Alle_Zeit (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2775-4 (ISBN)
Teresa Bücker, geboren 1984, ist Publizistin und Vordenkerin im Bereich Feminismus, Arbeit und Gesellschaft. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F. Als Expertin wird sie regelmäßig zu Konferenzen und in politische Talk-Sendungen geladen. https://teresabuecker.de/
Teresa Bücker, Jahrgang 1984, ist Journalistin und Vordenkerin im Bereich Feminismus, Arbeit und Gesellschaft. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F. Als Expertin wird sie regelmäßig zu Konferenzen und in politische Talk-Sendungen geladen. https://teresabuecker.de/
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WARUM DIE ZEIT NIEMALS REICHT
Ein 24/7-Milieu sieht aus wie eine soziale Welt, ist aber ein nichtsoziales Modell mechanischen Funktionierens, eine Aufhebung des Lebendigen, die nicht verrät, auf wessen Kosten seine Betriebsamkeit geht._ JONATHAN CRARY2
_ ZEITKNAPPHEIT EMPFINDEN
Wieder einmal passt nicht alles, was ich mir vorgenommen habe, in die dafür vorhandene Zeit. Es gibt das Bild in meinem Kopf von einem idealen Tag, der aber niemals so geschieht. Selbst wenn ich die Woche sorgfältig plane, fallen mir jeden Abend andere Dinge ein, die ich noch hätte machen wollen oder machen müssen, die schön gewesen wären, nach denen ich Sehnsucht hatte. Der ideale Tag hat immer mehr Stunden, als ich wach sein kann.
Die Soziologin Jenny Shaw verbindet unsere subjektive Wahrnehmung von knapper Zeit mit objektiv feststellbaren Veränderungen im Alltag der Gegenwart, die uns dazu bewegt haben, immer mehr von unserer Zeit zu wollen: »Die größere Auswahl an zeitlichen Möglichkeiten zu arbeiten, zu essen oder einzukaufen, verstärkt die Grundhaltung, insgesamt mehr zu machen.«3 Diese zusätzlichen Möglichkeiten haben wir ursprünglich dafür geschaffen, damit unser Alltag ruhiger wird. Supermärkte schließen in vielen Städten erst spät am Abend, damit Menschen, die um 22 Uhr von der Arbeit nach Hause kommen, dann noch Milch für den Kaffee am Morgen kaufen können. Zudem sind viele Geschäfte digital auch noch nach Ladenschluss zugänglich und liefern die bestellte Ware. Die Möglichkeiten, spätabends auswärts zu essen, haben enorm zugenommen, und manche Restaurants bieten Essen sogar rund um die Uhr an. Berufliche Aufgaben können zunehmend von überall aus und zu jeder Zeit erledigt werden, da wir mobil und flexibel arbeiten. Selbst einige Fitnessstudios haben 24 Stunden am Tag geöffnet. Das immense Angebot an Videotrainings führt dazu, dass es egal ist, wann die Arbeit beginnt oder endet: Wir müssen nur früh genug aufstehen oder lange genug aufbleiben, um jeden Tag in Bewegung zu sein.
Unser Alltag bietet nun mehr Raum für die Erfüllung eigener Wünsche, aber auch mehr Raum für Erwartungen anderer. Die Ausrede, etwas nicht tun zu können, weil man nicht vor Ort sei oder die Zeit es nicht erlaube, lässt sich immer seltener glaubhaft vorbringen. Unsere räumlichen und zeitlichen Handlungsspielräume begrenzen wir angeblich nur selbst. Müdigkeit lässt sich bekämpfen. Unser Handeln wird immer weniger von äußeren Faktoren eingeschränkt und immer abhängiger von unserem Ehrgeiz und dem Willen, die eigenen Grenzen zu verschieben. Wir sollen 24/7-Menschen sein.
Unsere Kindheit ist ein Ort, an dem die Zeit zunächst weniger wichtig ist, man schwimmt in ihr wie in einem Meer: Die Zeit erscheint endlos, und man kann sich treiben lassen. Die Unterschiede wahrnehmen zu können zwischen fünf Minuten und fünf Stunden, zwischen heute und morgen und weit in der Zukunft, ist nicht angeboren. Je älter wir werden, desto mehr gleicht unsere Zeit erst abgetrennten Schwimmbahnen, in denen Bewegungsrichtung und Distanz vorgegeben sind. Schließlich erleben wir unsere Zeit als Badewanne, in die wir nur knapp hineinpassen und aus der das kalt gewordene Wasser abläuft. Die Erfahrung, dass die Zeit nicht reicht, ist etwas, das die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Westlund als letzte Stufe der Zeitsozialisierung von Kindern betrachtet. Über acht Lektionen, angefangen beim Lesen der Uhr, entwickelten sie sich ganz allmählich zu »Zeiterwachsenen«.4 In dem Moment, in dem Kinder ihre eigene Zeit als begrenzt wahrnehmen können und den Wunsch äußern, für irgendetwas mehr Zeit haben zu wollen, sind sie Westlund zufolge in der Zeitwahrnehmung der Erwachsenen angekommen.5
Kinder begreifen aus Erwachsenensicht also die Zeit erst dann in Gänze, wenn sie ein Gefühl des Mangels feststellen. Ingrid Westlund beschreibt in ihrem Forschungsbericht, dass sie den Wunsch nach mehr Zeit, »um mehr erreichen zu können«, bereits bei Kindern im Alter von zwölf Jahren feststellen konnte – allerdings nur bei Mädchen.6 Dass Menschen Zeitknappheit empfinden, statt sie nur an der Uhr ablesen zu können, zeigt uns, dass Zeit mehr ist als ein Orientierungsmittel: Wir verbinden Gefühle mit ihr, sie löst Gefühle in uns aus. Zeitdruck kann immensen Stress verursachen. Etwas schneller zu schaffen als gedacht löst Zufriedenheit aus. An das freie Wochenende zu denken kann uns beruhigen und entspannen.
Die Wahrnehmung von Zeitknappheit könnte man nüchtern als Ankunft in der Wirklichkeit beschreiben. Kinder lernen, dass ihre zeitlichen Möglichkeiten begrenzt sind, so wie sie auch in vielen anderen Bereichen die Erfahrung machen, dass nicht alles, was theoretisch möglich ist oder sie sich wünschen, in Erfüllung geht. »Zeit an sich ist nicht knapp«, schreibt Niklas Luhmann jedoch. »Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht erst aus Überforderung des Erlebens durch Erwartungen.«7 Demzufolge spüren Menschen Zeitmangel dann, wenn sie ihre Erwartungen nicht in den Spielraum des tatsächlich Möglichen einhegen. Sie wollen zu viel. Ist die menschliche Lust an der Maximierung die Hauptursache dafür, dass wir Zeit als zu knapp empfinden? Könnten wir Zeit durch Bescheidenheit entzerren?
Das kindliche Träumen und all die Wünsche, die Menschen ans Leben haben, füllen die verfügbare Zeit, bis sie nicht mehr reicht. Weil wir Fantasie besitzen, sprengen wir den Rahmen unserer Zeiten. Das wäre die wohlwollende, poetische Sicht auf die Zeitnot der Menschen. Würde die Zeit an jedem Tag ausreichen für unsere Pläne, könnten wir stets im Moment leben. Da sie in der Gegenwart aber nicht für all unsere Wünsche reicht, verschieben wir das, was wir noch erleben und erreichen wollen, in die Zukunft. Morgen haben wir neue Zeit. In diesem Verständnis ist die Zeit eine üppige Ressource, die sich über ein langes Leben erstreckt und uns die Möglichkeit bietet, nach und nach allerlei Träume und Wünsche zu realisieren. Wenn die Zeit manchmal knapp ist, zeigt uns das nur, dass wir in der Lage sind, sie reich zu füllen. Unsere Zeitsozialisierung könnte daher auch diese Stufe umfassen: die Fülle der Zeit begreifen und mit dem Bewusstsein leben, dass wir reichlich davon besitzen.
Vor 200 Jahren schufteten Arbeiter_innen in Fabriken täglich noch 14 bis 16 Stunden, an sechs Tagen die Woche.8 Dass die Erwerbsarbeitszeiten heute wesentlich kürzer sind, wird immer wieder als Argument herangezogen, dass Zeitknappheit kein legitimes Gefühl sein könne, da nicht nur der materielle Wohlstand zugenommen habe, sondern auch der Zeitwohlstand. Und der Befund für die Arbeitszeiten stimmt. Zudem ist die Lebenserwartung in den allermeisten Ländern stetig gestiegen. Vor 150 Jahren betrug sie in Deutschland durchschnittlich nicht einmal 40 Jahre, da die Säuglings- und Kindersterblichkeit hoch war, jedoch auch nur etwa ein Drittel der Menschen älter als 60 wurde.9 Wer 1960 zur Welt gekommen ist, hat gegenüber 1870 durchschnittlich 30 Lebensjahre hinzugewonnen und wird laut Prognose des Statistischen Bundesamtes im Mittel bis etwa 2030 leben.10 Mädchen, die 2020 in Deutschland geboren wurden, werden weitere 13 Jahre länger leben als die Generation ihrer Großeltern; sie sollen ein Durchschnittsalter von 83,6 Jahren erreichen. Die Jungen ihrer Altersklasse werden knapp vier Jahre weniger Zeit für ihre Pläne haben, aber im Mittel immerhin 78,9 Jahre alt werden. Auch sie haben Zeit hinzugewonnen. Die Art und Weise, wie wir heute leben und wie wir uns umeinander kümmern, hat uns also Zeit geschenkt.11 Theoretisch könnten wir unseren Alltag entzerren und dem Gefühl der Zeitknappheit mit dem Wissen begegnen, dass wir unsere Vorhaben auf immer mehr Lebensjahre verteilen können. Wir müssten nicht alles gleichzeitig machen wollen.
Die typische Zeitsozialisierung, die Kinder durchlaufen, sowie die Zeitkompetenz, die Erwachsene heute als Fähigkeit brauchen, um ihr Leben zu organisieren, ist jedoch viel stärker auf die Gegenwart fokussiert als auf die Zukunft. Zwar haben manche Menschen eine Bucket List12 mit Dingen, die sie einmal in ihrem Leben machen möchten und die durchaus auch noch mit 60 oder 70 Jahren realisiert werden können, doch diese Art der langfristigen Lebensplanung wird nicht systematisch erlernt und bezieht sich vor allem auf besondere Wünsche, weniger auf den Alltag. In der Gegenwart sollen wir unsere Zeit über Techniken des Zeitmanagements so strukturieren, dass Vorhaben genau in die dafür vorgesehene Zeit passen oder sogar noch schneller umgesetzt werden, sodass irgendwann mehr Tätigkeiten in die gleiche Zeitspanne passen oder am Ende gar Zeit übrig bleibt für neue Pläne.
Erste Erfahrungen mit Zeitmanagement sammeln Kinder schon, wenn sie bis zum Abendessen ihr Zimmer aufräumen sollen oder eine Unterrichtsstunde lang Zeit bekommen, um eine Klassenarbeit zu schreiben. Sie lernen auf diese Weise, dass nicht die Aufgabe die Dauer der Beschäftigung damit bestimmt, sondern sich die Aufgabe einer zeitlichen Vorgabe unterordnen muss. In diesen Fällen wird die Zeit nicht knapp, weil Kinder sich selbst mit Erwartungen überfordern,...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | alltagsfeminismus • Altersarmut • Angehörige • Care • Care-Arbeit • Deutscher Sachbuchpreis 2023 • Elternzeit • Equal Care • Erwerbsarbeit • Familienpolitik • Freiheit • Freizeit • GAP • Gender • Gender care gap • Generationengerechtigkeit • Geschlechtergerechtigkeit • Gleichberechtigung • Kinder • Macht • Machtstrukturen • niedriges Einkommen • Pflege • Rente • Selbstbestimmtes Leben • Sorgearbeit • Soziale Ungleichheit • Teilzeit • Teilzeit arbeiten • Trennung • Vereinzelung • Zeitarmut • Zeitgerechtigkeit • Zeitpolitik • Zeitwohlstand |
ISBN-10 | 3-8437-2775-9 / 3843727759 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2775-4 / 9783843727754 |
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