Aus dem Bauch heraus (eBook)
256 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-28596-8 (ISBN)
Jana Heinicke, 1986 in Berlin geboren, studierte Translation an der Universität Leipzig und Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Sie schreibt Kinderbücher, Essays und Theatertexte. Für ihre Arbeit ist sie mehrfach ausgezeichnet worden, erhielt diverse Stipendien und reiste auf Einladung des Goethe-Instituts bis nach Mexiko. Seit sie 2019 Mutter geworden ist, bloggt sie auf Instagram über den Versuch, Kind und Kunst unter einen Hut zu bekommen. »Aus dem Bauch heraus. Wir müssen über Mutterschaft sprechen« ist ihr erstes erzählendes Sachbuch. Jana Heinicke lebt mit ihrer Familie in Berlin.
2 | Warum wir über Mutterschaft sprechen müssenEine kurze Einordnung und ein kleines bisschen Wut |
Müssen ist ein hartes Wort. Es passt nicht zu Mutterschaft.
Mütter sind weich, nachgiebig und wohlwollend.
Mütter sind für andere da.
Müssen setzt unter Druck. Es zwingt das Gegenüber in eine alternativlose Situation.
Müssen ist kein Wort für Mütter, es ist ein Wort für Bestimmer. Ein herrisches Wort.
Lieber einen Konjunktiv benutzen: »Es wäre schön, wenn …«, »Vielleicht könnten wir mal …« – und dazu möglichst aufgeschlossen lächeln, Kompromissbereitschaft zeigen.
So und nicht anders, das habe ich von klein auf gelernt, würde ich – als Frau – in diesem Leben weiterkommen.
Empfehlungen aussprechen statt Befehle.
Andernfalls würde ich dreist wirken, zu fordernd, oder gar verbissen. Und dann wäre ich auch irgendwie selbst schuld, wenn man mir nicht zuhören wollte.
Und weil ich mir wünsche, dass man mir zuhört, weil ich will1, dass dieses Buch gelesen wird, habe ich lange mit seinem Titel gerungen. Habe ich versucht, einen Titel zu finden, der einladender ist, einen, der besser zu Mutterschaft passt, denn um Mutterschaft soll es in diesem Buch schließlich gehen.
Aber es wird in diesem Buch auch um unser Bild von Mutterschaft gehen. Ein Bild, das recht ausdauernd mit Weichzeichner bearbeitet worden ist, so lange, bis niemand mehr so richtig erkennen kann, dass Mütter und müssen eigentlich ziemlich viel miteinander zu tun haben.
Mütter müssen nämlich eine ganze Menge:
Kinder gebären, zum Beispiel, Kinder großziehen, Kinder lieben. Windeln wechseln und stillen, Po abwischen und Brote schmieren, verschmähte Brote selber essen und ein Müsli anrühren, unter den Tisch geklebte Popel abkratzen. Mütter müssen so tun, als würden sie sich tierisch über einen Popel freuen. Mütter müssen Kinder anziehen, Kinder in die Kita bringen oder zur Schule oder zum Schwimmkurs. Mütter müssen einen Haushalt organisieren. Einen Ärzt*innentermin ausmachen, einen Ärzt*innentermin verschieben, einen Ärzt*innentermin wahrnehmen. Mütter müssen Wäsche waschen, Wäsche aufhängen, Wäsche aus- und Wäsche einsortieren, Mütter müssen neue Wäsche kaufen. Mütter müssen zusehen, wo sie das Geld für neue Wäsche hernehmen. Mütter müssen immer da sein. Mütter müssen das wollen, immer da zu sein. Mütter müssen dabei lächeln. Mütter müssen damit leben, dass die Arbeit, die sie täglich leisten, weder gesehen noch wertgeschätzt wird. Mütter müssen später mit der Hälfte der Rentenbezüge ihrer männlichen Altersgenossen auskommen; ein Viertel von ihnen wird unterhalb der Armutsgrenze leben. Mütter müssen damit rechnen, dass sich ihre mentale Gesundheit in den ersten Jahren mit Kind(ern) signifikant verschlechtern wird.
Mütter müssen sich mal zusammenreißen.
Mütter müssen sagen: »Am Ende des Tages weiß ich, für wen ich das alles tue.« Mütter müssen, ob sie wollen oder nicht, Mütter müssen, auch wenn sie nicht mehr können.
Eigentlich, so könnte man fast meinen, käme Mutter von müssen.
»Aber das alles ist doch völlig selbstverständlich«, höre ich meine eigene innere Stimme erwidern, »Mütter wollen das alles ja auch tun, sie haben es sich schließlich selbst ausgesucht!«
Jein.
Wenn eine Mutter Glück hat, ist an ihrer Seite mindestens noch eine zweite Person, die mit der Betreuung des eigenen Kindes bedacht werden könnte – ein Vater zum Beispiel, der das alles auch tun wollen könnte und es sich höchstwahrscheinlich ebenso selbst ausgesucht hat, Vater zu werden.
Bei Vätern sprechen wir aber nicht mehr von »müssen«, sondern von »mithelfen« oder von: »Unfassbar, wie toll der das alles hinbekommt!«
Warum das so ist und was daran falsch ist, sollte eigentlich auf der Hand liegen, tut es aber nicht, und deshalb müssen wir auch darüber sprechen.
Oft haben Mütter nämlich gar keine Wahl. Wie wir im Laufe dieses Buchs noch feststellen werden, ist sogar die Entscheidung, Mutter zu werden, nicht immer eine selbstbestimmt getroffene. Und ich beziehe mich hier noch nicht mal auf den Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch, der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland kriminalisiert und damit das Recht auf Selbstbestimmung schwangerer Personen untergräbt.
Und selbst wenn sich eine Person bewusst entscheidet, ein Kind zu bekommen, befürwortet sie damit nicht automatisch alle Bedingungen, unter denen Mutterschaft, gesellschaftspolitisch betrachtet, in Deutschland aktuell möglich ist.
Eine selbstbestimmte Wahl treffen zu können, bedeutet auch, Zugang zu möglichst vielen Informationen zu haben.
Wussten Sie das mit der Altersarmut und der mentalen Gesundheit? Kannten Sie die Zahlen? Haben Sie sich gut informiert gefühlt, als Sie Mutter wurden? Und haben Sie sich immer noch gut informiert gefühlt, als Sie Mutter waren?
Wussten Sie zum Beispiel, dass sich das Gehirn einer Person, die schwanger ist und gebärt, dauerhaft verändert? Dass die Strukturen ihres Gehirns vermutlich für den Rest ihres Lebens andere sein werden und dass dieser Umstand ihr Denken beeinflussen wird, die Art und Weise, wie sie sich organisiert, wie sie arbeitet, wie sie funktioniert, wie sie sich sorgt, wie ihr Umfeld sie wahrnimmt? Ich werde darauf in einem späteren Kapitel ausführlicher eingehen.
Als ich Mutter wurde, habe ich das nicht gewusst.
Aber ich hätte es gerne gewusst.
Und ich frage mich, woran es liegt, dass diese Information, die immerhin das komplexeste Organ des menschlichen Körpers betrifft, gesellschaftlich und medial nicht genauso präsent ist, genauso leidenschaftlich diskutiert wird wie beispielsweise Dehnungsstreifen, Hängebäuche und Stillbrüste.
Warum habe ich in meinem Leben schon so viel über den »After-Baby-Body« gehört und gelesen, aber vor der Geburt meines Kindes noch nie etwas über das »After-Baby-Brain«?
Warum kann ich in der Apotheke Salben kaufen, die mir versprechen, meine Dehnungsstreifen und Geburtsverletzungen unsichtbar zu machen, aber nirgendwo finde ich eine Anleitung für die neue Funktionsweise meines Gehirns? Von wegen Wochenbett- und Stilldemenz! Ich habe vor anderthalb Jahren abgestillt und schlafe seit einem knappen Jahr in der Regel die Nächte durch. Aber meine kognitiven Fähigkeiten von vor meiner Schwangerschaft, die für mich als Autorin nicht ganz unwesentlich sind, habe ich dennoch nicht in Gänze wiedererlangt.
Sind Gehirne bei Menschen, die über einen Uterus verfügen, nicht so wichtig wie beispielsweise Brüste? Woran liegt es, dass es bisher kein großes Interesse daran gegeben hat, Gehirne von Eltern zu erforschen?
Ich glaube übrigens nicht, dass eine der oben genannten Informationen etwas an meiner Entscheidung, Mutter zu werden, geändert hätte. Aber vermutlich hätte ich die Dimension dessen, was es bedeutet, Mutter zu sein, vorher mehr hinterfragt.
Vielleicht wäre dann die Diskrepanz zwischen meiner Vorstellung von Mutterschaft und der Realität weniger groß und vor allem weniger schmerzhaft gewesen. Vielleicht hätte ich nicht das erste Jahr im Leben meines Kindes damit verbracht, Antworten auf Fragen zu suchen, die ich noch nicht mal konkret hatte formulieren können. Was vermutlich auch damit zusammenhängt, dass sie, wenn überhaupt, im öffentlichen Diskurs noch viel zu selten gestellt – und geschweige denn beantwortet werden.
Wussten Sie, dass Mütter für die psychologische Forschung bis vor ein paar Jahren noch keine eigenständigen Individuen darstellten, sondern Mutterschaft immer nur in Abhängigkeit zum Kind beziehungsweise mit Fokus auf das kindliche Wohlbefinden untersucht worden ist?
Bis vor Kurzem hätte ich das noch nicht mal für verwunderlich oder gar für eine gefährliche Schieflage gehalten. Denn für wen sollte es Mutterschaft geben, wenn nicht für das Kind?
Offensichtlich müssen wir auch darüber sprechen: welche Personen das Wort »Mutterschaft« meint und warum es sich bei ihnen, unabhängig von ihrer Beziehung zueinander, um verschiedene Individuen handelt. Die somit auch eigenständige gesellschaftliche, politische, familiäre, psychologische und medizinische Beachtung verdienen.
Aber Moment mal, könnte man sagen, gerade Schwangere erfahren mit immerhin zehn bis zwölf Vorsorgeterminen während der Schwangerschaft doch eine sehr große medizinische Beachtung!
Und das stimmt! Solange sich die heranwachsenden Föten in ihren Bäuchen befinden, wird der Gesundheitszustand von Mutter und Kind ein- bis zweimal pro Monat kontrolliert.
Ist das Kind jedoch geboren, hat die Mutter nur noch das Anrecht auf eine reguläre gynäkologische Nachuntersuchung – sechs bis acht Wochen nach der Geburt.
Nur eine einzige Untersuchung, die den Gesundheitszustand der Wöchner*innen erfasst – und das, obwohl für Personen, die geboren haben, bis zu einem Jahr nach der Geburt ein erhöhtes Risiko besteht, an den körperlichen und psychischen Folgen des Mutterwerdens zu sterben. Die Erfassung der mütterlichen Mortalitätsrate ist in Deutschland übrigens unvollständig und entspricht nach wie vor nicht den Vorgaben der WHO.
Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sagte: Das muss sich ändern? Darüber müssen wir...
Erscheint lt. Verlag | 9.11.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • bauchfrei • Care-Arbeit • Das Unwohlsein der modernen Mutter • eBooks • Elisabeth Badinter • Erwartungsdruck • Geburt • Geburtsmedizin • Gesellschaftskritik • Gesundheit • Gewalt bei der Geburt • Mareice Kaiser • Medizin • Mental Load • Misogynie • Mutterbild • Mutterideal • Mutterschaft • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Patriarchat • Patriarchat abschaffen • postpartale Depression • Sachbuch • Sorgearbeit • Soziologie • Spiegel Bestseller aktuell • sprache und sein • Toxic Positivity • Überforderung • überforderung mutter • Wut |
ISBN-10 | 3-641-28596-8 / 3641285968 |
ISBN-13 | 978-3-641-28596-8 / 9783641285968 |
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