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Mit meinen Händen (eBook)

Vom Glück, etwas selbst zu machen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
144 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01189-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mit meinen Händen -  Siri Helle
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Als sie eine kleine Hütte im Wald erbt, findet Siri Helle zu ihren Händen und dem Glück praktischer Arbeit zurück. Sie sägt, hämmert, schnitzt - und wird am Ende jedes schweißtreibenden Tages mit dem wunderbaren, befriedigenden Gefühl belohnt, etwas geschaffen zu haben. Ihr humorvoller Bericht zeigt, dass es nie zu spät ist, ein Handwerk - oder den Umgang mit der Kettensäge - zu lernen. Selbst für Menschen mit zwei linken Händen. «Ich würde nichts anderes lieber tun. Wenn ich beim Holzhacken in Schwung bin, wenn die Holzscheite, die Axt und ich unseren Rhythmus finden, kann ich ewig weitermachen. Die Arbeit erfüllt meinen Körper, die Wiederholungen erfüllen meinen Kopf, und gerade jetzt ist dies - mein eigenes Holz zu hacken - der Sinn des Lebens.»

Siri Helle, geboren 1982, ist Agrarwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Autorin, Journalistin, Tischlergehilfin und Ziegenhirtin.

Siri Helle, geboren 1982, ist Agrarwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Autorin, Journalistin, Tischlergehilfin und Ziegenhirtin. Anne von Canal, geboren 1973, war Autorin und Übersetzerin. Ihre schriftstellerische Arbeit wurde mit einem Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und zahlreichen internationalen Aufenthaltsstipendien ausgezeichnet. Bei rororo sind die mare-Lizenzen von «Der Grund» und «Whiteout» erschienen. Anne von Canal starb im Herbst 2022 an ALS.

Kapitel 1 In dem ich lerne, die Motorsäge zu lieben


Der Baum will nicht fallen. Ich bin allein bei der Hütte, und der große Baum direkt an der Hüttenwand will nicht. Ich ziehe mit aller Kraft und schlage alle Keile ein, die ich habe, aber der Baum rührt sich nicht. Und das Schlimmste von allem: Ich war so sehr damit beschäftigt, den Baum zu sichern, dass ich den Stamm ganz durchgesägt habe, sogar durch die Bruchkante. Die Kante, die ich zwischen die Fallkerbe und die Kopfkerbe gesetzt habe und entlang derer der Baum kontrolliert in die Richtung fallen soll, die ich vorgesehen habe, hat einen großen Teil eingebüßt. Mittendrin zum Glück, aber trotzdem: Der Baum steht, und ich habe keine Ahnung, wie groß die Fläche ist, auf der er steht. Verdammt.

 

Ich wusste, dass dieser Baum Schwierigkeiten machen würde, dass er nicht von ganz allein fallen würde. Dafür hatte er zu viele Äste auf der falschen Seite. Die Sitka-Fichte, die mein Großvater in der Nachkriegszeit so gewissenhaft gepflanzt hat, steht jetzt so dicht am Haus, dass weder Sonnenlicht durchkommt noch Platz für Äste ist. Die Äste können nicht anders, als aus dem Wald heraus hin zu den Wänden meiner Hütte zu wachsen. In diese Richtung kann ich den Baum nicht fällen.

 

Darum habe ich es immer wieder verschoben. Habe unter dem Baum gestanden, den Stamm umarmt und dabei nach oben geschaut, um den Schwerpunkt des Baums herauszufinden. Es könnte schlimmer sein, sagte ich mir, aber es könnte wahrlich auch besser sein. Außerdem muss ich wohl zugeben, dass dies der dickste Stamm ist, den ich hier oben bisher vor der Säge hatte: ungefähr einen halben Meter im Durchmesser, gerade so dick, dass ich mich nicht damit herausreden konnte, das Schwert meiner Motorsäge sei zu kurz. Den Baum zu fällen, sollte kein Problem sein. Ich durfte einfach nur keinen Fehler machen.

 

Die meisten würden meine Hütte als eine «richtige» Hütte bezeichnen. Sie ist rund 25 Quadratmeter groß, es gibt weder Strom noch fließend Wasser, und man kann nicht mit dem Auto hinfahren. Als mein Großvater, Steinar Helle, sich für diesen Ort entschied – den Berg hinter Holmedal, meinem Heimatort am Dalsfjord –, baute er eine richtige Berghütte. Mit Panoramaaussicht und allem, was dazugehörte.

So sieht es heute nicht mehr aus. Jetzt ist es eher ein verhutzeltes Häuschen. Aber die Hütte ist so schön. Die zwei Kilometer und 300 Höhenmeter, die man von der Straße aus überwinden muss, um herzugelangen, reichen aus, um die Herzfrequenz ein bisschen hoch- und den mentalen Puls runterzufahren. Und trotzdem schafft man es, alles, was man braucht, hier hinaufzutragen.

Die Hütte liegt an einem Fluss, der immer genug Wasser zum Baden führt, manchmal so viel, dass man nicht auf die andere Seite kommt. Es ist das frischeste Wasser, das ich mir vorstellen kann. Drinnen gibt es einen Feuerherd zum Kochen und Heizen, einen Kamin, handgemachte Hüttenmöbel, die engste Küche der Welt und viel zu viele alte Paraffinlampen, die ich weder wegschmeißen noch gebrauchen kann.

Ich erbte die Hütte, als mein Vater starb, aber es vergingen viele Jahre, ehe ich begriff, welchen Schatz er mir hinterlassen hatte. Doch in den vergangenen sechs, sieben Jahren habe ich mich an keinem anderen Ort so zu Hause gefühlt wie hier. Vielleicht weil ich mir etwas vorgenommen habe: Großvater hat zwar den Baum gepflanzt, aber er wäre ebenfalls der Meinung, dass er seinen Zweck erfüllt hat. Er kann weg. Es ist an der Zeit, die Aussicht und das Sonnenlicht zurückzuholen.

 

Außerdem ist meine Hütte ein Teil meines kleinen Familienkapitels unserer Industriegeschichte. Mein Großvater hat die Hütte nicht selbst gebaut. Sie war ein Schulprojekt der Tischlerschule, die es früher einmal in Holmedal gab. Die fertige Hütte sollte im Dorf verlost werden, und eigentlich war Großvater gar nicht der Gewinner, sondern jemand anderer. Da spielte Steinar Helle seine Trumpfkarte aus: sein Status. Großvater war Fabrikdirektor, und wenn der Fabrikdirektor die Hütte haben wollte, dann bekam er sie auch.

Dass aus Großvater ein Fabrikdirektor werden würde, war alles andere als abzusehen gewesen. Eigentlich war er nach Amerika ausgewandert. Das Coolste, was ich meinen Freunden als Kind zeigen konnte, war die inzwischen verplombte Pistole, die mein Opa trug, als er zu Al Capones Zeiten als Hafenarbeiter in Chicago arbeitete.

Großvater war in den USA, während meine Großmutter zu Hause geblieben war. Sie war Lehrerin in Holmedal. Doch sie sollte nachkommen. Der Sage nach war das Ticket bestellt und der Koffer bereits gepackt, als der Brief eintraf: Amerika war in der Krise, der berühmte Crash. Steinar hatte seine Arbeit verloren, sie sollte bleiben, wo sie war, er würde nach Hause kommen. Dieser Brief wurde der wichtigste Brief meines Lebens. Wäre er nur ein paar Tage später angekommen, wäre Großmutter wahrscheinlich schon unterwegs gewesen und drüben geblieben, der Krise zum Trotz, und ich wäre nie geboren worden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Steinar kam also nach Hause. Mit leeren Taschen und ohne Aussicht auf Arbeit. Das Gleiche galt auch für seinen Bruder Sigmund, der den Hof der Familie betrieb. «Myra» hieß der Hof, und er konnte die Familie nicht ausreichend versorgen. Doch auf dem Hof gab es eine Schmiede, und ihr Vater, der Dorfschmied gewesen war, hatte die Brüder das Handwerk gelehrt.

Also begannen sie zu schmieden. Messer. Sie stellten Schäfte und Schneiden her und verkauften sie. Erst vor Ort, dann eröffneten sich größere Märkte. Großvater packte sich die Taschen seines Fahrrads voll mit Messern, schwang sich in den Sattel und strampelte davon, über die Berge bis in die Hauptstadt. Dort verkaufte er die Messer für 40 Øre das Stück. Und der Verkauf lief gut. Großvaters Geldbeutel war satt gefüllt, als er heimwärts radelte, so satt, dass er sich unterwegs eine Übernachtung im Wirtshaus gönnte, oben im Hochgebirge. Den Geldbeutel verstaute er unter dem Kopfkissen, dort sollte er sicher sein.

Am nächsten Morgen stand er auf, stieg auf sein Rad und rollte bergab. Unten angekommen, wollte er sich eine Tasse Kaffee kaufen und griff nach seiner Börse – aber sie war nicht da. Sie lag noch immer dort, wo er sie so sicher versteckt hatte: unter dem Kopfkissen oben auf dem Berg. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wieder hochzustrampeln und sie zu holen.

Endlich zu Hause, hatte er zudem noch eine Bestellung über 200 Messer im Gepäck. Der Jubel soll groß gewesen sein. Und es ist bis heute eine gute Geschichte.

 

Meine Großeltern waren beide schon lang verstorben, als ich geboren wurde, aber durch Geschichten wie diese waren – sind – sie mir trotzdem nah. Ich bin mit der Messerfabrik groß geworden, die längst aus der kleinen Hofschmiede in das Gebäude der ehemaligen Butterfabrik in Holmedal umgezogen war. Die Fabrik, die damals wie heute die berühmten Helle-Messer herstellt, beschäftigte meist um die hundert Menschen.

Nach der Schule ging ich gerne dorthin, erst zu meinem Vater, Svein, ins Büro – er hat die Firma von seinem Vater übernommen und wurde ebenfalls Fabrikdirektor. Manchmal fiel bei ihm ein Stückchen Schokolade aus einer Zigarrenkiste für mich ab. Doch am spannendsten war es, durch die schweren Türen runter in die Fabrik zu gehen.

Ich erinnere mich, dass es dort rot glühend und heiß, aber trotzdem sauber war. Es knisterte und staubte und roch, hauptsächlich nach Stahl – das ist für mich noch immer der Geruch meiner Kindheit –, aber, wo sie die Schäfte herstellten, auch nach Holz, und dort, wo sie die Scheiden fertigten, roch es nach Leder. Leinöl. Tabak. Pulverkaffee. In meinem Kopf trugen die Männer, die dort arbeiteten, karierte Hemden und Lederschürzen, und auch die Innenseiten ihrer Hände waren wie Leder, Hände, die, ohne Schaden zu nehmen, die immer schärfer werdenden Messer so gut wie überall anfassen konnten.

Am eindrücklichsten aber waren die Geräusche. «Kadunk, kadunk.»

Der Fallhammer stand allein in einer Ecke, doch für mich war er das Zentrum der Fabrik. «Kadunk, kadunk-dunk», machte er wieder und wieder, «kadunk, kadunk-dunk», schlug er auf den Stahl, und aus dem Stahl kam die Messerschneide, viereckig und unbrauchbar noch, aber der Anfang war gemacht.

 

Ich wurde 1982 geboren. Allein seit ich lebe, hat sich in Norwegen sehr viel verändert. Fabrikgeräusche sind verschwunden, dreißig Prozent der Stellen in der Festlandsindustrie (das Öl also nicht eingerechnet) sind weggefallen. Im Vergleich zu meinem Geburtsjahr haben sich die Industriestellen in Norwegen halbiert. Auch andere praktische Arbeiten teilen dieses Schicksal: Von den Bauern sind nur noch ein Drittel übrig geblieben, von Bergarbeitern noch ungefähr die Hälfte.

Die Norweger arbeiten schlicht und ergreifend nicht mehr in der Landwirtschaft und Fischerei. Wir arbeiten auch nicht in den Molkereien, der Fischverarbeitung, der Schlachterei oder den Konservenfabriken. Immer weniger Hände packen in den Fabriken mit an.

Wir arbeiten im nächsten Glied. Im Tertiärsektor – Verkauf und Service, Kommunikation und Informatik, Beratung und Dienstleistung – gibt es immer mehr Stellen. Die wahren Gewinner sind aber trotzdem woanders zu finden: Seit ich geboren wurde, sind die Stellen im Bereich der Informatik und Kommunikation nahezu auf das Doppelte angestiegen, die Jobs im Bereich der öffentlichen Verwaltung haben sich mehr als verdoppelt. Arbeitende Norweger...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2022
Übersetzer Anne von Canal
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Achtsamkeit • Erfahrungsbericht • Handarbeit • Handwerk • Haus • Hausbau • Holz • Hütte • Natur
ISBN-10 3-644-01189-3 / 3644011893
ISBN-13 978-3-644-01189-2 / 9783644011892
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