Der gute Onkel (eBook)
416 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42816-0 (ISBN)
Bettina Göring wurde 1956 in Wiesbaden geboren. Schon zu Schulzeiten engagiert sie sich in der linken Bewegung. Mit 13 flüchtete sie aus dem elterlichen Haus und schloss sich der Hippiebewegung an. In den siebziger Jahren lebte sie in einer Kommune und ging später als Bhagwan-Anhängerin nach Poona, Indien. 1983 zog sie in den USA, heute lebt sie in Thailand. Bettina Göring ist ausgebildete Heilpraktikerin und Doktor der Orientalischen Medizin. Der gute Onkel ist ihr erstes Buch.
Bettina Göring wurde 1956 in Wiesbaden geboren. Schon zu Schulzeiten engagiert sie sich in der linken Bewegung. Mit 13 flüchtete sie aus dem elterlichen Haus und schloss sich der Hippiebewegung an. In den siebziger Jahren lebte sie in einer Kommune und ging später als Bhagwan-Anhängerin nach Poona, Indien. 1983 zog sie in den USA, heute lebt sie in Thailand. Bettina Göring ist ausgebildete Heilpraktikerin und Doktor der Orientalischen Medizin. Der gute Onkel ist ihr erstes Buch. Melissa Müller, 1967 in Wien geboren, ist Autorin und Journalistin. Ihre Bücher, u.a. Das Mädchen Anne Frank und Bis zur letzten Stunde – Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben (zusammen mit Traudl Junge), waren Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Melissa Müller lebt in München.
1977
Ich liege in einem Saal mit dreißig Betten. Die Bettgestelle sind aus Eisen, die Fenster vergittert. Es stinkt nach Desinfektionsmittel und Urin. Der Deckenventilator über mir rattert beharrlich. Immer wieder ertappe ich mich bei dem Versuch, die Umdrehungen seiner Propellerblätter mitzuzählen. Immer wieder verliere ich unter dem metzelnden Brummen den Faden.
Ich bin gefangen. Wir alle sind Gefangene. Im Jahr davor habe ich im Kino Einer flog über das Kuckucksnest gesehen, und ja, eben noch habe ich mich wie McMurphy gefühlt, unerschrocken und selten um ein Wort verlegen, eine, die ihre Grenzen austestet und manchmal über das Ziel hinausschießt. Unabhängig und sicher nicht verrückt oder gar krank. Jetzt habe ich Angst. Mit Bildern aus dem Film vor Augen und stechenden Kopfschmerzen liege ich die Nächte wach.
Einige der Frauen sind an Hand- und Fußgelenken an ihre Betten fixiert und starren ins Leere, mich hat man endlich losgeschnallt. Irgendeine von ihnen ist immer in der Krise, schreit oder schluchzt, trotz der Beruhigungsmittel, die man uns in hoher Dosis spritzt. Die meisten Patientinnen hier sind Natives indianischer Herkunft. Eine Frau, drei Betten weiter, ist eine gringa wie ich, aber mindestens doppelt so alt. Sie stellt sich mir als Amerikanerin aus Okmulgee County in Oklahoma vor. Das merke ich mir deshalb, weil sie aus demselben Ort wie William Sampson jr. stammt, der in dem Film den baumlangen, vermeintlich taubstummen Verbündeten von Jack Nicholson spielt, Häuptling »Chief Bromden«. Das erzählt sie jedenfalls. Außerdem stammelt sie wirre Geschichten von einem Boyfriend, einem Messer und Drogen.
San José in Costa Rica, der vorletzte Apriltag 1977.
»Hallo, Bettina.« Ich schrecke hoch aus meinem Dämmerschlaf. Ein Mann von höchstens dreißig, akkurat frisiert, beugt sich über mich. Er sieht sehr offiziell aus in seinem grauen Sommeranzug mit weißem Hemd und Krawatte. Mir gelingt ein Lächeln. Er war schon öfter hier, und jedes Mal hat er mir etwas mitgebracht, eine Zeitschrift oder Schokolade. Ich freue mich, ihn zu sehen. Er ist mein einziger Kontakt zur Außenwelt und meine einzige Hoffnung. Die deutsche Botschaft hat ihn geschickt.
»Wie geht es Ihnen heute?«, fragt er mich.
Wie soll es mir gehen nach zwei Elektroschocks? Soll ich ihm die Wahrheit sagen? Beschissen! Oder wird mir das noch mehr schaden? Mein Rücken schmerzt von den Verkrampfungen, mein Kopf fühlt sich wie ein Fremdkörper an, als hätte jemand einen mit schwarzer Farbe getränkten Pinsel über meinem Gehirn ausgeschüttelt und hartnäckige Flecken hinterlassen. Ich antworte nicht, aber er kann meinen Blick lesen.
»Über manches muss man den Mantel des Vergessens legen«, sagt er freundlich, aber so distanziert und eindringlich, dass man ihn auch überheblich finden könnte. Das ist mir jetzt egal. »Wollen Sie hier raus oder noch einmal Strom?« Und dann: »Sie müssen keine Angst mehr haben. Ich habe einen Flug für Sie gebucht. Er geht in drei Tagen. Ihr Bruder wird Sie in Frankfurt erwarten.«
Am 1. Mai holte der Diplomat, dessen Namen ich nie wusste, mich tatsächlich aus dem »Kuckucksnest«, eskortierte mich in einem Mercedes mit Diplomatenkennzeichen zum Flughafen und setzte mich in eine Lufthansa-Maschine mit direktem Ziel Frankfurt. So muss sich eine befreite Geisel fühlen, dachte ich, als die Maschine abhob und eine große Schleife über San José zog, bevor sie in die Wolkendecke eintauchte. Aber mein Albtraum flog mit. Wie hatte ich mich nur in diese Lage bringen können? Ausgebrannt mit zwanzig?
»Zieh dein Abi durch, dann schenke ich dir das Flugticket für eine Fernreise«, hatte meine Mutter mich geködert, als mein Vorrücken in die nächste Klasse wieder einmal gefährdet war und mein Bruder erst die Schule und dann auch noch seine Lehre zum Automechaniker geschmissen hatte, weil er nach drei Monaten der Ansicht war, genug zu wissen, um jeden Wagen wie ein Meister reparieren zu können.
Nachdem ich mit knapp vierzehn von zu Hause weggelaufen war, hatte ich die Schule bestenfalls über mich ergehen lassen, und auch das nur zeitweise. Inzwischen brauchte ich eigentlich keinen Köder mehr. Ich hörte im Unterricht zu, meldete mich zu Wort, und, es stört mich nicht, wenn das verklärend klingt, am Ende hatte ich sogar noch eine erfüllende Schulzeit. Unserem Klassenlehrer Herrn Ratgeber, einem liberalen Mann, traute die Schulleitung zu, unseren Haufen, der sich über die Jahre den Ruf als Problemklasse gesichert hatte, auf das Abitur vorzubereiten. Er verbündete sich mit uns. Als Klassensprecherin und Mitglied des Schulsprechergremiums hatte ich einen direkten Draht zu ihm. Die Deutschlehrerin Frau Lenoir duzte uns im Unterricht und brachte uns nahe, warum wir Bertolt Brecht auf keine Weltanschauung festlegen sollten. Weltbilder seien in aller Regel viel zu mickrig, als dass die Welt in sie hineinpasse, hatte Brecht gesagt, und moralische Überzeugungen seien vor allem dazu da, sie zu überdenken und an die Realität anzupassen. Kunstlehrer Krause unterrichtete uns – O Captain! My Captain! – bei sich zu Hause. Er lehrte uns, Goya als Wegbereiter der modernen Malerei zu verstehen und seine Stierkampfzyklen mit denen von Picasso zu vergleichen.
Im Frühjahr 1976, ein paar Wochen vor dem Abitur, hatte Götz, ein Freund meines Bruders, mir spontan angeboten, bei ihm »in Klausur« zu gehen. Seine Eltern hatten ihm eine Wohnung direkt am Wiesbadener Kurpark überlassen. Sie war heller und vor allem ruhiger als mein bisheriges WG-Zimmer, dessen meterhohe Stuckdecke ich gerade erst in Dunkelrot und Gelb gestrichen hatte. Ich zog mich in mein neues Zimmer zurück, freute mich über meine luxuriösen Lebensumstände und lernte.
Dass ich Sitzfleisch hatte, war eine neue Erfahrung für mich. In den Abiturprüfungen schrieb ich Zweien und sogar Einsen, doch meine schlechten Noten aus den Vorjahren vermiesten mir den Schnitt. Mit fünf hatte ich keinen Zweifel gehabt, dass ich einmal Ärztin werden würde, nun schloss der Numerus clausus, gegen den wir lautstark auf die Straße gegangen waren, ein Medizinstudium in Deutschland aus. Daran änderten auch die Beteuerungen von Kanzler Helmut Schmidt nichts, der den Wählern angekündigt hatte, die »unsinnigen« Zugangsbeschränkungen »alsbald auszusetzen«, weil »die Hochschulen offen sein sollen«.4 Der NC erwies sich als zäh, bis heute.
Nur drei meiner Klassenkameraden nahmen im Herbst ein Studium auf. Ich haderte nicht. Meinen Vater vor Augen, den ewigen Studenten, kam es mir gerade recht, mich auf ein anderes Ziel festzulegen. Mittelamerika war meine Region der Sehnsucht. María aus Honduras, die für ein Schüleraustauschjahr nach Wiesbaden gekommen und zum Studium geblieben war, versicherte mir, dass ich in ihrem Elternhaus jederzeit willkommen sei. Bei Großmutti Ilses Nichten in Venezuela hatte ich eine weitere Anlaufstelle. Seit einiger Zeit nahm ich deshalb Spanischstunden.
Ein paar Wochen vor dem Abitur schnappte ein Mädchen aus meinem weiteren Schulfreundeskreis einen beiläufigen Schulhofklatsch über meine Reisepläne auf. Ich kannte sie nur vom Sehen. Auf dem Pausenhof passte sie mich ab. Sie wolle nach Mexiko fliegen, sagte sie. Auf den Spuren der Maya, Inka und Azteken. Unbedingt die Sonnenpyramide. Ob wir nicht gemeinsam fahren könnten? Sie klang so schüchtern, als müsste sie sich zu jedem Wort überwinden. Das hätte mich warnen können. Warum nicht, antwortete ich spontan, als gäbe es eine Verpflichtung, ihr die Sorge vor einer Abfuhr zu nehmen. Mexiko als erste Station meiner Reise. Warum nicht! Das war oft in meinem Leben mein Antrieb. Was soll schon schiefgehen …
Mein Reisebudget besserte ich als Tippkraft auf. Seit ich für die Schülerzelle Flugblätter getippt hatte, immer unter Zeitdruck, fühlte ich mich an der Schreibmaschine sicher. Meine Vorfreude trug mich für einige Wochen durch die Monotonie der Arbeit. Parallel schrieb ich mich an der Frankfurter Goethe-Universität ein; Anthropologie, wusste mein Vater, war zulassungsfrei. Mein Antrag auf BAföG wurde für das erste Semester durchgewunken. Meine Mutter zahlte das Geld später zurück.
Eigentlich sollte die Reise drei Monate dauern. Nur meinen Bruder weihte ich ein, dass ich mir bereits zugestanden hatte, den Rückflug verfallen zu lassen. Wir nahmen uns vor, in Kontakt zu bleiben. Für alle Fälle räumte ich ihm Zugang zu meinem Konto ein.
Die ersten Wochen rauschten als Feuerwerk der Eindrücke an mir vorbei. Mexico City. Schon damals lebten dort achteinhalb Millionen Menschen. Besucher brauchen eine Weile, um sich 2400 Meter über dem Meeresspiegel zu akklimatisieren. Mehr als die Hälfte des Jahres nebelt dicke, schwüle Luft das Hochplateau ein, auf dem die Stadt gebaut ist. Die umliegenden Berge lassen wenig Zirkulation zu, Smogalarm gehört zum Alltag.
Es zog uns zur Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco, wo die spanischen Konquistadoren die Azteken in einem blutigen Gemetzel endgültig unterworfen und wo Polizei und Armee vierhundert Jahre später, genau zehn Tage vor Beginn der ersten Olympischen Sommerspiele in Lateinamerika, Anfang Oktober 1968, Hunderte protestierende Studenten ermordet...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 60er Jahre • 70er Jahre • Adolf Hitler • Autobiografie • Autobiografie Frauen • autobiografische bücher • Autobiographie • Bettina Göring • Bhagwan • bhagwan sekte • Bhagwan Shree Rajneesh • Biografie Frauen • Biografien Frauen • biografien nachkriegszeit • biografien ns zeit • bücher über die hippie zeit • bücher über die nazizeit • bücher über sekten • bücher über wahre lebensgeschichten • Buch Hippiezeit • Buch Nazizeit • deutsche Familiengeschichte • Deutsche Geschichte • Erinnerungen • Erinnerungskultur Deutschland • Erinnerungskultur Nationalsozialismus • Familiengeschichte • göring biografie • Hermann Göring • Hippie • Historische Biografien • Indien • Kriegsverbrecher • Melissa Müller • Memoiren • Nachkommen • Nachkommen der Nazis • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Nazi • Nazi-Deutschland • Nazi Familiengeschichte • Nazizeit • NS • NS Biografien • ns familiengeschichte • NS Geschichte • Nürnberger Prozesse • Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher • Poona • Reichsfeldmarschall • Sachbuch Gesellschaft • Sekte • spannende Biografien • Täterkinder • Traudl Junge • umgang mit der ns vergangenheit • vergangenheitsbewältigung nach 1945 • wahre Familiengeschichte |
ISBN-10 | 3-426-42816-4 / 3426428164 |
ISBN-13 | 978-3-426-42816-0 / 9783426428160 |
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