom Kindergarten ab, wie so oft. Und wie so oft wirkte sie entspannt. Obwohl meine Mutter als Journalistin einen Beruf ausübte, bei dem Stress auch in der Jobbeschreibung hätte stehen können, schien sie nie gehetzt, eher im Gegenteil: In Stresssituationen und unter Druck fühlte sie sich am wohlsten. Aber irgendetwas war an diesem Tag anders, das spürte ich. Es war keine ruhige, konzentrierte Entspannung, die meine Mutter ausstrahlte, sondern sie wirkte abgelenkt, mit den Gedanken woanders, nur physisch anwesend.
Seit meinem ersten Lebensmonat brachten mich meine Eltern in den Kindergarten, wo Kinder jeden Alters betreut wurden. Er war Teil meines Lebens. Zunächst gaben mich meine Eltern in den Universitätskindergarten der medizinischen Fakultät in Kabul. Er war eigentlich nur für die Kinder der Angestellten vorgesehen, also für Dozierende und das Arztpersonal, aber weil mein Vater dort studierte, ging meine Mutter kurzerhand hin und forderte einen Platz ein, den sie auch bekam.
Meine Mutter hatte ursprünglich angefangen, Ingenieurswissenschaften zu studieren: Die Seminare machten ihr Spaß, sie war erfolgreich, und dieser eher männlich konnotierte Studiengang passte hervorragend zu ihr. Aber da sie immer wieder zwischendurch bei Radio Televisione Milli und der staatlichen Rundfunkanstalt Radio Television Afghanistan (RTA) als Journalistin und Moderatorin gearbeitet hatte und ihr das ebenso Freude bereitete, war sie schließlich zum Hauptfach Journalismus gewechselt.
Alles folgte einer Routine: Um 7:30 Uhr morgens begannen ihre Seminare. Ab 8 Uhr wurde der Kindergarten geöffnet. Mein Vater wartete mit mir draußen, brachte mich dann hinein und holte mich ab. Zwischendurch kam meine Mutter, um mich zu stillen. Eines Nachmittags fand sie mich allein auf einem Bett liegend vor, über meinem Gesicht eine Decke, während ich panisch schrie. Die Erzieherinnen saßen derweil im Zimmer nebenan, lachten, unterhielten sich, tranken Tee und ignorierten mein lautes Weinen. Vielleicht hatten sie auch die Decke auf mich gelegt, damit sie mich nicht hören mussten. Warum eine Frau ihr Kind so früh weggibt, konnten sie sowieso nicht nachvollziehen. Für sie war meine Mutter eine Rabenmutter und zudem eine Wichtigtuerin, weil sie wie ein Mann arbeitete und Geld verdiente. Sie machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung, auch nicht gegenüber meinem Vater, den sie unmännlich, zancho, nannten, weil er dies zuließ und sich sogar mit um mich kümmerte, während er selbst noch studierte. Wütend und tränenüberströmt presste meine Mutter mich an sich und packte meine Sachen. Es sollte mein letzter Tag im Kindergarten der medizinischen Fakultät gewesen sein.
In den folgenden Monaten jonglierten meine Eltern Betreuung, Arbeit und Studium. Als meine Mutter ihr Studium schließlich beendete, wurde ihr eine Festanstellung bei RTA angeboten. Von da an durfte ich in den sendereigenen Kindergarten. Aber auch dort löste die Bekanntheit meiner Mutter als Fernsehmoderatorin in den Erzieherinnen eher Eifersucht und Missgunst aus als schwesterliche Liebe. Erzählungen meiner Mutter zufolge ließen auch diese Erzieherinnen sie spüren, dass sie es als unpassend und aufmüpfig werteten, dass sie die Mutterrolle nicht so ausfüllte, wie die Gesellschaft es von ihr verlangte – und auch ich erinnere mich, diese Ablehnung gegenüber meiner Mutter wahrzunehmen. Es waren meine ersten Erfahrungen mit Frauenfeindlichkeit, die von Frauen selbst ausging, aber erst später als Erwachsene wusste ich das Geschehene entsprechend einzuordnen. Es steht außer Frage, dass auch die Erzieherinnen selbst von Diskriminierung betroffen waren: Als Kindergärtnerinnen – einem Beruf, der in Afghanistan weder angesehen noch prestigeträchtig ist – standen sie in der gesellschaftlichen Hierarchie nicht besonders weit oben. Vielleicht war das einer der Gründe, warum meine Mutter sich keine Mühe gab, von ihnen anerkannt zu werden.
Unter Männern galt meine Mutter als eine von ihnen. Sie hatte auch hauptsächlich männliche Freunde. Mit Frauen kam sie selten aus, das merkte ich schon als Kind.
Die offene Abneigung der Erzieherinnen gegen meine Mutter, die auch ich zu spüren bekam, war jedoch bei Weitem nicht das Schlimmste an meiner Zeit im Kindergarten. Bis heute erinnere ich mich an den langen Stock, mit dem man uns Kindern drohte, wenn wir nicht gehorchten. Mehr als einmal wurde ich damit geschlagen, vor allem, wenn ich nicht einschlafen konnte. Meine Mutter erzählte mir, dass ich schon als Baby immer aufmerksam war und mit großen Augen die Umgebung absuchte. Bis heute ist es für mich beinahe unmöglich, tagsüber einzuschlafen. Meine Gedanken stehen nie still, ich bin fast immer in Alarmbereitschaft. Dass mir dies auch nicht mit Stockhieben abzugewöhnen war, wollten die Erzieherinnen nicht verstehen.
Neben verbaler Gewalt erleben afghanische Kinder als Bestrafung oft körperliche Gewalt wie Ohrfeigen, Ohren langziehen, Tritte oder Schläge mit Kabeln, Schuhen und anderen Gegenständen.[25] Diese Art gewaltsamer Maßregelungen ist in der afghanischen Erziehung nichts Ungewöhnliches, obwohl sie vor der erneuten Machtübernahme des Taliban-Regimes gesetzlich verboten war. Da die Radikal-Islamisten bisher nur eine Übergangsregierung gebildet und noch keine eigene Verfassung verabschiedet haben[26], ist nicht klar, wie sie zu der Körperstrafe stehen. Optimismus ist auch in dieser Hinsicht allerdings nicht angebracht: Genau wie bei ihrer ersten Herrschaft nutzen ihre Kämpfer Schläge und Peitschenhiebe, um gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner vorzugehen oder Menschen zu «disziplinieren». Sie werden sich wohl deshalb kaum gegen körperliche Züchtigung von Kindern aussprechen.
Weil Kindererziehung damals wie heute als kollektive Angelegenheit angesehen wird,...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Afghanistan • Afghanistan Buch • Afghanistan Geschichte • Afghanistan Krieg • Afghanistan verstehen • Biografien Frauen • Debattenbuch • Der längste Krieg • Emanzipation • Emran Feroz • Familiengeschichte • Feminismus • Frauengeschichten • Frauen in Afghanistan • Frauenrechte • Kabul • Politisches Sachbuch • politische Unterdrückung • Selbstbestimmung • Starke Frauen • Taliban • Truppenabzug • Verschleierung |
ISBN-10 | 3-644-01460-4 / 3644014604 |
ISBN-13 | 978-3-644-01460-2 / 9783644014602 |
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