Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts (eBook)
704 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00867-0 (ISBN)
George Packer, geboren 1960 in Santa Clara, Kalifornien, ist amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Er schreibt für The Atlantic. Sein Buch «The Unwinding» («Die Abwicklung») wurde 2013 mit dem National Book Award ausgezeichnet. 2009 war er Holtzbrinck Fellow an der American Academy in Berlin. Zuletzt erschien von ihm «Letzte beste Hoffnung». Er lebt mit seiner Familie in New York.
George Packer, geboren 1960 in Santa Clara, Kalifornien, ist amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Er schreibt für The Atlantic. Sein Buch «The Unwinding» («Die Abwicklung») wurde 2013 mit dem National Book Award ausgezeichnet. 2009 war er Holtzbrinck Fellow an der American Academy in Berlin. Zuletzt erschien von ihm «Letzte beste Hoffnung». Er lebt mit seiner Familie in New York.
Holbrooke? Klar kannte ich den. Ich habe seine Stimme noch im Ohr. Ich höre sie sagen: «Sie haben das Buch nicht gelesen? Sie müssen es lesen, unbedingt.» Die Stimme sagt: «Ich habe das Gefühl, und ich hoffe, das klingt nicht zu selbstgefällig, dass ich in äußerst schwierigen Situationen, wenn niemand eine Antwort hat, zumindest weiß, welche Fragen über allem stehen und wie die Dinge ineinandergreifen.» Sie sagt: «Ich muss auflegen, Hillary ruft an.» Diese Stimme! Ruhig, näselnd, mit einem Hauch von altem New York, ein rhythmisierter Singsang, wenn er seinen Spaß mit einem hatte, während er auch immer etwas von dir wollte, wenn er drängte, schmeichelte, tyrannisierte, verführte, stichelte, analysierte, es immer noch etwas besser wissen musste – wenn er diesen stetigen Druck ausübte wie eine starke Tiefenströmung, sodass man sich am Ende eines Gesprächs, selbst nach zwei Minuten am Telefon, schon an einer ganz anderen Stelle wiederfand, nicht wissend, wie man dorthin gelangt war, und merkwürdig erschöpft.
Er war einen Meter zweiundachtzig groß, wirkte aber größer. Seine Glieder waren lang und dürr, er hatte eine breite Brust, ein breites Kreuz und kantige Schultern, auf denen ein seltsam kleiner Kopf steckte, der ein unermüdliches Hirn enthielt. Seine Füße waren so weit von seinem Rumpf entfernt, dass sie, als sich sein Körper abzunutzen begann und das Blut nicht mehr richtig zirkulierte, rot-weiß anschwollen, marmoriert wie ein Steak. Er ließ sich spezielle Schuhe anfertigen, in seinem ledernen Aktenkoffer waren immer Socken zum Wechseln, von denen er ein halbes Dutzend Paar am Tag durchschwitzte. Auf langen Flügen zog er sie aus und legte sie zum Trocknen über die Sitztasche in der ersten Klasse, manchmal stopfte er sie auch zu den Geheimdokumenten, die sich in seinem Koffer befanden. Als er an seinem Buch über die Beendigung des Bosnienkriegs arbeitete – hier konnte er sich in die Geschichtsbücher einschreiben, wie er es sich immer sehnlichst gewünscht hatte, aber auch das war ihm nie genug –, steckten seine Füße in einem Shiatsu-Fußmassagegerät von Brookstone. Eines Morgens, als er zu einem Gespräch in der Suite der Außenministerin im Waldorf Astoria erwartet wurde, kam er zu spät. Ohne Schuhe, mit heraushängendem Hemd und offenem Hosenstall tapste er durch das Zimmer und pflückte Trauben aus einem Obstkorb, während Madeleine Albright mit wütendem Blick jede seiner Bewegungen verfolgte. Bei einer Videokonferenz in der Vertretung der USA bei den Vereinten Nationen hatte er die Füße in einer Weise auf einen Stuhl gelegt, dass sie im abhörsicheren Lageraum unten im Weißen Haus beinahe die gesamte Leinwand einnahmen und die Konferenz derart störten, dass der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Clinton schließlich einem Adjutanten befahl, das Bild auszuschalten. Wann immer er konnte, legte Holbrooke die Füße hoch, selbst im Weißen Haus, er legte sie auf Schreibtische und Wohnzimmertische – weil es ihm Linderung, und weil es ihm einen Vorteil verschaffte.
Gegen Ende schien es manchmal, als würden sich all seine Sorgen in seinen Füßen sammeln, das Vorhofflimmern, die ehelichen Spannungen, der enttäuschte Ehrgeiz, Kollegen, die seinen Sturz planten, Hunderttausende von Flugkilometern, korrupte Regierungschefs, ein Krieg, der sich der unerbittlichen Kraft seines Willens nicht beugen wollte. Doch am anderen Ende seines Körpers, weit von den Füßen entfernt, waren seine eisblauen Augen in ständiger Alarmbereitschaft. Ihr Strahlen verriet, dass sein Intellekt wachsam und ruhelos war. Sie nahmen beinahe alles auf und gaben kaum etwas preis, wie Einwegspiegel, die nur den Blick hinaus erlaubten, nicht hinein. Ich habe nie jemanden gekannt, der eine Gruppe von Menschen, einen Gegner, einen Zeitungsartikel, eine Reihe von Variablen in einer komplexen Situation – und selbst seinen eigenen, unmittelbar bevorstehenden Tod – derart schnell einordnen konnte. Dieses unaufhörliche Beurteilen verriet einen manischen Geist, der irgendwo in dieser tiefen Stimme, in den trägen Gliedern dieses Mannes wühlte. In den Achtzigerjahren ging er einmal auf der Madison Avenue spazieren, als ihn mit einem «Hallo, Dick!» ein Bekannter überholte. Holbrooke sah dem Mann hinterher, wandte sich an seine Begleiterin und sagte: «Ich frage mich, wie er das gemeint hat.» Es ist wahr, dass seine Locken dem Kamm nicht gehorchten, dass sein Anzug immer zerknittert war, dass er an Telefon und Fernseher klebte, dass er ständig Dinge verlor, dass er das Essen in sich hineinstopfte – einmal schnitt er sich die Nasenspitze an einer Muschelschale, zwei Stoffservietten waren nötig, um das Blut zu stoppen –, es ist wahr, dass er in vielerlei Hinsicht einen verlotterten Eindruck machte. Aber sein Blick war immer scharf, immer konzentriert.
Immer in Gedanken, aber niemals ganz bei sich. Er konnte nicht allein sein – weil er gezwungen gewesen wäre, den Blick auf sich selbst zu richten. Vielleicht war das etwas, das er sich nicht leisten konnte. Leslie Gelb, der fünfundvierzig Jahre mit Holbrooke befreundet war und täglich mehrere Anrufe von ihm erhielt, unterbrach einmal den Monolog, um zu fragen: «Wie ist er denn so – Obama?» Holbrooke lieferte eine scharfsinnige Analyse. «Und welchen Einfluss hast du auf ihn?» Holbrooke schwieg, ihm fiel nichts ein. Wie kam es dazu, dass er auf der Netzhaut diesen blinden Fleck hatte, der sein Inneres verbarg? Er verschaffte ihm einen großen Vorteil, denn keine Selbstbetrachtung, egal welcher Art, störte den Drang, eine Idee in Handeln umzusetzen. Gleichzeitig war es eine große Schwachstelle, die ihn am Ende sogar das Leben kostete.
Ich höre diese Stimme, die sagt: «Das ist jetzt Ihr Problem, nicht meins.»
Er liebte Geschwindigkeit. Holbrooke hörte nie auf, bewundernd über Franz Klammers halsbrecherische Abfahrt um die Goldmedaille im Jahr 1976 zu reden, man hätte fast meinen können, er selbst sei es gewesen, der sich in Innsbruck in diese gefährlichen Kurven gestürzt hatte. Er fuhr mit dem Fahrrad mitten auf eine chaotische Kreuzung in Saigon, während er einer blonden Journalistin, die gerade aus Manhattan angereist war, etwas über den Krieg erzählte. Er raste durch den Pariser Verkehr, während er einem Vorgesetzten aus dem Außenministerium erklärte, wie es um die Friedensgespräche in Vietnam stand. Sein Humvee schlitterte oberhalb der belagerten Stadt Sarajevo über die unbefestigten Serpentinen des Igman, verfolgt von einem gepanzerten Mannschaftstransporter, in dem seine dem Untergang geweihten Kollegen saßen.
Er alberte gern herum, weshalb es so großen Spaß machte, ihn zu begleiten, weshalb er auch so oft in vermeidbare Schwierigkeiten geriet. 1967 postierte er sich vor dem Büro von Robert McNamara im zweiten Stock des Pentagon, er war sechsundzwanzig, ein Neuling im Ministerium, und hoffte, den Verteidigungsminister abzufangen, aus dem einzigen Grund, dass er seine Karriere befördern wollte. Ein ranghoher Militär wartete ebenfalls, ein hochdekorierter Fallschirmjäger, der gerade aus Vietnam zurückgekehrt war, wo Holbrooke ihn kennengelernt hatte. Der Oberst war von Kopf bis Fuß geschniegelt, die Bügelfalten messerscharf, die vorsichtig in die Stiefel geschobenen Hosenbeine waren an den Waden perfekt gebauscht. Er hatte offenbar den ganzen Morgen damit zugebracht, sich fein zu machen. «Das sieht wirklich schön aus», sagte Holbrooke, bückte sich und zerrte ein Hosenbein aus dem Stiefel heraus. Der Oberst brüllte ihn an. Holbrooke lachte.
Damals, in der Zeit von Kennedy und Johnson, als er in den Staatsdienst drängte, wollte jeder ein «action intellectual» sein. Dann wurde der Begriff von den Ereignissen in Vietnam eingeholt, die Intellektuellen verbrannten sich die Finger. Aber die Bezeichnung passte auf Holbrooke. Es ging ihm immer um die Ideen, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern nur, wenn sie zu Lösungen von Problemen führten. Nur mit den größten und komplexesten Problemen gab er sich überhaupt ab. Drei teuflische Kriege – so lässt sich seine Laufbahn zusammenfassen. Er war fast einzigartig in seiner Bereitschaft, alles immer wieder auf eine Karte zu setzen. Als er das Bosnienproblem gelöst hatte, nahm er sich Zypern vor, das Kosovo, den Kongo, das Horn von Afrika, Tibet, Indien, Pakistan und am Ende auch noch Afghanistan. Nur der Nahe Osten konnte ihn nicht locken. Während die Politik in Washington immer vorsichtiger wurde, wuchs sein Appetit auf Eroberungen. Kurz nach seinem Tod sagte Hillary Clinton: «Ich sehe ihn als Gulliver, den die Liliputaner am Boden gefesselt haben.»
Geschichte bedeutete ihm alles, so viel, dass er sie selbst schreiben wollte. Ein Satz wie «Er war ein bedeutender Mann» mag heute anachronistisch klingen, doch als Inspiration für menschliches Streben sollten wir die Idee, die ihm zugrunde liegt, vielleicht nicht ganz über Bord werfen. Er wuchs auf in einer Zeit, in der für diese Vorstellung noch Platz war, ein Platz, den nur ein Amerikaner einnehmen konnte. Damals in der unmittelbaren Nachkriegszeit wusste die in Trümmern liegende Welt das visionäre Handeln von Persönlichkeiten wie Acheson, Kennan, Marshall und Harriman noch zu schätzen. Sie rissen sich nicht einfach Gold und Ländereien unter den Nagel wie die Eliten früherer Weltreiche, sie bauten die Strukturen einer internationalen Ordnung auf, die drei Generationen währen sollte, länger als alles andere, und die erst jetzt im Begriff ist zu zerfallen. Es waren unsentimentale, überaus selbstbewusste, weiße protestantische Männer – Privilegierte, würde man heute sagen –, die um die Jahrhundertwende geboren worden...
Erscheint lt. Verlag | 15.11.2022 |
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Übersetzer | Gregor Hens |
Zusatzinfo | Mit zahlr. s/w Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abkommen von Dayton • Afghanistankrieg • American Academy • Amerikanische Außenpolitik • amerikanische Politik • Außenminister • Außenpolitik • Botschafter • Deutschland • Diplomatie • Geopolitik • Hillary Clinton • Internationale Politik • Joe Biden • Pakistan • politik bücher • politiker biografie • Pulitzer Preis • Richard Holbrooke • Romanhafte Biografie • State Department • USA • Vereinigte Staaten von Amerika • Weltpolitik • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-644-00867-1 / 3644008671 |
ISBN-13 | 978-3-644-00867-0 / 9783644008670 |
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