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Die Grenzen des Konsums (eBook)

Eine Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
424 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45122-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Grenzen des Konsums -  Sebastian Müller
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Angesichts der massiven negativen ökologischen, ökonomischen und sozialen Konsumfolgen versuchen viele Menschen Verantwortung zu übernehmen. Was aber den verantwortlichen Konsum konkret auszeichnet, ist eine kultur- und generationenübergreifende Frage, deren Beantwortung schwerfällt. Denn in der Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit moderner Konsumwelten tun sich buchstäbliche Irrgärten aus Widersprüchen auf, in denen gezielte Nachhaltigkeitsbestrebungen und gute Vorsätze in Überforderungen, unbewussten Impulsen und Marktbeschränkungen verloren gehen können. Wie sich eine Konsumverantwortung angesichts dieser Irrungen konkretisieren lässt, wurde bislang nur unzureichend erforscht. Die Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle entwickelt in anschaulicher und zugänglicher Weise gänzlich neue und innovative Antworten auf diese Fragen.

Sebastian Müller, Dr. phil., forscht am Center for Life Ethics der Universität Bonn zu Themen der Sozialontologie, der Wirtschaftsphilosophie und der digitalen Ethik.

Sebastian Müller, Dr. phil., forscht am Center for Life Ethics der Universität Bonn zu Themen der Sozialontologie, der Wirtschaftsphilosophie und der digitalen Ethik.

1.Konsum, Konsumierende und Konsumgüter


»Welche Verantwortung besitzen Konsumierende für ihren Konsum?« Die Forschungsfrage bedient sich zweier Begriffe – Konsumierende und Verantwortung – die hochkomplex und in ihrer wissenschaftlichen und alltäglichen Verwendung alles andere als eindeutig sind. Den Verantwortungsbegriff werden wir für den Moment zurückstellen und uns zunächst mit den Konsumierenden befassen. Der Begriff Konsumierende kann sich je nach sozioökonomischem Diskurs auf natürliche Personen, auf Menschengruppen, auf Kollektive oder auf Institutionen beziehen, die konsumfähige Güter kaufen, geschenkt bekommen, benutzen, verbrauchen und entsorgen. Diese erste und recht allgemeine Begriffsannährung (Kapitel 1.1) belebt nicht nur eine sehr unbefriedigende und unscharfe Vorstellung von dem, was Konsumierende sind, sie führt zudem zwei weitere erklärungsbedürftige Begriffe – konsumieren und Konsumgut – ein. Weil die modernen Definitionsversuche die gesellschaftliche Tragweite der Begriffe Konsum, Konsumierende und Konsumgut nur bedingt vermitteln können, halte ich eine ergänzende sozial- und ideengeschichtliche Verortung derselben für unumgänglich. Mit einem genaueren Blick in die Vergangenheit und die sich historisch verändernden Konsum- und die damit einhergehenden Kulturpraktiken gewinnen viele definitorische Unklarheiten an Schärfe (Kapitel 1.2). Erst die historische Rückschau erlaubt es, die fundamentale gesellschaftliche Bedeutung des Konsums und die hierin begründete Bezeichnung der Konsumgesellschaft mit Sinn zu füllen. Allerdings zeichnet auch die historische Analyse kein durchgehend homogenes Bild von den Wünschen und Verhaltensweisen, die alle Konsumierenden gleichermaßen auszeichnen. Stattdessen schält sich eine heterogene Auswahl an prototypischen Vorstellungen von dem, was Konsumierende sind und möchten, heraus, mit denen politisch ganz unterschiedlich umgegangen werden muss. Sind alle Konsumierenden leichtsinnig, so müssen sie von der Politik durch besondere Rechte und Marktreglementierungen vor sich selbst geschützt werden. Sind alle Konsumierenden hingegen grundsätzlich mündig und rational, schränken Gesetze ihre Freiheit ungebührlich ein. Aus diesen und vielen anderen Hypothesen werden sogenannte Verbraucherleitbilder stilisiert (Kapitel 1.3), an denen sich Akteure der Wirtschaft und Politik orientieren. Diese Leitbilder können nachhaltige, ignorante, souveräne, ohnmächtige, hedonistische, altruistische, ängstliche, soziale und viele weitere Prototypen umfassen. Als wichtige Leitlinien der Verbraucherpolitik ergänzen sie die vergangene entwicklungsgeschichtliche und die gegenwärtige Vorstellung von Konsumierenden, Konsumhandlungen, und Konsumgütern um mögliche Zukunftsideale oder zu vermeidende Schreckensszenarien. Die drei Perspektiven auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die möglichen Zukünfte des Konsums bedingen sich gegenseitig und beeinflussen damit fundamental die Stoßrichtung jeder Untersuchung zur Konsumentenverantwortung.

1.1Der Konsumbegriff


»Was ist Produktion? Was ist Consumtion [sic!]? Man sollte meinen, diese Fragen wären sehr leicht zu beantworten und es könnte nie schwer gewesen sein, eine genaue Definition der beiden Worte zu geben. Dem ist jedoch nicht so.« (Engel 1857: 153)

Die Feststellung, welche der Direktor des preußischen Büros für Statistik Ernst Engel in einer Ausgabe seiner büroeigenen Zeitschrift abdrucken ließ, besitzt 1857 die gleiche Gültigkeit wie heute. Wovon genau ist die Rede, wenn von Konsum gesprochen wird? Welche Eigenschaften besitzen Menschen, die konsumieren? Auf welche Gegenstände beziehen sich Konsumhandlungen und -absichten? Die Antworten auf diese Fragen prägen jede Untersuchung der Konsumentenverantwortung entscheidend. Sie sind Interpretationen der Begriffe Konsum, Konsumierende und Konsumgut und erhellen deren relationale Beziehungen. Obgleich diese Interpretationsleistung in jeder Konsumforschung notwendig enthalten ist, werden die Begriffe erstaunlich selten differenziert und expliziert (Micklitz 2012: A49). Ich möchte einer Explikation nicht schuldig bleiben und werde mich in der Folge darum bemühen, alle drei Begriffe anhand der geläufigen soziologischen und ökonomischen Theorien einzugrenzen. Meine Erläuterungen mögen an manchen Stellen etwas lapidar wirken, sie werden im Rahmen der historischen und politischen Aufarbeitung in den Folgekapitel aber weiter gefestigt.

Die lateinische Bezeichnung consumere beschreibt im antiken Rom den physischen Verzehr von Gütern wie Lebensmittel, Feuerholz und Kerzen, sowie im juristischen Kontext das Beseitigen eines Vermögens (Leonhard 1958: 1145 f.). Dem europäischen Mittelalter fehlt ein solcher Begriff. Erst mit dem Aufkommen des Merkantilismus im 17. Jahrhundert findet das antike consumere wieder Eingang in den Sprachgebrauch und beschreibt in erster Linie den Verbrauch und den Verzehr von Waren (Pfeifer 1993: 710; Wyrwa 1997: 747). An dieselbe Bedeutungstradition knüpft auch das altdeutsche Verb fir-brûhhen an, das sich von dem Wort brechen herleitet. Es beschreibt einen Vorgang, in dessen Folge eine Sache unbrauchbar, abgenutzt oder erschöpft wird (Karg-Gasterstädt/Frings 1968: 1433). Mit dem Aufschwung der ökonomischen Wissenschaften wird der Konsumbegriff schließlich fest an einen wirtschaftlichen Bedeutungshorizont gekettet. Als Exempel hierfür soll der Ökonom Wilhelm Roscher dienen, der im Geiste seiner Zeit im Konzept des Konsums das Gegenstück zur Produktion erkannte. Die Produktion füge einem Ding einen Wert hinzu, der Konsum vermindere dessen Wert.

»Da der Mensch ebenso wenig Stoffe zerstören kann, wie Stoffe erschaffen, so verstehen wir unter Consumption [sic!] der Güter im weitern Sinne Aufhebung einer Brauchbarkeit ohne Rücksicht darauf, ob nicht eine andere, höhere Brauchbarkeit an die Stelle tritt; im engeren Sinne […] Verminderung eines Vermögens.« (Roscher 1882 [1854]: 537)

Die rein ökonomische Begriffsbestimmung, die bis in die 1960er Jahre dominierte, täuscht durch ihre quantitativ-technische Interpretation leicht darüber hinweg, dass Konsum auch durch soziale, juristische, moralische und religiöse Normen, sowie durch materielle, kulturelle und zeitliche Faktoren bestimmt wird. Sozialkommunikative und politische Perspektiven kommen als relevante wirtschaftspolitische und wissenschaftliche Größen erst in der jüngsten Geschichte zur Geltung (Kleinschmidt 2008: 7 f.; Wyrwa 1997: 747).

In einem eleganten und modernen Versuch, die genannten Dimensionen des Konsums in einer einzigen Begriffsbestimmung zu vereinen, scheidet Kai-Uwe Hellmann einen »Konsum im engeren Sinne«, womit der unmittelbare Kauf von physischen oder immateriellen Marktgütern gemeint ist, von einem »Konsum im weiteren Sinne«, der sich auf Verbrauchs- und Entsorgungsakte bezieht (Hellmann 2013: 163). Im Vergleich zu Roschers Versuch hat Hellmanns zweiteilige Begriffsbestimmung den großen Vorteil, neben quantitativ-ökonomischen auch die qualitativ-sozialen Aspekte des Konsums erfassbar zu machen. Im engeren Sinne entzieht die Tätigkeit des Konsumierens dem Markt Konsumgüter oder vermindert deren Wert. Im weiteren Sinne ist der Konsum an moralische, juristische, ökologische und soziale Normen gebunden, welche die Praktiken des Erwerbs, des Ge- und Verbrauchs und der Entsorgung grundlegend bestimmen. Weil jeder Konsumakt unmittelbare und mittelbare Folgen auf die physische und die soziale Welt hat, und weil diese Akte durch (Konsum-)Bedürfnisse motiviert werden, findet Konsum in seiner Gesamtheit niemals exklusiv in geschlossenen Wirtschaftssystemen statt. Von der Begriffsbestimmung des Konsums ausgehend betrachten Hellmann und auch andere die Konsumierenden als individuelle oder kollektive Akteure, die Konsumakte durchführen und die als Grenzgänger zwischen wirtschaftlichen und anderen sozialen Sphären hin und her wechseln können (Luhmann 1993: 453; Klein 2000: 190; Hellmann 2013: 166).

Neben den Begriffen Konsum und Konsumierende ist der bereits mehrfach gefallene Begriff Konsumgüter erklärungsbedürftig. Konsumgüter...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Diskursethik • Homo oeconomicus • Konsumethik • Konsumforschung • Marketing • Nachhaltigkeit • Rollentheorie • Verantwortung
ISBN-10 3-593-45122-0 / 3593451220
ISBN-13 978-3-593-45122-0 / 9783593451220
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