Der Aufmacher (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31044-3 (ISBN)
Günter Wallraff, Jahrgang 1942, lebt und arbeitet in Köln. Veröffentlichungen u.a.: Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben (1966; 1970 unter dem Titel Industriereportagen), 13 unerwünschte Reportagen (1969), Ihr da oben, wir da unten (mit Bernt Engelmann), Unser Faschismus nebenan (1975), die Dokumentation einer in Athen durchgeführten Protestaktion Wallraffs gegen das griechische Obristenregime. Besonderes Aufsehen erregte Wallraff 1977 mit seinen verdeckten Recherchen innerhalb der Redaktion der Bild-Zeitung ( Der Aufmacher und weitere Bücher zum Thema). Mit über 5 Mio. Exemplaren der deutschsprachigen Ausgabe und 38 Übersetzungen war Ganz unten (1985), die Reportage über den menschenverachtenden Handel mit Leiharbeitern, das erfolgreichste Sachbuch der Nachkriegszeit. Große Medien- und Leserresonanz fanden die Reportagen in dem Band Aus der schönen neuen Welt (2009, 2012) und dem von ihm herausgegebenen Band Die Lastenträger (2014).
Günter Wallraff, Jahrgang 1942, lebt und arbeitet in Köln. Veröffentlichungen u.a.: Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben (1966; 1970 unter dem Titel Industriereportagen), 13 unerwünschte Reportagen (1969), Ihr da oben, wir da unten (mit Bernt Engelmann), Unser Faschismus nebenan (1975), die Dokumentation einer in Athen durchgeführten Protestaktion Wallraffs gegen das griechische Obristenregime. Besonderes Aufsehen erregte Wallraff 1977 mit seinen verdeckten Recherchen innerhalb der Redaktion der Bild-Zeitung ( Der Aufmacher und weitere Bücher zum Thema). Mit über 5 Mio. Exemplaren der deutschsprachigen Ausgabe und 38 Übersetzungen war Ganz unten (1985), die Reportage über den menschenverachtenden Handel mit Leiharbeitern, das erfolgreichste Sachbuch der Nachkriegszeit. Große Medien- und Leserresonanz fanden die Reportagen in dem Band Aus der schönen neuen Welt (2009, 2012) und dem von ihm herausgegebenen Band Die Lastenträger (2014).
»Schweigen Sie jetzt und gehen Sie schon!«
In Hannover lebt eine Philosophie-Studentin, die über die Beschäftigung mit Zen-Buddhismus zum Kampfsport Tae-Kwon-Do gekommen ist, einer koreanischen Abart des Karate. Ich schlage die Geschichte vor, die Idee wird akzeptiert. Ich bin nun schon so tief drin in der BILD-Mache, dass ich ziemlich genau weiß, was von mir erwartet wird. Aber der Chefreporter von BILD, Sigi Trikoleit, der zu dieser Zeit gerade in Hannover ist, spricht es auch noch offen aus: »Was, wenn die einer vergewaltigen will?!« Da ich unter großem Zeitdruck bin, bitte ich Alf, meinen Vorgänger bei BILD, der mich gerade besucht, mir zu helfen. Wir rufen die Studentin an:
»Sind Sie schon mal vergewaltigt worden?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Wäre Tae-Kwon-Do eine Kampftechnik, die Ihnen als Frau da helfen würde?«
»Das ist für mich in keinem Fall ein Grund, diesen Sport zu betreiben. Es geht mir dabei um andere Dinge, um eine Philosophie.«
»Aber mit Tae-Kwon-Do kann man mörderische Schläge anbringen, oder?«
»Ist möglich, obwohl wir das gar nicht üben. Der Meister beherrscht zwar diesen Schlag, bringt ihn den Schülern aber gar nicht bei.«
»Danke. Auf Wiederhören.«
Alf ist unzufrieden: »Damit wir uns richtig verstehen: In unserer Geschichte macht die keinen Philosophie-Unterricht, sondern sie übt richtiges Zuschlagen.«
Ich wende ein: »Die treiben Sport, Gymnastik mit philosophischem Hintergrund. Gerade um den geht’s ihr.«
Alf: »Vielleicht können wir es ja so drehen: ›Über die Philosophie ist sie dazu gekommen …‹«
Ich: »Die Geschichte, wie einer sie vergewaltigen will und sie den Jungen durch die Luft wirbelt, die gibt’s nicht.«
Alf: »Ach so, Scheiße. Wir müssen es so darstellen: Da gibt’s einen Menschen, der ist vollkommen, und doch hat er was, worin ihm der Leser voraus ist. Der Leser hat eine gesunde, glückliche, intakte Familie, zwar alles mehr oder weniger, aber er glaubt’s. Na, ich ruf sie noch mal an.«
»Guten Tag, ich würde gerne wissen: Sind Sie bereit zum Töten?«
»Nein, auf gar keinen Fall. Das hat mit Tae-Kwon-Do nichts zu tun.«
»Sie haben aber gelernt zu töten?«
»Nein.«
»Nehmen wir mal an, Sie gehen nachts durch den Park und es stehen plötzlich vier Typen vor Ihnen. Der eine greift Ihnen an die Bluse, der zweite untern Rock, was tun Sie dann?«
»Da ich noch nie in einer solchen Situation war, kann ich die Frage nicht beantworten.« [3]
Alf legt auf: »Mann, ist die aber kompliziert, die sagt ja gar nichts. Na ja, fangen wir an: Sie ist neunzehn Jahre alt, hat lange blonde Haare und ein wunderschönes Gesicht. Sie sieht aus – jetzt muss irgendwas kommen wie Märchenfee, Gedankenstrich, und dann: Aber sie ist tödlich, denn sie beherrscht … mit einem Schlag, mit einem Tritt und so weiter. Dann beschreiben wir den Sport, welche Schläge und Tritte tödlich sind, dass sie aber noch nie in einer solchen Situation gewesen ist. Dann kommt: Sie lächelt verlegen, manchmal ist sie sogar ein bisschen schüchtern, weil die Leute, die sie kennen, Angst vor ihrer tödlichen Waffe haben, und dass sie deshalb Angst hat, dass sie niemanden findet, der mit ihr zusammenlebt. Das ist die Schwäche, die rein muss.«
Vor meinen Augen verwandelt sich der sanfte, liebe Alf in einen Typen, den ich nicht wiedererkenne. Am Telefon straff und knallhart, er versucht das Mädchen regelrecht zu überfahren. Dann, als er schreibt, plötzlich nur noch flüsternd, hauchend wie ein Schmierenlyriker. Zwischendurch schüttelt er den Kopf: »Wie kann man nur so ’n Zeug daherreden, bei der stimmt’s ja hinten und vorne nicht.« Er ist für zwei Stunden wieder der zynische BILD-Reporter geworden, skrupellos und erfolgsgewiss, den Schwindmann so dringend »einkaufen« wollte.
Als ich mit der Geschichte in die Redaktion komme, wird sie genussvoll durchgehechelt. Ein paar Redakteure und der Producer sehen sich die Bilder an und sinnieren, ob man die Kleine mal selbst …
Alf hatte gute Arbeit geleistet, und ich begann, mich dieser Arbeit mehr und mehr anzupassen. Schon wenige Wochen in dem geschlossenen Regelkreis, den eine BILD-Redaktion bildet, lassen Orientierung auf anderes schwinden. Ich schreibe zu dieser Zeit in mein Tagebuch: »Als Z. dastand und nicht wusste, wo er herkam und wo er hin sollte, waren ihm alle Richtungen gleich.« Wer funktionieren, mitmachen, mitspielen muss, wer auch andern so mitspielen muss, wie ihm mitgespielt wird, verliert seine Widerstandskraft.
Ich konnte die Tae-Kwon-Do-Geschichte relativ gut verkraften, denn ich hatte die Studentin vorgewarnt, hatte sie eingeweiht, konnte ihr versprechen, dass ich die Geschichte irgendwann richtigstellen, die BILD-Lügen entlarven würde. Es war auch so noch schlimm genug für sie. An Straßenecken und in Kneipen wurde sie wegen der Geschichte angemacht, ihr Philosophie-Lehrer empfahl ihr, doch gleich für BILD zu arbeiten. Sie hat nichts gesagt. Ein echter BILD-Journalist hätte nichts wiedergutmachen können, hätte keine innere Rechtfertigung gehabt dafür, dass er einen anderen für BILD fertiggemacht hat.
Sie sind ja nicht als Bösewichter, als Lügner und Heuchler auf die Welt gekommen. Sie mussten da mal eine »schnelle Geschichte« wider besseres Wissen schreiben, weil der Redaktionsleiter die entsprechende Schlagzeile schon »abgefahren« oder unwiderruflich für die Bundesausgabe nach Hamburg gemeldet hatte; sie haben mal was erfunden, weil sie drei Tage hintereinander mit ihren »langweiligen« Geschichten nicht ins Blatt gekommen waren und ihr Kurs an der Hausbörse stürzte; sie haben dort mal dem Redaktionsleiter nicht widersprochen, als er ihre Geschichte auf den Kopf stellte. Keiner redet darüber, aber alle wissen es. Woher da noch den Mut und die Rechtfertigung nehmen, gegen die Lügen der anderen aufzustehen? Woher noch das Motiv für anständige journalistische Arbeit nehmen, wo man doch das Brandmal sowieso nicht mehr loswerden kann?
Es gibt einen in dieser BILD-Redaktion, der sich nicht beugen will. Und gleich kommt mir der Verdacht, dass dieser Kollege, Michael Bartz, nicht echt ist. Dass er am Ende auch in der Rolle des teilnehmenden Beobachters hier ist, eventuell als Publizistik-Wissenschaftler, der die BILD-Mache und -Masche vor Ort untersucht. Dann allerdings gelingt es ihm mit der Verstellung nicht so gut. Er ist nachdenklich, wenn vorschnelles Reagieren verlangt, spröde und nachfragend, wenn ein nassforsches Einverständnis erwartet wird. Er wagt es sogar, in Redaktionskonferenzen »Wieso« und »Warum« zu fragen. Er hat so eine trockene Art, Schwindmann auf- und leerlaufen zu lassen, wenn er in Redaktionskonferenzen auf dessen fixe Ideen und Vorurteile entgegnet: »Nein, das ist nicht so« oder: »Ich war da, ich muss es schließlich wissen« oder sogar: »Ich kann das nicht verantworten«. Immer wieder weigert er sich hartnäckig, einem Vorurteil von Schwindmann Nahrung zu verschaffen. Das Resultat: Er bringt manchmal mehrere Tage hintereinander keine Geschichte ins Blatt. Schwindmann lehnt ab, »Das ist noch keine Geschichte« oder »Die Geschichte seh’ ich nicht«. Manchmal ist Bartz elf Stunden in der Redaktion und hat nicht mehr als 30 Mark für zwei Meldungen verdient. Klöpfer und Hai reden ihm zu: »Du bietest deine Geschichten nicht richtig an.« (Das heißt so viel wie: Du verdrehst die Realität nicht BILD-gerecht.) Bartz sagt: »Ich kann nur erzählen, was war. Das ist der Grund, dass ich aus der Werbung zum Journalismus gewechselt habe.«
Die anderen belächeln ihn, wenn er auf den Redaktionskonferenzen den ganzen Laden aufhält und partout nicht dazu bereit ist, Schwindmanns Einflüsterungen nachzugeben und sich auf vorschnelle Übereinkünfte einzulassen. Selbst ich ertappe mich dabei, dass ich ihn belächle. Allerdings hat es auch etwas Befreiendes, dass es da einen gibt, der nicht so ohne Weiteres mit sich reden und sich im Vorbeigehen vereinnahmen lässt
Michael ist keineswegs ein Systemkritiker. Ich glaube auch nicht, dass er BILD durchschaut. Er bewahrt nur ein Gefühl für Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit vor sich selbst, immer wieder aufs Neue. Das lässt ihn hier so fremd und deplatziert erscheinen.
Einige mögen ihn zwar, vielleicht, weil er ihre eigenen, ständig unterdrückten Gedanken offen auszusprechen wagt, aber ernst nimmt ihn so gut wie keiner. Ich mag ihn sehr, weil er sich nicht anpasst und unterwirft, sondern einen Gegenpol in dem Ganzen darstellt.
Es gab eine Situation, da glaubte ich, er habe mich erkannt und wolle es mir verschlüsselt zu verstehen geben. Michael zeigt auf Schwindmann und flüstert mir zu: »Der da oben, wir hier unten.« Ich erschrecke sehr. »Wie meinst du das?«, frage ich, »gibt’s da nicht ein Buch, das so ähnlich heißt?« Er nennt den genauen Titel und die Autorennamen (Engelmann/Wallraff). »Meine Freundin liest’s gerade. Es soll da so ähnlich zugehen wie bei uns. Aber hier kommt man ja nicht zum Lesen von so dicken Büchern.« Ich bin erleichtert.
Einmal versucht Schwindmann, ein Exempel an ihm zu statuieren. Bartz muss für ihn ein ständiger Störfaktor sein, ein irritierendes, verunsicherndes Element in diesem glatt geschmierten, eingespielten Mechanismus. Man muss ihn austrocknen, durch...
Erscheint lt. Verlag | 8.9.2022 |
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Zusatzinfo | zahlreiche s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Kommunikation / Medien ► Journalistik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bild-Zeitung • Ganz unten • Günter Wallraff • investigativ • Journalismus • Medien • Presse • Springer • Team Wallraff • Undercover-Reportage • unzensiert |
ISBN-10 | 3-462-31044-5 / 3462310445 |
ISBN-13 | 978-3-462-31044-3 / 9783462310443 |
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