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In den Stürmen der Transformation (eBook)

Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU
eBook Download: EPUB
2022 | 1., Originalausgabe
419 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77311-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In den Stürmen der Transformation - Philipp Ther, Ulf Brunnbauer, Piotr Filipkowski, Andrew Hodges, Stefano Petrungaro, Peter Wegenschimmel
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Die gigantischen Kräne der Werften in Gdynia und in Pula waren bis vor Kurzem der Stolz dieser Städte. In Polen entstanden 300 Meter lange Ozeanriesen, in Kroatien Schiffe, auf denen Tausende Schafe lebend aus Neuseeland nach Europa transportiert werden konnten - Meerwasserentsalzungsanlage inklusive. Doch all der Erfindungsreichtum und das im Sozialismus eingeübte Improvisationstalent halfen nichts: Bald nach dem EU-Beitritt gingen die Werften pleite, auch weil in Brüssel das Wettbewerbsrecht mehr zählt als eine global orientierte Industriepolitik.

Das »Werftenkollektiv« um Ulf Brunnbauer und Philipp Ther taucht tief ein in den Alltag der beiden Betriebe. Die Sozialwissenschaftler und Historiker rekonstruieren ihren Niedergang und analysieren die große Transformation, die Europa seit den siebziger Jahren erschüttert.



<p>Philipp Ther, geboren 1967, ist ein deutscher Sozial- und Kulturhistoriker. Nach Stationen u. a. an der FU Berlin, der Viadrina in Frankfurt/Oder, an der Harvard University und am European University Institute in Florenz ist er seit 2010 Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Seine Bücher <em>Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa</em> (2011), <em>Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa</em> (2014) und <em>Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa</em> (2017) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, <em>Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent</em> u. a. mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2015. 2019 erhielt Philipp Ther den Wittgenstein-Preis, den höchstdotierten Wissenschaftspreis Österreichs.</p>

71. Auf Grund gelaufen: Die lange und große Transformation


Im polnischen Gdynia zeigt sich die Transformation von ihrer sonnigen Seite. Weiß und Blau sind die Farben dieser Stadt, der unzähligen Möwen, die am Himmel fliegen, der Segelschiffe, die zu Hunderten im Hafen liegen, der Segelschuhe ihrer sichtlich zufriedenen Besitzer. Sogar das Meerwasser ist nicht mehr trüb und muffelig wie zu Zeiten des Staatssozialismus, sondern blassblau und dank des Klimawandels spürbar wärmer als früher. Im alten Hafen von Gdynia wird kaum noch ent- und beladen, auch nicht produziert, sondern vor allem konsumiert. Die Angebotsökonomie der Ostseestadt hält für jeden Geldbeutel und Geschmack etwas bereit, von Fritten bis zur gehobenen mediterranen Küche, von kleinen Kappen für den Sonnenschutz bis zu weißen Leinenhosen, von billigen Privatzimmern im Hinterland bis zu einer Suite in einem der 38 Stockwerke des »Sea Tower«. Im Vergleich zu diesem 141 Meter hohen Wohnturm wirkt sogar das nahe Riesenrad winzig, das ebenfalls einen perfekten Blick über die Werftanlagen und den Hafen bietet, über den einst die illegalen Druck- und Kopiermaschinen geschmuggelt wurden, mit denen die Gewerkschaft Solidarność 1980/​81 von der Ostseeküste aus Anhänger im ganzen Land mobilisierte.

Heute legen täglich noch zwei, drei größere Fährschiffe an, dementsprechend sind die Kräne des Hafens und der Werft in den Hintergrund gerückt. Komplette Frachter und Tanker werden in Gdynia nicht mehr gebaut. Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/​09 und der damit einhergehenden Pleite der großen Werft Stocznia Gdynia S.A. beschränkt 8sich der Schiffbau auf kleinere Firmen sowie auf Spezialaufträge, Reparaturen und die Herstellung einzelner Komponenten wie Schiffsbrücken. Das kann, wie im zweiten Kapitel dieses Buches gezeigt wird, profitabel sein. Doch diese Firmen sind aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, »Kohle und Stahl«, das Paradigma der Trente Glorieuses im westlichen Europa sowie des Staatssozialismus, prägen die lokale und regionale Ökonomie nicht mehr.1

Den Umstieg auf Tourismus und Dienstleistungen mag man als gelungenen Strukturwandel sehen; in der Tat steht Gdynia bei ökonomischen Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, dem Wirtschaftswachstum oder der Arbeitslosigkeit besser da als beispielsweise Bremerhaven, Rostock und Teile des Ruhrgebiets.2 Doch die fast dreihundert Meter langen und turmhohen Schiffe, mit denen die Werft gemäß den Auftragsbüchern zum sechstgrößten globalen Schiffsproduzenten aufstieg, fehlen auch in einem weiteren Sinne. Sie waren Symbole der industriellen Moderne und Gegenstand ihrer »Lebenszyklusrituale«: Kiellegung, Stapellauf, die Schiffstaufe und die Jungfernfahrt ordneten die Arbeit auf den Hellingen und waren große öffentliche Ereignisse, bei denen die Verbindung der Werft mit der sie umgebenden Gesellschaft, oft auch der Politik, höhere Weihen erhielt. All das gehörte in der Volksrepublik Polen, als die Werft nach der Pariser Kommune benannt war, und in der folgenden Dekade, als sich die Stadt Gdynia und das gesamte Land zu einer Marktwirtschaft transformierten, zum Alltag am Meer. Die Schiffe standen für die Integration in die moderne Welt – ganz praktisch, da ungefähr neunzig Prozent des globalen Handelsvolumens per Schiff transportiert werden, aber auch symbolisch.3

Die Schiffbauer in Gdynia waren nach dem Ende des Kommunismus stolz auf eine scheinbar erfolgreiche Transformation, die ihnen die Tür in die EU öffnete. Doch nach der Börsen9krise und den Terroranschlägen von 2001 ging die Nachfrage im globalen Schiffbau kurzzeitig zurück. Der Beitritt Polens zur EU 2004 war ebenfalls folgenreich für die Schiffbauer an der Ostsee, denn er führte schon vorab zu einer schrittweisen Aufwertung des polnischen Złoty, was die Schiffe für internationale Kunden teurer und die Gewinnspanne kleiner machte. Außerdem galt mit dem EU-Beitritt nun auch in Polen ein neues wirtschaftspolitisches und regulatorisches Regiment: Die Brüsseler Wettbewerbshüter schoben staatlichen Beihilfen für defizitäre Industriebetriebe einen Riegel vor. Die restriktive Beihilfepolitik sollte unfaire Konkurrenz auf dem europäischen Binnenmarkt unterbinden, blendete dabei aber den globalen Wettbewerb aus, in dem nicht für alle Player dieselben Bedingungen gelten. Dies und nicht so sehr die globale Finanz- und Wirtschaftskrise führte direkt in den Bankrott der Werft in Gdynia im Jahr 2009.

Die ökonomischen Transformationen, die Gdynia nach dem Ende der Planwirtschaft und dem Beitritt Polens zur EU erlebte, spiegeln sich deutlich im Straßenbild: Aus der 250000 Einwohner zählenden Arbeiterstadt ist eine Touristenmetropole geworden. Man muss sehr weit in das Industriegebiet rund um das 1976 errichtete Trockendock fahren, um einen Arbeiter im Blaumann anzutreffen (in diesem Jahr wurde auch das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, Komitet Obrony Robotników, gegründet, eine Keimzelle der Gewerkschaftsbewegung Solidarność). Frauen sieht man dort so gut wie gar nicht mehr. Nach dem Wegfall der sozialistischen Arbeitsmarktpolitik waren Frauen in der Industrie nicht mehr gefragt. Umso mehr weibliche Beschäftigte sind in den vielen Dienstleistungsbetrieben anzutreffen, die in Gdynia nach 1989 wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden geschossen sind. Ist demnach der Umbruch von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft in Polen und im postkommunistischen Europa nichts 10anderes als eine wie im Zeitraffer verlaufende nachholende Entwicklung, quasi ein verspäteter Strukturwandel, analog zu jenem in Westeuropa? Wir werden in diesem Buch argumentieren, dass die postsozialistische Transformation nicht nur spürbar schneller und chaotischer verlief als der von Lutz Raphael untersuchte Strukturwandel in Westeuropa, sondern aufgrund der Breite und Tiefe des Wandels auch seine eigene Qualität hatte.

11Karte 1: Lokalisierung der beiden Fallstudien.

Die speziellen Dynamiken und Ambivalenzen der postsozialistischen Transformation, ihre spezifischen Logiken sowie Folgen für die gesamte EU lassen sich besser verstehen, wenn man mehr als einen Standort und ein Land untersucht.

Auch im kroatischen Pula im Süden der Halbinsel Istrien, unserer zweiten Fallstudie, können Touristen stillstehende Kräne einer einst großen, stolzen Werft bestaunen. Sie hieß Uljanik und produzierte 163 Jahre lang Schiffe, bis sie 2018 pleiteging. Aufgrund der zentralen Lage der Kräne direkt vor der Altstadt entschied sich die Stadtverwaltung für eine ästhetische Aufwertung. Am Abend werden die Kräne bunt beleuchtet und bestimmen nun zusammen mit dem perfekt erhaltenen Augustus-Tempel und dem römischen Amphitheater die touristische Kulisse.

12Abb. 1: Die Werft Uljanik in der Bucht von Pula (1962). Die Docks und Schweißhallen auf der namengebenden Oliveninsel (vom italienischen olivio) bildeten das Herz der Werft.

Es ist kein Zufall, dass der zeitliche Abstand der Insolvenzen der beiden Werften zum EU-Beitritt Polens und Kroatiens in den Jahren 2004 bzw. 2013 nahezu gleich ist. In beiden Fällen machten die geänderten Rahmenbedingungen, insbesondere die stringenten EU-Wettbewerbsregeln, das bisherige Geschäftsmodell obsolet, sich im Notfall oder auch über längere Strecken von der Staatskasse alimentieren zu lassen. Ging die schwerindustrielle sozialistische Moderne also erst mit der Mitgliedschaft zum europäischen Binnenmarkt zu Ende? Anhand der beiden Fallstudien, die sowohl eine konkrete Verortung des Transformationsprozesses als auch die Untersuchung seiner globalen Verlinkungen erlauben, formulieren wir die These, dass der EU-Beitritt zwar nicht das »Ende der Geschichte«, aber das Ende des Postsozialismus einläutete.

Für Kroatien bedeutet die Pleite der Werft in Pula im Jahr 2018 (und parallel dazu einer zweiten großen Werft in Rijeka, die zum selben Konzern gehörte) einen weit härteren volkswirtschaftlichen Schlag als für Polen. Der Schiffbau machte zu seinen guten Zeiten einen erheblichen Teil der kroatischen Industrieproduktion aus und erwirtschaftete mehr als ein Zehntel der Exporteinnahmen des Landes, das unter einer notorisch negativen ...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Container • Deinstrustialisierung • edition suhrkamp 2798 • ES 2798 • ES2798 • EU • Europäische Union • Logistik • neues Buch • postindustriell • Preis der Leipziger Buchmesse 2015 • Richard G. Plaschka-Preis 2006 • Wittgenstein-Preis 2019
ISBN-10 3-518-77311-9 / 3518773119
ISBN-13 978-3-518-77311-6 / 9783518773116
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