Olaf Scholz - Wer ist unser Kanzler? (eBook)
176 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491614-9 (ISBN)
Mark Schieritz, geboren 1974, studierte Politik und Volkswirtschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der London School of Economics, wo er auch seinen Abschluss machte. Seine journalistische Karriere begann er bei der »Financial Times Deutschland«, für die er die Finanzmarktredaktion verantwortete. Heute ist Schieritz wirtschaftspolitischer Korrespondent im Hauptstadtbüro der »ZEIT«. Er lebt in Berlin.
Mark Schieritz, geboren 1974, studierte Politik und Volkswirtschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der London School of Economics, wo er auch seinen Abschluss machte. Seine journalistische Karriere begann er bei der »Financial Times Deutschland«, für die er die Finanzmarktredaktion verantwortete. Heute ist Schieritz wirtschaftspolitischer Korrespondent im Hauptstadtbüro der »ZEIT«. Er lebt in Berlin.
Seinen Vorteil spielt Schieritz (…) aus, wenn er den Politikstil und die Inspirationsquellen des Kanzlers analysiert und ihn als typischen Vertreter seiner Alterskohorte einordnet
So gewinnt Scholz (…) als politisches Wesen Konturen.
Wer den homo politicus Olaf Scholz besser verstehen will, dem sei das Buch empfohlen.
Eine überzeugende Analyse, die rekonstruiert, wie Scholz wurde, was er ist.
2 Agenda
Am 14. März 2003 – einem Freitag – gegen neun Uhr morgens nimmt Olaf Scholz im Bundestag Platz. Gerhard Schröder will eine Rede halten. Schröder ist Bundeskanzler und Parteichef der SPD, Scholz sein Generalsekretär. Die Lage ist ernst. Mehr als vier Millionen Bundesbürger sind ohne Arbeit, die Wirtschaftsleistung schrumpft, die staatliche Schuldenquote steigt. Die britische Wirtschaftszeitung »The Economist« bezeichnet Deutschland als den »kranken Mann Europas«. »Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!«, beginnt Schröder seine Rede. »Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen. Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung verbessern. Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.«
Fast 90 Minuten spricht Schröder zu den Abgeordneten. Seine Regierungserklärung ist das Startsignal für ein umfangreiches Paket von Sozialreformen, die als Agenda 2010 in die Geschichte eingegangen sind: Der Kündigungsschutz wird gelockert, die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen gekürzt, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds gesenkt. Vor allem aber wird die bisherige Arbeitslosenhilfe abgeschafft und mit der Sozialhilfe zu einer neuen Hilfsleistung fusioniert: Hartz IV. Wie kaum eine andere Politikmaßnahme steht die Einführung von Hartz IV für den Rückzug des Staats aus seiner sozialen Verantwortung. Denn von nun an gilt: Wer länger ohne Arbeit ist, hat nur noch Anspruch auf eine staatlich festgelegte Mindestsicherung. Dadurch hat sich vor allem die finanzielle Situation von Langzeitarbeitslosen erheblich verschlechtert. Auch die Abstiegsängste in der Mittelschicht nehmen zu. Denn die Neuregelung sieht vor, dass das eigene Vermögen für den Lebenserhalt herangezogen werden muss, bevor der Staat einspringt. Was die Eigenverantwortung stärken soll, bedeutet für viele Menschen: Im Zweifel ist nicht nur die Arbeit weg, sondern auch das Ersparte.
Die Agendareformen werden in der Wirtschaft bejubelt, in der Bevölkerung kommen sie nicht gut an. In vielen deutschen Städten gingen die Menschen massenweise auf die Straße, um gegen eine als Sozialabbau wahrgenommene Politik zu demonstrieren. Das stürzt die SPD in eine schwere Krise, die auch das deutsche Parteiensystem verändert. Am 22. Januar 2005 wird in Göttingen von enttäuschten Sozialdemokraten eine neue Partei gegründet. Ihr Name: Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative. Sie fusioniert mit der PDS, die aus der Staatspartei der DDR hervorgegangen ist. Die neue Partei nennt sich Die Linke. Die Führung übernimmt Oskar Lafontaine, der unter Schröder zunächst Finanzminister war und dann aus Protest gegen die Regierung sein Amt hinwarf. Als Schröder nach dem Verlust einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die Vertrauensfrage stellt und der damalige Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag auflöst, holt die Linkspartei 8,7 Prozent der Wählerstimmen und zieht mit 54 Abgeordneten in den Bundestag ein. Die SPD hingegen verliert 4,3 Prozentpunkte. Die Sozialdemokraten verlieren das Kanzleramt und werden Juniorpartner in einer großen Koalition mit der Union. Die Agendajahre sind für das Verständnis des politischen Denkens von Olaf Scholz zentral. Denn was damals in Deutschland passierte, war kein nationaler Alleingang, sondern Teil einer weltweiten Neujustierung der Grenzen zwischen Markt und Staat.
Die ersten Nachkriegsjahre zeichnen sich in fast allen westlichen Gesellschaften durch ein hohes Maß an staatlicher Kontrolle der Wirtschaft aus. In den Vereinigten Staaten werden Topverdiener deutlich stärker als heute zur Kasse gebeten. Der Spitzensteuersatz liegt bis in die sechziger Jahre hinein bei über 90 Prozent – in der obersten Einkommensklasse müssen also von jedem zusätzlich verdienten Dollar mehr als 90 Cent an den Fiskus abgetreten werden. Ganz ähnlich ist die Lage in Großbritannien. Dort betrug der Spitzensteuersatz nach dem Krieg 75 Prozent, für Gewinne aus Kapitalanlagen galten sogar noch höhere Raten. In Deutschland werden Spitzenverdiener zunächst mit 80 Prozent besteuert. Die Daseinsvorsorge ist weitgehend in öffentlicher Hand: Bei der Post und der Bahn arbeiteten Staatsbeamte, es gibt genau eine Telefongesellschaft, und die Lufthansa ist ein Staatsunternehmen. Der Einfluss des Staates zeigt sich auch in der Finanzwirtschaft. Die internationalen Kapitalmärkte sind streng reguliert, die Banken ebenfalls, die Währungen der großen Volkswirtschaft schwanken nicht frei, sondern sind in festen Austauschverhältnissen aneinandergekoppelt.
Die wirtschaftspolitische Philosophie jener Jahre ist untrennbar mit dem Namen John Maynard Keynes verbunden. Der 1883 in Cambridge geborene Wirtschaftswissenschaftler war einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Er beriet die britische Regierung und nahm an den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg teil. Nebenbei war er ein erfolgreicher Börsenspekulant und interessierte sich für Kunst und Literatur. Keynes argumentierte, dass Volkswirtschaften zur Instabilität neigen, wenn man sie sich selbst überlässt. In einem wirtschaftlichen Abschwung halten die Haushalte aus Angst vor dem Jobverlust ihr Erspartes zusammen, und die Unternehmen investieren nicht mehr. Dadurch verstärkt sich der Rückgang der Wirtschaftsleistung. Es wird schließlich noch weniger Geld ausgegeben und weniger produziert. Denn wozu eine Maschine anwerfen, wenn die fertige Ware doch nur im Lager landet? Am Ende werden noch mehr Arbeitsplätze gestrichen, denn wenn die Maschine ohnehin nicht läuft, muss sie auch niemand bedienen. In einem Aufschwung ist es umgekehrt: Die Leute kaufen mehr ein, die Unternehmen werfen ihre Maschinen an und schreiben neue Stellen aus. Irgendwann laufen alle Maschinen auf Hochtouren, und alle, die arbeiten wollen, haben Arbeit. Um ihre Arbeitskräfte zu halten, müssen die Unternehmen ihnen höhere Löhne bieten. Damit sie trotz der steigenden Lohnkosten keine Verluste machen, erhöhen sie die Preise. Die Inflationsrate steigt. Keynes sah sich durch die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre in seinen Annahmen bestätigt. Damals war ein Viertel der Amerikaner ohne Job, und in Europa machte sich der Faschismus breit.
Nach Ansicht von John Maynard Keynes muss deshalb der Staat die Schwankungen der Konjunktur ausgleichen. Im einfachsten Fall: im Abschwung mehr Geld ausgeben, um die Wirtschaft zu stützen. Und im Aufschwung weniger, um sie abzubremsen. Das Symbol dieses Politikverständnisses ist das am 8. Juni 1967 in Kraft getretene »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft«. Dieses Gesetz legt vier Ziele für die Politik fest, an denen sich die Wirtschaftspolitik ausrichten soll: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Genauso hatte sich das Keynes vorgestellt. Das Gesetz wird von der ersten großen Koalition der Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht, die nach dem Rücktritt von Ludwig Erhard als Bundeskanzler am 30. November 1966 die Arbeit aufgenommen hat. Es ist eine Zeit, in der das Bruttoinlandsprodukt erstmals seit den Boomjahren des Wirtschaftswunders stagniert und die Zahl der Arbeitslosen steigt. Und das will die Regierung nicht hinnehmen.
In der Regierung ist Karl Schiller für das Projekt zuständig. Schiller wächst in Kiel auf, nach dem Krieg wird er Professor für Volkswirtschaft an der Universität Hamburg. Mit dem Eintritt in die SPD im Jahr 1946 begann seine politische Karriere. Er wird 1948 Wirtschaftssenator, zunächst in Hamburg und später in Berlin. In der Koalitionsregierung übernimmt er das Amt des Wirtschaftsministers. Es gibt ein Foto aus dem Jahr 1971, das ihn auf der Frankfurter Frühjahrsmesse zeigt, wie er einen alten Maschinentelegraphen bedient. Das ist ein Hebelapparat, mit dem früher zum Beispiel von der Schiffsbrücke Kommandos an die Maschinisten übermittelt wurden. Das gewünschte Tempo wurde mit einem Hebel eingestellt, daraufhin ertönte im Maschinenraum das entsprechende Klingelsignal. So wie ein Schiff von der Brücke gesteuert werden kann, so soll nach den Vorstellungen Karl Schillers der Staat die Wirtschaft steuern. Die deutsche Konjunktur nimmt im Jahr 1967 tatsächlich wieder Fahrt auf. Und auch wenn das nicht nur an den staatlichen Maßnahmen liegt, tragen diese dazu bei, dass sich die Lage bessert. So wird das jedenfalls in weiten Teilen der Öffentlichkeit gesehen. Und die SPD ist auf einmal die Partei des Aufschwungs und der Wirtschaftskompetenz. Oder wie es der Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Arne Heise formuliert: »Eine breite und durchweg positive mediale Berichterstattung über wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklungen verfestigte diesen Eindruck und verknüpfte ökonomische Kompetenz und Vertrauen untrennbar mit Wirtschaftsminister Karl Schiller und seiner Sozialdemokratie, die zunehmend...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
Schlagworte | Ampelkoalition • Angela Merkel • Bundeskanzler • Bundesregierung • Bundestag • Bundestagswahl • Bürgermeister Hamburg • Cum-Ex-Skandal • Debattenbuch • Die Grünen • Finanzminister • Kanzlerin • Kanzlerkandidat • Politik • Politikerbuch • Regierung • Sozialdemokrat • SPD • Zeit |
ISBN-10 | 3-10-491614-4 / 3104916144 |
ISBN-13 | 978-3-10-491614-9 / 9783104916149 |
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