Malas Katze (eBook)
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46363-5 (ISBN)
Mala Kacenberg ist 1927 in Tarnogrod in Polen geboren und Jüdin. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verliert sie ihre Familie und ist mit nur 12 Jahren auf sich allein gestellt. Gemeinsam mit ihrer Katze Malach überlebt sie den Krieg und emigriert später nach London, wo sie eine Familie gründet und bis an ihr Lebensende im Kreis ihrer Kinder und Enkel lebt.
Mala Kacenberg ist 1927 in Tarnogrod in Polen geboren und Jüdin. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verliert sie ihre Familie und ist mit nur 12 Jahren auf sich allein gestellt. Gemeinsam mit ihrer Katze Malach überlebt sie den Krieg und emigriert später nach London, wo sie eine Familie gründet und bis an ihr Lebensende im Kreis ihrer Kinder und Enkel lebt.
5
Eine Soldatin
Ganz in unserer Nähe wohnte eine christliche Familie, die ein Radio besaß. Die Tochter der Leute, mit der ich befreundet war, lud mich ein, mit ihr die Nachrichten anzuhören. Was ich da vernahm, ließ mir das Mark in den Knochen gefrieren. Ich war so schockiert, dass ich minutenlang nicht von meinem Stuhl aufstehen konnte. Der Radiosprecher sagte, dass Hitler in seinem Propagandasender verkündet hatte, er werde vor jedem Juden salutieren, der 1944 noch lebte.
Als ich am Abend im Bett lag, versuchte ich mir vorzustellen, wie dieses Ungeheuer namens Hitler aussah, denn es konnte sich doch nicht um ein menschliches Wesen handeln! Ich hatte meinen Eltern nichts von dem erzählt, was ich im Radio gehört hatte. Eine ganze Weile erzählte ich es niemandem, denn ich fürchtete, dass man mir nicht glauben würde.
Bald wurden wir Juden von den Christen in der Stadt getrennt. Auf einmal gab es einen Stadtausrufer, etwas, was wir bis dahin nicht gekannt hatten. Er lief mit einer großen Glocke durch die Straßen, um alle nach draußen zu beordern. Dann verkündete er, dass jüdische Kinder nicht mehr in die Schule gehen dürften. Diesmal brach ich in Tränen aus, denn mir dämmerte, dass für mich eine düstere, unsichere Zukunft anbrach. Das war in dem Moment meine größte Sorge.
Ich entschloss mich, das Beste aus den Büchern zu machen, die mein Vetter mir gegeben hatte. Jeden Tag legte ich mich, nachdem ich meiner Mutter im Haushalt geholfen hatte, draußen auf die Wiese und las laut aus meinen Büchern, lernte Geschichte, Erdkunde, Polnisch und Naturkunde, mein Lieblingsfach. Rechnen war das einzige Fach, das ich nicht ohne Hilfe bewältigen konnte. Wie sehr wünschte ich mir, meine große Schwester Balla wäre zu Hause und könnte mir helfen. Ich ahnte ja nicht, dass Warschau bereits bombardiert worden war und dass Balla und viele andere längst auf dem Weg in ihre Heimatorte waren, in der Hoffnung, dort in Frieden leben zu können. Zu ihrer großen Enttäuschung mussten sie jedoch erfahren, dass die Deutschen selbst die kleinsten Dörfer besetzt hatten.
Um der Langeweile zu entgehen, beschlossen meine jüdischen Freunde und ich, unsere eigene Schule zu gründen. Wir trafen uns jeden Tag zu einer bestimmten Zeit und lasen einander aus unseren Schulbüchern vor. Es war aufregend, abwechselnd Lehrer zu spielen. Durch das viele Vorlesen wurde meine Aussprache so gut, dass man mich schon bald für ein nichtjüdisches polnisches Mädchen hätte halten können. Ich hatte hellblondes Haar, blaue Augen und eine helle Haut, ganz im Gegensatz zu meiner Schwester Balla, die dunkle Haare und braune Augen hatte. Mein Aussehen sollte in den kommenden Jahren eine entscheidende Rolle für mein Überleben spielen.
Ich war zwar noch ein Kind, aber ich wurde sehr schnell erwachsen genug, um zu begreifen, was auf uns zukam, und ich war wild entschlossen, mich mit aller Kraft zur Wehr zu setzen. Meine Schwester hatte mir regelmäßig die Zeitschrift Sabina aus Warschau geschickt, die ich begierig las und aus der ich sehr viel über die Welt erfuhr. Auch Ballas lange Briefe, in denen sie das Leben in der Großstadt geschildert hatte, faszinierten mich. Ungläubig las ich, dass man in Warschau selten seine direkten Nachbarn kannte, weil sich dort jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. In unserer kleinen Stadt Tarnogród kannte jeder jeden. Manchmal hätte ich mir tatsächlich ein bisschen mehr Privatsphäre gewünscht, aber das war in unserer Stadt unmöglich. Wir waren wie eine große Familie.
Ich hatte mich auf den Tag gefreut, an dem ich die große Stadt kennenlernen würde. Für meine Mutter war ich jetzt schon eine Schneiderin. Schließlich konnte ich schon zerrissene Kleidungsstücke so flicken, dass man nichts davon sah. Und ich nähte aus Stoffresten, die Balla mir schickte, Handtaschen, die ich hübsch bestickte, sodass meine Mutter trotz unserer Armut zu jedem Kleid eine passende Handtasche besaß.
Aber das Stadtleben war bald nur noch ein Traum, der nie in Erfüllung gehen würde, denn unser Viertel wurde abgesperrt und zu einem Ghetto gemacht. Wenn ich traurig war, dachte ich, um mich aufzumuntern, an HaSchem, den Einzigen, dem ich vertraute. Dann fühlte ich mich stark und glaubte, dass ich alle unsere Feinde besiegen und meine Familie und alle unterdrückten Menschen befreien könnte. Später träumte ich sogar davon, mich unsichtbar zu machen und ins Gestapo-Hauptquartier einzubrechen, um alle, die ich dort antraf, mit einem Stock zu erschlagen, der an einem Ende einen Eisenhaken hatte. Solch eine »Waffe« besaßen wir tatsächlich: Mit diesem Stock fischten wir den Wassereimer aus dem Brunnen, wenn das Seil einmal riss. Aber ich musste mich mit meinem Traum begnügen.
Obwohl er durch den ständigen Hunger geschwächt war, hackte mein Vater stundenlang Feuerholz, und von dem wenigen Geld, das er damit verdiente, konnten wir uns ein paar Lebensmittel kaufen. Aber es reichte einfach nicht, und schon bald waren wir gezwungen, unsere Tagesdecken, die meisten Haushaltsgegenstände und Lampen zu verkaufen. Eine einzige Lampe behielten wir, damit wir abends nicht im Dunkeln sitzen mussten. Um uns aufzumuntern, sangen unsere Eltern mit uns Lieder und spielten mit uns. Wir hatten keine Spielsachen, aber selbst gebastelte Gesellschaftsspiele, mit denen wir uns die Zeit vertrieben.
Trotz all unserer Bemühungen litten wir Menschen im Ghetto Hunger. Ich konnte das Elend um mich herum kaum ertragen. Meine drei kleinen Schwestern waren inzwischen sogar zu schwach zum Weinen.
Ich war die Mutigste in der Familie und suchte nach einer Möglichkeit, Lebensmittel für meine hungernden Lieben zu beschaffen. Leider fand ich keine Freundin, die mir bei meiner schwierigen Aufgabe helfen konnte, und so musste ich mich allein ans Werk machen.
Bald wurde die Lage noch schlimmer. Eines Tages verkündete der Stadtausrufer, dass jeder Jude – ob Mann, Frau oder Kind – den gelben Davidstern an der Kleidung tragen musste. Der Stern musste auf weißen Untergrund genäht werden, damit man ihn von Weitem erkennen konnte. Wer dem Befehl nicht nachkam, dem drohte die Todesstrafe.
Ich begann, die deutschen Soldaten zu beobachten. Ich war noch nie in Deutschland gewesen und fragte mich, wie es wohl in dem Land aussehen mochte. Jetzt gehörte ihnen auch Polen und damit auch wir. Wir waren ihr Besitz, und alles, was wir hatten, gehörte ihnen. Ich bin ein friedlicher Mensch, aber oft hätte ich am liebsten dem nächsten Soldaten sein Gewehr abgenommen und damit alle Deutschen erschossen.
Die Nazis verboten uns, in unserer Schul Gottesdienste abzuhalten, außerdem war es uns verboten, uns zu mehr als drei Personen zu versammeln. Unsere wunderschöne Synagoge aus dem achtzehnten Jahrhundert, die oben auf dem Hügel thronte, benutzten die Deutschen jetzt als Pferdestall. Die kleinere Synagoge Belzer Schtiebl diente als Krankenhaus für Menschen, die an Typhus und anderen ansteckenden Krankheiten litten, die jetzt überall wüteten. Aber niemand durfte den armen Leuten helfen; ohne Medikamente und ohne Nahrung starben sie wie die Fliegen. Es ist kaum zu glauben, dass niemand aus unserer Familie sich mit einer dieser Krankheiten ansteckte, wo wir doch in der Nähe des Schtiebl wohnten. Vielleicht konnten sich die Krankheitserreger nicht so weit ausbreiten, weil sie nicht ausreichend Nahrung an den Sterbenden fanden.
In unserer Verzweiflung fassten mein älterer Bruder und ich uns schließlich ein Herz und machten uns auf den Weg in die umliegenden Dörfer, um bei den Bauern und Soldaten Lebensmittel zu erbetteln. Kurz zuvor hatte ich aus der Wolle von mehreren alten Pullovern eine Jacke für meine siebenjährige Schwester Kresele gestrickt; die nahm ich nun mit und tauschte sie gegen einen Laib Brot, ein paar Kartoffeln und Eier. Der Gedanke, dass jetzt ein Kind von einem dieser gemeinen Soldaten die Jacke tragen würde, machte mich traurig. Bis heute läuft mir jedes Mal ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn ich eine im Zopfmuster gestrickte Jacke sehe, vor allem, wenn sie aus roter, weißer und blauer Wolle ist.
Von ein paar Bauern hatten wir Brot und Milch erbettelt, und schließlich machten wir uns mit unseren Schätzen auf den Heimweg. Obwohl wir beide sehr hungrig waren, widerstanden wir der Versuchung, einen kleinen Bissen von dem Brot zu essen, denn wir wollten alles mit der Familie teilen. Ich freute mich schon auf das wunderbare Essen, das meine Mutter zubereiten würde, und nahm mir vor, Kresele eine Extraportion zu geben, weil sie ihre Strickjacke geopfert hatte.
Wir hatten Tarnogród schon fast erreicht und fühlten uns in Sicherheit. Ich stellte mir vor, wie meine Eltern und Geschwister uns um den Hals fielen vor Freude über die Lebensmittel, die wir ergattert hatten. Dann sahen wir plötzlich zwei berittene SS-Leute in. Auch sie hatten uns entdeckt und schrien: »Halt!«
Instinktiv flüchteten wir in ein Maisfeld. Die Männer hoben ihre Gewehre und schossen auf uns. Ich tat so, als wäre ich getroffen, und ließ mich mit ausgestreckten Armen zu Boden fallen. In der Hoffnung, dass mein Bruder es genauso gemacht hatte, blieb ich mehrere Minuten lang so liegen. Nachdem die SS-Männer davongeritten waren in dem Glauben, uns beide erschossen zu haben, hob ich vorsichtig den Kopf. Ich erstarrte, als ich erkannte,...
Erscheint lt. Verlag | 2.5.2022 |
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Übersetzer | Charlotte Breuer, Norbert Möllemann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2. Weltkrieg Biografien • Als Hitler das rosa Kaninchen stahl • authentisch • Autobiografien Frauen • Biografie historisch • Biografie Holocaust • Biografien Frauen • biografische Romane • bücher 2. weltkrieg • buch katzen • Buch Tiere • Der Junge • Der Junge mit dem gestreiften Pyjama • der seinem Vater nach Auschwitz folgte • Der Tätowierer von Auschwitz • Deutsche Wehrmacht • Deutschland • Drittes Reich Erzählung • echte Geschichte • Emigration • Erfahrungs-Bericht • Erinnerungen • Flucht • Flucht und Vertreibung • Frauenschicksal • Geschichte • Holocaust • Holocaust Bücher • Holocaust-Überlebende • Ich habe den Todesengel überlebt • Jiddisch • Judentum • Judenverfolgung Bücher • Judenvernichtung • Katze Malach • Krieg • Lebensgeschichten Frauen • Nationalsozialismus Roman • Romane Zweiter Weltkrieg • Schicksale Bücher • Shoa • Starke Frauen der Geschichte • Überleben • Vertreibung • Wahre GEschichte • wahre Katzengeschichten • wahre Tier-Geschichten • Zeitgeschichte 2. Weltkrieg • Zeitzeuge • Zeitzeugen-Berichte • zeugen des Holocaust • Zwangsarbeit • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-46363-6 / 3426463636 |
ISBN-13 | 978-3-426-46363-5 / 9783426463635 |
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Größe: 5,1 MB
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