New Work (eBook)
268 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45103-9 (ISBN)
Christine Thiel, Dr. phil., promovierte an der Universität München über ortsunabhängiges Arbeiten. Sie arbeitet remote als Community- und IT-Projektmanagerin bei einem Münchner Karrierenetzwerk.
Christine Thiel, Dr. phil., promovierte an der Universität München über ortsunabhängiges Arbeiten. Sie arbeitet remote als Community- und IT-Projektmanagerin bei einem Münchner Karrierenetzwerk.
II.Strukturen der Szene
2Drei Perspektiven auf die Szene
»Die digitalen Nomaden-Szene ist eine Szene, weil sie die Merkmale einer Szene erfüllt: gemeinsame Treffen, ein Set von Einstellungen, Freiheitsliebe, Faszination von anderen Kulturen, und eine gewisse Affinität zu Online. Der Drang nach einem selbstbestimmten Leben, der Drang, sich nicht wiederzufinden in Konzernjobs oder solchen Dingen, und eine gewisse Risikofreude.« (Interview: Erwin, 12. 1. 2017, München)
Zur Beschreibung der digitalen NomadInnenszene greife ich auf Ronald Hitzlers Konzept der Szene als Interaktionsgeflecht zurück. Dieses beschreibt Szenen als diffuses, dynamisches und fluides, und dennoch strukturiertes Netzwerk (vgl. Hitzler et al. 2001). Hitzlers Szenekonzept bietet sich als Gliederungsschema an, da das Netzwerk der digitalen NomadInnen-Szene zuvorderst durch Interaktionen der AkteurInnen sowohl online als auch offline entsteht, und durch diese aufrechterhalten und weiterentwickelt wird. Der Netzwerkbegriff impliziert eine gewisse Strukturhaftigkeit, ein
»Arrangement von Akteuren, die einerseits bestimmte, sozusagen dem unabdingbaren Kern der szenischen Kultur angehörende mentale Dispositionen und materiale Ausdrucksformen teilen, andererseits aber aufgrund bestimmter Stilrichtungen bzw. Ausprägungen eben dieser mentalen Dispositionen und Ausdrucksformen unterschiedliche Positionen, Motive und Kompetenzen innehaben.« (Hitzler et al. 2001: 212)
Mithilfe Hitzlers Szenekonzept kann die Komplexität der Positionen und Perspektiven im Feld erklärt und eingeordnet werden. Das Konzept ermöglicht es, das Arrangement der AkteurInnen zu fassen, indem es ein Gliederungsschema anbietet, das die SzenegängerInnen in Szene-Eliten, Szenekern und Szenepublikum einteilt. Dieses Schema übernehme ich, modifiziere es jedoch hinsichtlich der Bezeichnung der Szene-Eliten. Statt von Szene-Eliten spreche ich in dieser Arbeit von Ikonen, wie bereits an den Ausführungen in den vorherigen Kapiteln deutlich wurde. Der Begriff stammt aus dem Feld, und bezeichnet die Vorreiterrolle, Meinungsführerschaft und die monetär elitäre Stellung der Ikonen Conni Biesalski, Tim Chimoy, Felicia Hargarten und Marcus Meurer innerhalb der Szene. Darüber hinaus verweist die Ikonenmetapher darauf, dass die Ikonen über eine auratische Ausstrahlung und Anziehungskraft verfügen, aufgrund derer die SzenegängerInnen ihnen folgen (vgl. Kapitel 3.1 Zusammenhalt im Inneren: Ikonen als Identifikationsfiguren). Auch der Szenekern verfügt über Bekanntheit in der Szene. Die Mitglieder des Szenekerns stehen, um mit Hitzler zu sprechen, »auf der (nicht selten medial erzeugten) Bühne« (Hitzler et al. 2001: 214). Das Szenepublikum nimmt aktiv am Szene-Geschehen teil oder verfolgt die Geschehnisse eher passiv über virtuelle Kanäle (vgl. Kapitel 3.2 Binnendifferenzierungen: Szenekern und Szenepublikum).
Zugleich kann das Feld der digitalen NomadInnen als Ort sozioökonomischer Aushandlungsprozesse und damit als Markt betrachtet werden. Die Geschäftsmodelle der Szene-Ikonen und der meisten SzenegängerInnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Lebensstil der digitalen NomadInnen an andere digitale NomadInnen vermarkten. Ich beschreibe die Szene deshalb als selbstreferenziellen Markt. Den Begriff entlehne ich von Holm Friebe und Sascha Lobo, die diesen zur Beschreibung der Marktstrukturen in den Zirkeln der digitalen Bohème verwendeten (vgl. Friebe/Lobo 2006). Selbstreferenzielle Märkte entstehen den beiden Autoren zufolge dadurch, dass
»Menschen, die an etwas teilhaben und langfristig selbst davon profitieren wollen, […] häufig die besten Kunden [sind]. Sie tragen so – ähnlich einer selbsterfüllenden Prophezeiung – dazu bei, dass die Märkte, von denen sie selbst einmal leben möchten, überhaupt erst entstehen.« (Friebe/Lobo 2006: 143)
Übertragen auf das Feld der digitalen NomadInnen bedeutet dies: Entstanden ist der Szenemarkt durch die Vermarktung des Lebensstils mobiler WebworkerInnen an (künftige) WebworkerInnen. Die KundInnen der meisten WebworkerInnen sind selbst mobile WebworkerInnen (oder wollen es werden). Den daraus entstehenden Szenemarkt verstehe ich aufgrund der Vermengung von Szene- und Marktstrukturen als sozialen und kulturellen Raum, an dem Zuschreibungen und Aushandlungen von Bedeutung und Wert stattfinden, und an dem um Deutungs- und Handlungsmuster gerungen wird. Dabei werden soziale Zusammenhänge über Wahlhandlungen der MarktteilnehmerInnen hergestellt, die auf Preise, Transaktionen und Wettbewerb ausgerichtet sind. Der Markt wird damit zu einem sozialen Spielfeld, auf dem nicht weniger als eine szenespezifische soziale Ordnung erzeugt und verhandelt wird (vgl. Foucault 2004b; Bourdieu/Schwibs 2007; Bröckling 2015; Manske 2009). Diese Ordnung bezeichne ich nach Ulrich Bröckling als »Klassengesellschaft der Entrepreneure« (Bröckling 2015: 14). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass zwar alle »im Wettbewerb« um eine ähnliche Zielgruppe stehen, aber nicht »in der gleichen Liga« spielen: »Ein Abstieg aus den höheren Klassen mag erniedrigend sein, weiter unten geht es im Extrem ums schiere Überleben« (Bröckling 2015: 14). Bröcklings Ligen-System deckt sich weitestgehend mit Hitzlers Gliederungsschema. Es veranschaulicht zusätzlich die starken monetären Hierarchien, die das Feld der digitalen NomadInnen charakterisieren (vgl. Kapitel 4.2 »Klassengesellschaft der Entrepreneure«: monetäre Szenehierarchien).
Eine dritte Perspektive auf das Feld bildet die Denkrichtungen im Feld ab, die die Ikonen als Vorreiter und MeinungsführerInnen in die Szene getragen haben. Die Denkrichtungen bilden zugleich die von den Ikonen bearbeiteten Marktsegmente ab. Da die Ikonen als Persönlichkeiten im Fokus stehen, und die Marktsegmente jeweils mit einer der Ikonen verbunden sind, spreche ich von »Denkschulen«. Den Begriff »Denkschulen« nutze ich zur Klassifikation der Denkrichtungen, die sich vornehmlich an den Bildern und Diskursen ausrichten, die die Ikonen initiierten. So spricht die Denkschule des Paares Felicia Hargarten und Marcus Meurer primär diejenigen an, die sich noch nicht oder gerade eben aus der Festanstellung befreit haben. Ihre AnhängerInnen befinden sich dementsprechend in der Planungs- und Initiierungsphase ihres mobilen Business-Konzeptes. Dagegen richtet sich Tim Chimoy primär an diejenigen, die sich bereits in der Konsolidierungsphase sowohl ihres Business als auch des mobilen Lebensstils befinden. Conni Biesalski bearbeitet das dritte Marktsegment. Sie bringt digitales NomadInnentum mit Spiritualität, Yoga und Meditation zusammen. Zur Bearbeitung ihrer jeweiligen Marktsegmente haben die Ikonen jeweils eigene Geschäftsmodelle und Strategien entwickelt.
3Szene als Interaktionsgeflecht
3.1Zusammenhalt im Inneren: Ikonen als Identifikationsfiguren
Als Ikonen verfügen Conni Biesalski, Tim Chimoy, Felicia Hargarten und Marcus Meurer über medial vermittelte Bekanntheit und Anerkennung in der Szene, wie ich in diesem Kapitel anhand von Stimmen der SzenegängerInnen zeigen werde. Sie stehen für die Demonstration der Machbarkeit des ortsunabhängigen Lebens und Arbeitens, und nehmen eine Vorreiterrolle im Feld der deutschsprachigen digitalen NomadInnen ein. Die Szene halten sie über die Administration digitaler Plattformen und die Organisation von Szene-Events zusammen. Dazu zählen Blogs und Facebook-Gruppen für die WebworkerInnen, Konferenzen und Co-Workations11. Auf solchen virtuellen und analogen Plattformen wird, wie der Szeneforscher Ronald Hitzler betont,
»›greifbar‹ bzw. festgemacht, was ansonsten eben nur nebulös existiert: die Szene, die sich von Ereignis zu Ereignis immer wieder neu zu erschaffen vermag und deren Ereigniskette letztlich doch im Strom der Zeit abzusinken droht.« (Hitzler et al. 2001: 217)
Die Ikonen gelten als TrendsetterInnen und MeinungsführerInnen und beeinflussen maßgeblich die Szene-Entwicklung, indem sie die Szenekultur reproduzieren und weiter vorantreiben (vgl. Hitzler et al. 2001). Als »Kenner« reflektieren sie »über die Qualität von Treffpunkten und über das Geschehen bei Events, thematisieren Szene-Entwicklungen, stellen Szeneaccessoires vor und charakterisieren Szenepersönlichkeiten« (Hitzler et al. 2001: 217).
Die Ikonen werden durch ihre AnhängerInnen überhaupt erst zu Ikonen erhoben. Ohne sie würde deren Selbstinszenierung und Stilisierung auf ihren Blogs und Events als kulturelle...
Erscheint lt. Verlag | 27.12.2021 |
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Reihe/Serie | Arbeit und Alltag | Arbeit und Alltag |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Ethnologie |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Künstler • mobiles Arbeiten • Mobilität • Neokapitalismus • Netzwerk • Selbstbestimmung • Selbstverwirklichung • Sinnstiftung • Webworker |
ISBN-10 | 3-593-45103-4 / 3593451034 |
ISBN-13 | 978-3-593-45103-9 / 9783593451039 |
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Größe: 721 KB
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