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Aitutaki-Blues (eBook)

Spiegel-Bestseller
Alzheimer, meine Mutter und unsere Reise ans andere Ende der Welt - Das Buch zum erfolgreichen Podcast
eBook Download: EPUB
2022
224 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-29541-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aitutaki-Blues - Lukas Sam Schreiber
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Claudia Schreiber ist krank. Als sie vor drei Jahren einen Zusammenbruch erlitt, dauerte es Wochen, bis klar wurde, dass sie an Alzheimer leidet. Seither verliert sie sich selbst jeden Tag ein bisschen - und ihre Söhne verlieren ihre Mutter, die als Journalistin und Schriftstellerin immer mit ihrem Kopf gearbeitet hat. Lukas Sam Schreiber, Claudias jüngerer Sohn, schreibt nun ihre Geschichte auf. Kurz nach der Diagnose ist er mit Claudia nach Aitutaki, eine winzige Insel im Pazifik, gereist um ihr ihren Lebenswunsch zu erfüllen. Auf der Reise ist der erfolgreiche audible-Podcast 'Aitutaki-Blues' entstanden und Lukas hat seine Mutter ganz neu kennengelernt, aber auch die Krankheit verstehen gelernt. Die Geschichte von Claudia und Lukas berührt und bewegt - und zeigt, was eine Alzheimer-Diagnose wirklich bedeutet.

Basierend auf einer audible originals Podcast-Produktion.

Lukas Sam Schreiber, geboren 1991, ist Podcastproduzent. Er ist viel rumgekommen in der Welt, doch die weite Reise zum Atoll Aitutaki hat ihn am nachhaltigsten bewegt - vor allem wegen seiner Reisebegleitungen: seine Mutter Claudia und ihr Alzheimer. Seither denkt Lukas über vieles anders, vor allem über das Leben und den Tod.

EINFACH NUR GESUND


Manchen Diagnosen kann keine Operation die Chance versprechen, das zurückzubringen, was man wirklich will. Die Kraft von früher, das Leben oder schlichtweg den Verstand. Diese Diagnosen sind wie ein sanftmütiges Versprechen, dass alles, was wir sind, doch nur ein Symptom unserer Gesundheit war. Vor der Tatsache, dass das, wovon ich dachte, es sei für immer, von nun an nie wieder sein wird, kann ich mich nicht verstecken. Niemand kann das.

Ob sie sich daran erinnert, dass wir heute verreisen? Na klar – das wird sie nicht vergessen haben. Habe ich irgendetwas vergessen? Hat Claudia etwas vergessen? Ich überlege, ob ich ihren Pass nehme, habe aber Bedenken, danach zu fragen. Sie soll nicht denken, dass ich sie nicht ernst nehme oder ihr nicht zutraue, selbst darauf aufzupassen. Sie ist schon viel gereist in ihrem Leben, sie hat doch immer alles selbst geschafft, und jetzt nehme ich ihren Pass, damit sie ihn nicht verliert. Meine ganze Kindheit hat sie meinen Pass genommen, damit ich ihn nicht verliere. Jetzt ist alles anders. Was, wenn ich beide Pässe verliere? Dann sind wir echt geliefert.

Meine Mutter und ich sind schon häufig miteinander gereist. Aber diese Reise ist schon sehr anders. Diesmal muss ich mich um alles kümmern. Und ich kenne die Krankheit noch so schlecht, dass ich mir unsicher bin.

Es ist sechs Uhr morgens, und ich friere mir den Arsch ab. Der frühe Morgen ist so kalt, als hätte ich die Luft geraucht – jeder Atem eine dicke Nebelwolke. Ich biege in die Straße ein, in der sie wohnt. Eine ruhige Straße im Kölner Stadtteil Lindenthal mit identisch aussehenden Mehrfamilienhäusern, eng nebeneinander und aus roten Backsteinen gebaut. Alle Häuser sind mit einem großen Hinterhofgarten verbunden, der wie eine grüne Oase inmitten der Stadt wirkt. Hier wohnen eigentlich nur Rentner und alleinerziehende Mütter. Bis ich neunzehn war, habe ich mit meiner Mutter hier gewohnt.

In ihrer Küche brennt schon Licht, die Fenster in den anderen Häusern sind alle noch dunkel. Als der Türsummer brummt, steht sie bereits im Flur.

»Ah, guck mal. Ziehste um, oder warum nimmst du so viele Sachen mit?«, lacht sie.

»Keine Ahnung, warum du mit so wenig Gepäck reisen willst. Ich hab jeden Bikini dabei, den ich je besessen habe«, antworte ich.

»Vielleicht hab ich zu wenig und du zu viel. Aber sonst nehme ich deinen Bikini, wenn ich keinen mehr hab. Kommst du rein, oder müssen wir sofort los?«

Wir haben noch massig Zeit. Aber das wird eine lange Reise. Eine Reise, von der Claudia seit über dreißig Jahren träumt. Und jetzt müssen wir sie machen – solange uns die Zeit dafür noch bleibt.

Als Claudia zum ersten Mal von der Insel hörte, war ich noch nicht geboren und sie arbeitete als Journalistin beim Radio. Sie schrieb kleine, unterhaltsame Meldungen, die gab es dort jeden Tag im Programm – »bunte Nachrichten« haben sie die genannt. Die Nachrichtenagentur schickte damals nur ein Bild und einen kleinen Text. Claudia sollte daraus einen radiotauglichen Dreißigsekünder machen. Auf dem Bild war eine etwas ältere Frau zu sehen. Sie steht an einem traumhaften Strand mit einem bunten Blumenkranz auf dem Kopf. Der Text vermeldete, dass diese Frau zum neuen Oberhaupt der Insel gewählt worden war. Damals war das noch eine Sensation. Frauen wurden nur selten in solch ein Amt, überhaupt in irgendwelche Ämter, gewählt. Doch irgendwo im Paradies hatte diese kleine Insel eine Frau gewählt, zum allerersten Mal.

Claudia fand das fantastisch. Sie schlug im Atlas nach, wo diese Insel liegt. Viel weiter von Deutschland kann ein Ort nicht sein: mitten im Pazifik zwischen Neuseeland und Mexiko – tausende Kilometer rundherum nur Wasser und kleine Atolle. Die Insel gehört zu den Cookinseln und ist an der längsten Stelle vielleicht gerade mal fünf Kilometer lang und zwei Kilometer breit. Das türkise Meer, der endlose Strand und der Gedanke an ein Paradies am anderen Ende der Welt haben Claudia nie mehr losgelassen.

Meine ganze Kindheit ist durchzogen von Erinnerungen daran, wie Claudia davon spricht, sie könne auch einfach dorthin fliehen. Aber dass sie es wirklich machen würde, hat sie selbst nie geglaubt. »Eher treffe ich Jesus!«, lachte sie dann immer. Aber jetzt müssen wir dahin, uns bleibt keine Zeit mehr. Claudia ist krank und wird nie wieder gesund.

Wir saßen in der engsten Familie zusammen, als wir die Diagnose bekamen. Mein Vater, mein Bruder, meine Mutter und ich. Unsere Eltern sind schon viele Jahre getrennt. Der Klassiker – zwei seit der Kindheit verletzte Seelen, die alles versuchen, die Leere im Inneren des anderen zu füllen, aber sich doch zu gern auf das eigene Lebensabenteuer fokussieren. Ein Push-Pull-Massaker, in dem beide wollen, was sie nicht haben, und nie ertragen, was ihnen guttut. Claudia und Peter waren immer ein bisschen zu cool für eine funktionierende Ehe. Eine Hochzeit ohne Kleid, ein Ehering, der nur sarkastisch gemeint war, und beide immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Manchmal kann das klappen – aber tut es eigentlich nie. Sie haben sich mit Gebrüll getrennt, als ich elf war, und an der Front ihres Rosenkriegs beide die Schuld im anderen gesucht. Gefunden haben sie die nie. Erst Jahre später haben sie die Suche aufgegeben, mein Vater hat mittlerweile eine neue Beziehung. Doch unsere winzige Familie ist Gott sei Dank geblieben.

Nachdem wir die Diagnose bekommen hatten, fragte Peter Claudia, was sie noch machen will, solange sie noch kann. Denn wenn es noch Träume gibt, die es zu erfüllen gilt, dann sollte man das jetzt sofort tun. Bloß keine Zeit mehr verschwenden. Claudia zögerte kaum und sagte sofort den Namen dieser Insel. Ein perfekter Name für ein Paradies. Ein winziger Fleck Land am anderen Ende der Welt.

»Ich muss nach Aitutaki.«

»Willst du ein bisschen Ananas?«, fragt sie mich, als ich mit dem Koffer in ihren Flur stolpere. Ich nicke eifrig. Seit ich ausgezogen bin, hat sich die Wohnung kaum verändert. Aber mein Kinderzimmer wurde zu ihrem Büro. Ein winziger Raum, in dem hunderte Bücher stehen, sodass beinah kein Platz zum Sitzen bleibt.

Eines der ersten Anzeichen für Claudias Krankheit war, dass ihr Büro allmählich immer unordentlicher wurde. Ohne dass sie es bewusst bemerkte, füllte sich ihr Schreibtisch mehr und mehr mit Ordnern, Papieren und seltsamerweise mit drei verschiedenen Druckern, von denen niemand so recht wusste, wofür sie verwendet wurden. Zerknitterte Papierfetzen in allen Formen und Größen waren irgendwann überall im Raum verteilt. Manchmal standen nur kurze Sätze darauf, manchmal aber auch längere Absätze oder Kurzgeschichten. Wann immer Claudia eine Idee für eine Geschichte oder ein Buch hatte, schrieb sie diese irgendwo auf, verwahrte sie manchmal einige Jahre lang und verwendete sie schließlich, wenn der richtige Augenblick gekommen war.

Heute entdecke ich auf dem Boden im Flur ein kleines Stück eines Zeitungsartikels, den sie unsauber ausgerissen hat.

Staubsauger rettet vor dem Ersticken

Ein Staubsauger hat einen Japaner vor dem Erstickungstod bewahrt. Dem 70-Jährigen war zum Neujahrsfest einer der traditionellen, aber berüchtigten »O-Mochi«-Reisklöße in der Kehle stecken geblieben. Daraufhin griff seine Tochter zum Staubsauger und saugte den widerspenstigen Kloß aus dem Hals. Obgleich jeder in Japan die Gefahr kennt, haben auch in diesem Jahr wieder mehrere ältere Menschen tödliche Erstickungsanfälle beim Verzehr der Spezialität erlitten.

Ich frage mich mit Bedauern, für welche Geschichte sie das hätte gebrauchen können. Auf einem anderen Blatt Papier steht nur ein einziger Satz geschrieben. Ihre Handschrift ist schon immer fast unmöglich zu entziffern und hätte sie zur Ärztin qualifizieren können. Aber nach ein paar Versuchen verstehe ich den Sinn: Heute vögel ich nur noch so häufig wie Pandas im Zoo – nämlich gar nicht, steht darauf. Ich muss schmunzeln, als ich das lese. Dreckige Witze waren schon immer Claudias Ding.

An unterschiedlichsten farbenfrohen Bildern entlang folge ich Claudia in die Küche. Überall in ihrer Wohnung hängen Gemälde an den Wänden, die sehr unterschiedlich und teils verwirrend sind. Claudia hatte früher die Tradition, dass sie für jedes neue Buch, das sie schrieb, zum Beginn des Prozesses ein neues Bild kaufte. Wenn sie mit dem Buch fertig war, hatte sie sich meist auch an dem Bild sattgesehen, und es wurde eingelagert. Nur ihre Lieblingsbilder blieben in ihrem Wohnbereich. So unterschiedlich ihre Romane und Kinderbücher waren, so unterschiedlich sind auch die Bilder in ihrer Wohnung. Im Wohnzimmer beispielsweise hängt ein grünes Gemälde, auf dem ein großer Engel die Arme spreizt. Direkt daneben eine Fotografie von einer Ente am Klavier, darunter der Schriftzug Enterich Salvatore am Musizieren.

Claudia steht mit dem Rücken zu mir an der Arbeitsplatte. Erst zögere ich noch, traue mich dann aber endlich, nach ihrem Pass zu fragen.

»Gibst du mir deinen Pass? Soll ich beide nehmen?«

»Hat das der Peter gesagt?«, fragt sie irritiert und schneidet an der Ananas herum. »Ich kann ihn dir geben, aber vergessen hab ich den nicht«, pflaumt sie mich an und guckt suchend um sich. »Wo ist er denn jetzt? Scheiße. Häh!?«

Claudias Krankheit kam überraschend in ihr Leben, in unser aller Leben. Eigentlich war sie immer kerngesund gewesen. Wir hatten gar nicht auf dem Schirm, wie schön es ist, einfach nur gesund zu sein. Damals...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Alzheimer Demenz Bücher • Biografie • Biographien • buch zum podcast • Claudia Schreiber • Demenz • eBooks • Emmas Glück • Erfahrungsbücher wahre Geschichten • Erinnerung • Familie • Gesundheit • Neuerscheinung • Schicksale wahre Geschichten • Sterbebegleitung Bücher • Sterbehilfe Bücher • Tod Bücher • Trauer
ISBN-10 3-641-29541-6 / 3641295416
ISBN-13 978-3-641-29541-7 / 9783641295417
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