Mit Montaigne auf Reisen (eBook)
560 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31062-7 (ISBN)
Gaspard Koenig, geb. 1982, ist französischer Philosoph, Essayist und hervorragender Reiter. Er gründete 2013 die Denkfabrik Génération Libre und arbeitete an verschiedenen weltumspannenden Reportagen zusammen mit LePoint. Aus einer Weltreise zum Stand der KI entstand Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz (2021). Zuletzt brachte ihn seine Reise zu Pferde in die Politik. Mit seiner Partei Simple setzt er sich für eine radikale Vereinfachung der französischen Verwaltung ein.
Gaspard Koenig, geb. 1982, ist französischer Philosoph, Essayist und hervorragender Reiter. Er gründete 2013 die Denkfabrik Génération Libre und arbeitete an verschiedenen weltumspannenden Reportagen zusammen mit LePoint. Aus einer Weltreise zum Stand der KI entstand Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz (2021). Zuletzt brachte ihn seine Reise zu Pferde in die Politik. Mit seiner Partei Simple setzt er sich für eine radikale Vereinfachung der französischen Verwaltung ein. Tobias Roth, geb. 1985, ist freier Autor, Mitbegründer des Verlags »Das Kulturelle Gedächtnis«, Lyriker und Übersetzer. Roth wurde mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance promoviert. 2020 erschien sein aufsehenerregender Foliant »Welt der Renaissance«. 2023 folgte der erste Band der anschließenden Städtereihe Welt der Renaissance: Neapel, 2024 der zweite Band über die Renaissance in Florenz.
II Périgord
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Baumstamm, Eisenstange und Gorilla – Montaignes Straßen – Rhythmus und Strecke – Heuwirbel – Die Montaigne-Methode – Abendessen beim abgewählten Bürgermeister – Hufeisenwechsel – Lob des Umweges – Vorsicht vor Schlössern – Kleinstädte und ihre Misere – Reparatur mit Trüffeln – Eigene Zügel – Sattel – Handwerk und Handarbeit – Kreativität und Bastelei – Montaigne und d’Artagnan – Bekannstschaft mit Insekten
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Die ersten fünfhundert Meter boten mir einen schreckenerregenden Einblick in die Schwierigkeiten, die mich erwarteten. Kaum habe ich die Weinberge verlassen und den Wald betreten, stoßen wir auf einen dicken Baumstamm, der quer über dem Weg liegt. Jedweder Zweibeiner könnte leicht über ihn hinwegsteigen, aber es kommt nicht infrage, von Destinada zu verlangen, mit all dem Krempel auf ihrem Rücken über ein Hindernis von achtzig Zentimetern zu springen. Zur Rechten ein Graben und ein Absperrgitter – keine Chance. Zur Linken dichtes Unterholz. Ich steige ab und versuche, den Stamm zu bewegen. Er bewegt sich keinen Zentimeter. Ich verstehe jetzt, warum manche Wanderer Klappsägen dabeihaben, aber ich lehne es ab, den Holzfäller zu spielen. Ich wende mich also nach links, erkunde die Umgebung, breche einige Äste ab, um so etwas wie einen Pfad zu bahnen. Dann gehen wir beide zu Fuß und holen uns die ersten Schrammen. Desti wird immer nervöser und das zu Recht. Ich steige wieder in den Sattel: Gute zehn Minuten sind vergangen.
Ein Fehlstart, sage ich mir. Schwamm drüber. Der Tag beginnt.
Aber da wäre noch, dass hinter der nächsten Biegung die Lidoire fließt, ein Bach, der berühmt dafür wurde, dass der Hundertjährige Krieg an seinen Ufern endete. Man überquert ihn auf einer kleinen Brücke, deren unbedenkliche Benutzung mir alle diesbezüglich befragten Einwohner bestätigt hatten. Das ist, selbstverständlich, nicht der Fall: Eine vertikal aufgepflanzte Eisenstange versperrt den Durchgang für Motorräder und konsequenterweise auch den für Pferde. Ein Detail, das automatisch all jenen entgeht, die nicht davon behindert werden. Ich lerne also eine grausame, aber kostbare Lektion: Meine Gesprächspartner sehen die Welt mit den Augen des Fußgängers. Es hilft nichts, dass sie zehn-, hundert-, tausendmal über diese Brücke gegangen sind, sie haben diese Eisenstange noch nie bemerkt. Mir springt sie sofort entgegen, eine gewaltige graue Säule, einzig und allein dazu ersonnen, um mir zu schaden. Das ruft mir ein berühmtes kognitionspsychologisches Experiment in den Sinn, den »unsichtbaren Gorilla«. Man trug einer Gruppe von Studenten auf, ein Basketballspiel zu beobachten und aufmerksam die Zahl der Pässe zu zählen; die Mehrheit von ihnen ist von der Aufgabe so absorbiert, dass sie nicht bemerkt, wie ein Mensch im Gorillakostüm über das Spielfeld spaziert. Daran kann man sehen, wie sehr und wie tief unsere kognitiven Verzerrungen, die sich über unsere gesamte Existenz hinweg herausgebildet haben, in unseren Nervenbahnen verankert sind. Die Einwohner von Saint-Michel-de-Montaigne haben die Eisenstange nicht wahrgenommen, wie die Studenten den Gorilla nicht wahrgenommen haben. Jeder sieht das, was er sehen will. Und unser Universum ist nichts als ein Mosaik aus Standpunkten, die manchmal miteinander vereinbar sind, aber niemals gleich. Wie Montaigne mit offenherziger Skepsis schrieb, ist es »unmöglich, zwei Meinungen zu finden, die sich völlig gleichen, nicht nur in verschiedenen Menschen, sondern auch in ein und demselben Menschen zu verschiedenen Zeiten« (Essais III,13). Wenn wir nicht einmal die gleiche Brücke sehen, wie können wir dann eine Meinung über die Wahrheit, das Gute, die Gerechtigkeit teilen?
Ich steige also wieder ab, stelle fest, dass es keinen verborgenen Mechanismus gibt, um die Stange zu bewegen, und beruhige meine Nerven, indem ich unflätig den eilfertigen Ingenieur verfluche, der diese Stange gesetzt hat. Mich damit abfinden und kehrtmachen kann ich trotzdem nicht, denn dann würde ich wieder an meinem Ausgangspunkt vorbeikommen, um den nächstgelegen Asphalt zu erreichen (die Ausweichoption im Falle einer Schwierigkeit: Die Straße ist beschwerlich, aber immer gangbar). Bei diesem Tempo erscheint Rom sehr weit weg. Ich suche eine Furt. Der Abhang zur Lidoire ist steil und schlammig; Desti sträubt sich, rutscht etwas, dann findet sie Halt am Ufer. Der Grund des Baches ist zu sehen, die Strömung schwach. Ich setze den ersten Schritt hinein. Desti schreitet voran, mutig wie immer, quert ohne Mühe und wirft mich fast aus dem Sattel, als sie in flottem Trab die Böschung auf der anderen Seite hinaufsteigt. Wir enden schließlich mitten im Farn, völlig ab vom Weg, und stoßen beschwingt ins Nirgendwo vor. Ich fange mich wieder, erspähe den sich schlängelnden Weg ein paar Dutzend Meter entfernt und setze uns wieder auf die Spur. Eine halbe Stunde ist vergangen. Auf meiner Karte im Maßstab 1:25.000 sind wir kaum vier Zentimeter vorangekommen.
Ich muss den Tatsachen ins Auge sehen: Es gibt keine Reitwege mehr. Wie sahen die Straßen zur Zeit Montaignes aus? Julien Gracq bedauerte es, mit dieser notwendigen Frage nicht bis an ein Ende zu kommen: »Die Quasi-Unmöglichkeit, mir die Straßen und Wege von damals auszumalen, ist einer der Gründe, warum es mir so viel schwerer fällt, mir die Vergangenheit vor etwa dem 17. Jahrhundert vorzustellen.« Versuchen wir es trotzdem. In der Epoche Montaignes waren die Straßen für Pferde gedacht. Nichts könnte falscher sein als die Vorstellung, das Königreich sei ein Geflecht von Hohlwegen gewesen, auf denen sich die Reisenden verirrten. Vielmehr gab es große Achsen, die das Land in gerader Linie durchzogen. Die ersten Reiseführer erleichterten den Ortswechsel. So ärgerte sich Montaigne, beim Packen den Münster vergessen zu haben, einen Reiseführer für Europa, der unter dem pompösen Titel Cosmographia gedruckt wurde. Andere Werke waren eher praktischer Natur. So verzeichnete der Guide des chemins de France, den Charles Estienne einige Jahre vor Montaignes Reise veröffentlicht hatte, nicht nur die Wege, sondern auch die möglichen Raststationen: der Routard des 16. Jahrhundert. Alle nützlichen Hinweise findet man auf der Karte: g für Herberge, r für Mittagstisch, p für Stationen, an denen frische Pferde warteten. Zur Überquerung von Flüssen sind Fähren, Furten und Brücken eingezeichnet. Die einzigen Gefahren sind die Wirtshäuser, wo man »riskiert, schlecht behandelt zu werden«, und natürlich die Wälder, »in denen es von Räubern und Mördern wimmelt«. An der Spitze einer kleinen bewaffneten Truppe ist Montaigne davor einigermaßen sicher.
Unter diesen einigermaßen bequemen Voraussetzungen vermag es der Reiseführer von Charles Estienne, eine tägliche Wegstrecke von vierundfünfzig Kilometern zu empfehlen. Vierundfünfzig Kilometer! Das stimmt in der Tat mit den Etappen überein, die Montaigne in seinem Reisetagebuch verzeichnet, das ist aber auch das Doppelte von dem, was Destinada und ich zu schaffen hoffen. Zunächst einmal ist unser Weg mühsamer. Den französischen Teil meiner Reiseroute habe ich entlang des Fernwanderwegenetzes Sentiers de grande randonnée (GR) geplant, aber wir sind dennoch umgestürzten Baumstämmen ausgeliefert, den Brücken, den Umlaufgittern, den Stacheldrahtzäunen und anderen Dingen, die einem Reiter Albträume bereiten. Vor allem aber habe ich nur ein Pferd zur Verfügung, mit dem ich für ein halbes Jahr schonend umgehen muss. Montaigne hingegen wechselte sein Reittier an jeder Poststation, das heißt mehrmals am Tag, und rühmte sich damit, nicht zu wissen, wie man »einem Pferd das Zaumzeug anlegt« (Essais II,17). In seinem Reisetagebuch erzählt er sogar, dass er eines Tages sein Pferd (mit seinem Zaumzeug) mit einem Reisenden auf der anderen Seite des Tibers getauscht hat, da die Fähre über den Fluss den Fußgängern vorbehalten war. Die »Ökonomie des Teilens« ist also nicht erst gestern erfunden worden. Zwar kann Montaigne wunderbare Passagen über Tiere schreiben, aber ich habe aus seiner Feder nicht eine Zeile gelesen, in der ein Pferd für ihn etwas anderes wäre als ein Transportmittel (oder, bestenfalls, im Krieg ein Streitross); ein Transportmittel, das den größten Teil des Tages geschwind vorankommt, im Trab oder im Galopp.
Eine Reise zu Pferd ist also nicht dazu bestimmt, langsam zu sein. Christophe Studeny hat gezeigt, dass die Eroberung der Geschwindigkeit im Zeitalter der Klassik vor allem durch die Verbesserung des Pferdeverkehrs vonstattenging, lange bevor die Dampfmaschine die Nachfolge antrat. Turgotine und Postkutsche haben bereits vor der Eisenbahn die Fahrzeiten verkürzt, sodass etwa Stendhal darüber staunen konnte, für die Strecke Paris–Marseille nur drei Tage zu brauchen. Der Wirkungsgrad des Pferdes wurde, klug erarbeiteten Berechnungen folgend, noch das ganze 19. Jahrhundert hindurch als dem der Maschine überlegen eingeschätzt. Auch hat es der Maschine seine Maßeinheit verliehen: die Pferdestärke. Erst heute, den Tücken des Teers und der Leitplanken sei Dank, muss das Pferd im Schritt gehen.
Diese grundlegende Tempodifferenz sollte als Nachweis genügen, dass ich in keiner Weise »wie früher« reise, wie ich es auf meinem Weg immer wieder zu hören bekommen habe. Nichts...
Erscheint lt. Verlag | 8.9.2022 |
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Übersetzer | Tobias Roth |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abenteuer • Augsburg • Bordeaux • Bürokratie • Das Ende des Individuums • Entschleunigung • Europa • Gaspard Koenig • Grenzen • Konstanz • Liberalismus • Montaigne • Pferd • Philosophie • Reisebericht • Rom • Simple • Tobias Roth • Wanderreiten |
ISBN-10 | 3-462-31062-3 / 3462310623 |
ISBN-13 | 978-3-462-31062-7 / 9783462310627 |
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Größe: 3,5 MB
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