Zwischen Selbstbestimmung und Zugehörigkeit (eBook)
267 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45206-7 (ISBN)
Vesna Glavaski ist Arbeitssoziologin. Sie vernetzt und berät Interessenvertretungen und Initiativen von Solo-Selbstständigen bei der Interessenartikulation und zu Fragen der Organisierung.
Vesna Glavaski ist Arbeitssoziologin. Sie vernetzt und berät Interessenvertretungen und Initiativen von Solo-Selbstständigen bei der Interessenartikulation und zu Fragen der Organisierung.
1.Einleitung
»Unsere gemeinsame Vorgeschichte, und damit die Vorgeschichte dieses Buchs, beginnt etwa um das Jahr 2001 herum. Die New Economy war gerade zusammengebrochen und hatte uns in ihrer Spätphase unabhängig voneinander tiefe Einblicke in die Unternehmens- und Arbeitswelt beschert. Wir waren hin und her getaumelt zwischen Internet-, Trend- und Werbeagenturen, die heiße Luft mit je nach Bedarf angepasster Temperatur verkauften. Es hatte anfangs durchaus Spaß gemacht. Dann war es unbequem geworden. […] Unser Lebensgefühl im Berlin der Post-New-Economy-Ära war stark geprägt durch diese neue soziale Dynamik, und wir verdienten Geld nebenbei, indem wir Artikel für Zeitungen schrieben, uns als Freelancer in Agenturen verdingten und uns gegenseitig Jobs zuschoben. […] Die Vorstellung, genau zu wissen, wo man den übernächsten Dienstag von zehn bis neunzehn Uhr verbringen wird, wird nicht schön durch einen monatlichen Scheck. Sie wird nur erträglicher. Wir hatten aber keine Lust mehr, den Weg des geringsten Leids zu gehen; wir wollten den Weg der größten Freude.«
(Friebe/Lobo 2006: 13 f.)
1.1Gesellschaftlicher Problemzusammenhang und Gegenstand
Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis mit geregelten Arbeitszeiten, dem Anspruch auf arbeits- und sozialrechtlichen Schutz und der Sicherheit, dass morgen die eigene finanzielle Lage noch so aussieht wie heute, galt lange Zeit als Garant der Stabilität in einer Gesellschaft, in der jede Arbeit besser ist als keine Arbeit. Die Selbstständigen-Forschung, so wie auch im obigen Zitat formuliert, zeigt, dass die abhängige Beschäftigung längst nicht mehr als normativer Maßstab für alle Erwerbstätigen gilt (vgl. Abbenhardt 2018; Lorig 2018; Betzelt 2006: 63). Denn Millionen von Menschen in Deutschland haben in den letzten dreißig Jahren die Erfahrung gemacht, dass ihr Arbeitsplatz bei weitem nicht mehr sicher ist, dass ihre Arbeit aufgrund globaler Finanz(markt-)Ströme von billigeren Arbeitskräften übernommen wurde, dass ihre Qualifikation oder ein Job kein existenzsicherndes Gehalt garantieren. Das gewandelte Verhältnis von fiktivem Kapital und Realkapital veränderte auch die Vorzeichen, unter denen Arbeitskraftnutzung erfolgt, sowie die wohlfahrtsstaatliche Programmatik und die Funktion des Sozialstaats im Postfordismus (vgl. Lessenich 2008; Dörre 2003). Dieser Verursachungszusammenhang führte zum Anstieg sogenannter atypischer und nicht selten prekärer Beschäftigungsverhältnisse, zu denen auch die Solo-Selbstständigkeit zählt (vgl. Keller/Seifert 2013).
»Die Deregulierungen am Arbeitsmarkt – die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ist nur ein Bestandteil eines umfassenden Maßnahmenpakets, das vom Gesetzgeber im Laufe des letzten Jahrzehnts verabschiedet wurde – führten zu einem explosionsartigen Anstieg nicht-standardisierter Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, geringfügiger Beschäftigung, Solo-Selbständigkeit und Teilzeitarbeit.« (Holst/Nachtwey 2010: 289; Hervorh. V.G.)
Aufgrund von Unternehmensstrategien der Flexibilisierung und Externalisierung von Beschäftigung, um die Produktionskapazitäten »auf Kosten und zulasten anderer« (Lessenich 2018: 25) zu erhöhen, werden Solo-Selbstständige zunehmend auch im Kernbereich globaler Wertschöpfung von Unternehmen und Betrieben eingesetzt (vgl. Tünte 2017). Der systematische Einsatz dieser flexibilisierten, atypischen Beschäftigungsform gehört zu den charakteristischen Folgen eines globalen, finanzdominierten Akkumulationsregimes, dessen Stabilisierung und Reproduktion durch Strukturen, Praktiken und Mechanismen der Externalisierung erfolgt (vgl. Lessenich 2018: 50).1 Das Leben in der »Externalisierungsgesellschaft« (ebd.: 31) des Finanzmarktkapitalismus ist somit, wie es die Autoren des eingangs zitierten Buches beschreiben, für viele Menschen »unbequem geworden« (Friebe/Lobo 2006: 13). Alternativ zum nicht mehr ›normalen‹ Normalarbeitsverhältnis etablieren sich also flexible Formen der Beschäftigung. Flexibilität kann für die Erwerbssubjekte mit einer Zunahme an Freiheitsgraden und zugleich mit weniger Stabilität einhergehen.
»Unter Umständen enthält Flexibilität ein Versprechen größerer Selbstbestimmung in der Arbeit. Solche für die Beschäftigten potenziell attraktiven Seiten der Flexibilität werden aber immer wieder durch wachsende Arbeitsbelastung, das Schüren von Konkurrenz und das gezielte Hereinholen von Marktzwängen in die Arbeitsorganisation, somit von durch eigenes Handeln nicht zu kontrollierenden Risiken, auch solchen der Weiterbeschäftigung, konterkariert.« (Kronauer/Linne 2005: 13)
Selbstredend sind von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Veränderungs- und normativen Erosionsprozessen nicht alle gleichermaßen betroffen. Für einige Gruppen von Erwerbstätigen werden auch positive Folgen einer gestiegenen individuellen Autonomie konstatiert: Hochqualifizierte Wissensarbeiter*innen werden dabei tendenziell auf der Gewinner*innenseite verortet, »denen die geringer qualifizierten ›Tagelöhner‹ einer neuen ›Dienstleistungsklasse‹ als Verlierer gegenüber stehen (Voß/Pongratz 1998; Drucker 1993); zahlreiche Übergangsformen werden konzediert.« (Betzelt 2006: 62) Diese Perspektive wurde bisher in etlichen sozialwissenschaftlichen Diskursen und empirischen Untersuchungen der letzten dreißig Jahre vor allem in Bezug auf Angestellte diskutiert und beforscht (dazu u.a. Voß/Pongratz 2003; Nickel u.a. 2008; Hürtgen/Voswinkel 2014), auch am Beispiel der Beschäftigten in der IT-Industrie (vgl. u.a. Rau 2010; Kämpf 2008; Boes/Trinks 2006, Boes/Baukrowitz 2002). Die Selbstständigen-Forschung widmete sich größtenteils den Verlierer*innen, den »Proletaroide[n] oder prekäre[n] Selbständigen« (vgl. Candeias 2008: 72). Sie werden in der »Zone der Prekarität« (Dörre 2005: 60) oder an der Schwelle zu dieser verortet, da für viele die Arbeits- und Lebensführung von Prekarisierung gekennzeichnet ist (vgl. Bührmann/Pongratz 2010), wie u.a. für solo-selbstständige Kulturschaffende (vgl. Hanemann 2016; Manske 2007), für Handwerksdienstleister*innen (vgl. Lorig 2018) oder ambulante Pflegekräfte (Schürmann/Gather 2018).
Doch ist Prekarität nicht überall (vgl. Dörre 2012a: 33) und sie ist vor allem nicht im Feld der IT-Freelancer zu finden. Für diese ist gerade die Abgrenzung gegenüber einer Fremdzuschreibung als schutzbedürftig oder ›abhängig selbstständig‹ ein konstitutiver Bestandteil ihres beruflichen Selbstverständnisses.2 In der Debatte um die positiven wie negativen Folgen der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen werden daher IT-Freelancer häufig als Gewinner*innen wahrgenommen (vgl. Betzelt 2006: 62). Denn als »Stars einer digitalen Bohème« (Dörre 2009c: 63) stimmen sie selbst »ein Loblied auf flexible Arbeit, Selbstunternehmertum und modernes Jobnomadentum« an (ebd.). Ihre Kritiker*innen unterstellen ihnen opportunistisches Erwerbshandeln und eine unsolidarische Grundhaltung.
IT-Freelancer wurden bislang in betriebswirtschaftlichen (vgl. Kaiser u.a. 2012; Süß u.a. 2013), arbeitspsychologischen und gesundheitssoziologischen Untersuchungen beforscht (vgl. Kaiser u.a. 2012; Gerlmaier/Latniak 2011; Borchert/Urspruch 2007), sowie in wenigen qualitativen Studien im Bereich der arbeitssoziologischen Solo-Selbstständigen-Forschung (vgl. Apitzsch u.a. 2016; Gottschall/Henninger 2005a; Vanselow 2003).
Bei der Solo-Selbstständigkeit handelt es sich um ein äußerst heterogenes Feld. Zwischen den IT-Freelancern und den »modernen Tagelöhnern« (vgl. Lorig 2018: 254) befindet sich wohlbemerkt eine ganze Bandbreite an sozialen Lagen, an Qualifikationsniveaus, sozialpolitischen Bedarfen und an individuellen und kollektiven Erfahrungshintergründen sowie an ihren konkreten Arbeitsbedingungen. Auch wenn die meisten Solo-Selbstständigen nicht regelmäßig in Unternehmensabläufe ihrer Auftraggeber*innen eingebunden sind, so setzen doch Unternehmen verschiedener Branchen externe,...
Erscheint lt. Verlag | 23.11.2022 |
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Reihe/Serie | International Labour Studies | International Labour Studies |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | Arbeitsbedingungen • Freelancer • IT-Branche • IT-Industrie • Selbstständigkeit • Solo-Selbstständige |
ISBN-10 | 3-593-45206-5 / 3593452065 |
ISBN-13 | 978-3-593-45206-7 / 9783593452067 |
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