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Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2950-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit - Oyindamola Alashe, Gianni Jovanovic
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»Wir sind die Kinder der kleinen Mehrheiten. Unsere Stimmen müssen in der Gesellschaft gehört werden.«

Was für eine Geschichte! Gianni Jovanovic hat mit 43 Jahren mehr erfahren als andere in ihrem ganzen Leben: 1978 in Rüsselsheim geboren, erlebten er und seine Familie immer wieder rassistische Anfeindungen. Mit 14 verheirateten seine Eltern ihn. Mit 17 war er bereits zweifacher Vater, Anfang 20 outete sich Gianni Jovanovic als schwul. Inzwischen ist er seit 18 Jahren mit seinem Ehemann zusammen, zweifacher Großvater und die wohl bekannteste Stimme der Rom:nja und Sinti:zze in Deutschland. 
Gemeinsam mit der Journalistin Oyindamola Alashe erzählt er diese Geschichte einer Selbstermächtigung und entwirft dabei auch seine Vision einer antirassistischen, diversen Gesellschaft. Gianni Jovanovic' Geheimwaffen: Charme und Humor. Besonders auch dann, wenn es weh tut. 

»Gianni Jovanovic sprengt Erwartungen auf wundervolle Weise! Er kann eine Sache so gut wie kein anderer: Ambivalenzen zulassen, ohne Scham, ohne Beschönigung. Dabei ist er alles andere als zynisch, sondern ansteckend lebensbejahend.« Alice Hasters 

»Mit diesem Buch hat Gianni Jovanovic sich noch mal selbst übertroffen. Mit jedem Satz, den ich gelesen habe, konnte ich mehr Verständnis für sein Leben und seine Herausforderungen gewinnen.« Louisa Dellert

»Diese fast unglaubliche Geschichte muss gelesen werden. Wie aus einem Menschen, der so viel Ablehnung und Gewalt erleben musste, ein Streiter wurde für Toleranz, Vielfalt und Herzlichkeit.« Bettina Böttinger




Gianni Jovanovic ist Unternehmer, Aktivist und Performer. Er gilt als eine der lautesten Stimmen der Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland. Außerdem setzt er sich innerhalb der LGBTQI+-Community für die Rechte von Schwarzen Menschen und People of Colour ein. Er sagt: »Wir sind die Kinder der kleinen Mehrheiten. Unsere Stimmen müssen in der Gesellschaft gehört werden.« Mehr über Gianni Jovanovic: www.gianni-jovanovic.de Instagram: @giannijovanovic78 Facebook: @giannijohannesjovanovic Oyindamola Alashe wurde 1978 in den USA als Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen geboren. Zu den Schwerpunktthemen der Journalistin gehören Bildung, Inklusion, Gesundheit und Familie. Die alleinerziehende Mutter organisiert seit Jahren antirassistische Projekte und unterstützt Aktivist*innen der LGBTQI+-Community. Mit Gianni Jovanovic verbindet sie eine innige Freundschaft. Heute sagt sie über sich selbst: »In Deutschland war es lange eine Überlebensstrategie, mich anzupassen. Aber ich will kein angepasstes Leben.«

(K)ein Drama? Ein Junge heiratet ein Mädchen


Aus Teenagern werden Mann und Frau

Mann, war ich ein gut aussehender Teenager – ein bisschen moppelig, aber ein cooler Typ. Ich war kommunikativ, laut und sehr lustig. Ich machte gerne Witze in diversen Dialekten und imitierte meine Lehrer*innen oder Bundeskanzler Helmut Kohl. Letzteren konnte ich besonders gut. Ich machte ein Doppelkinn, verzog das Gesicht zu einer Birne und ließ meine Stimme Kohl-typisch blubbern. Ich liebte MTV. Wenn ich es irgendwo schauen konnte, war ich im Himmel. Obwohl ich kein Wort der Songs verstand, feierte ich die Videos. Jedes Mal, wenn ich Englisch hörte, war das für mich die weite Welt. Englisch war cool. Mit meinen Cousins und Cousinen tanzten wir zur Musik von MC Hammer, Whitney Houston, Michael Jackson oder Madonna. Bei aller Fröhlichkeit war ich aber auch oft allein. Es konnte in meiner Großfamilie sehr einsam sein. Dann hockte ich irgendwo, litt still vor mich hin und kaute wie besessen an den Fingernägeln. Manchmal schnitt ich mir mit Scherben an den Unterarmen herum. Ich wollte mich nur für einen Moment anders erleben und die Welt da draußen vergessen. Es war meine Art, die vielen seelischen Schmerzen zu verdrängen, die ich täglich spürte. Ich schnitt nie zu tief, denn ich war eitel. Ich wollte keine bleibenden Spuren davontragen – meistens gelang mir das. Heute verdecken meine Tätowierungen alle Stellen, an denen ich mich unabsichtlich doch zeichnete.

Draußen hing ich viel mit Gleichaltrigen herum – mit People of Color und weißen Deutschen. Was uns einte: Wir alle kamen aus armen Verhältnissen. Ansonsten las ich viel. BRAVO. Ich konnte die Donnerstage kaum erwarten, und dann las ich eine Woche lang jede einzelne Zeile der Jugendzeitschrift. Nichts ließ ich aus, und ich gab alles, um mir regelmäßig für zwei Mark ein Exemplar zu kaufen. Zu Hause versteckte ich die Hefte vor meinen Eltern. Meine Mutter durfte in ihrer anerzogenen Prüderie nicht mitbekommen, mit welcher Lektüre ich mir die Zeit vertrieb, und mein Vater wäre angesichts der nackten Männer misstrauisch geworden. Es war die Rubrik »Liebe, Sex und Zärtlichkeit«, die mich aufklärte, und neugierig erfuhr ich von den ersten Malen anderer Jugendlicher. Ich fand es ehrlich, dass hier nicht alle Geschichten romantisch, plüschig und glücklich verliefen. Da ging es um Liebeskummer, krumme Geschlechtsteile oder richtig einen blasen. Voller Vorfreude blätterte ich bis zu den Nacktseiten, um endlich einen Penis zu sehen. Um mehr davon zu bekommen, schlich ich mich ab und an in den Kiosk, wo ich meiner Mutter Zigaretten kaufte. So war das damals, Kinder besorgten Kippen für die Eltern. Und da lagen sie dann, die bunten Sexheftchen: Praline, Coupé, Junge Illustrierte – frech und aktuell. Insbesondere die Junge Illustrierte war für mich wie ein Verkehrsunfall – ich musste da hingucken. Auf der einen Seite waren abgeschlachtete Ziegenköpfe zu sehen und daneben Brüste. Weiße, große Brüste und daneben Schwänze. Aber das Allerbeste war die Playgirl. Oh, mein Gott, meine erste, richtige Wichsvorlage. Ich war fast 14, als ich mir eine davon klaute. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich mit meiner silbrig-matten Bomberjacke in der hintersten Kioskecke stand und die Zeitschrift wie in Trance eilig in meine Hose schob. Ich konnte nicht anders. Dirk Shafer war auf dem Cover – muskulös, haarig und ausgestattet mit einem großen Glied. Um kein Misstrauen zu erwecken, kaufte ich mir zur Tarnung wieder die BRAVO. Mein Herz klopfte wie wild, weil ich ein Dieb war und weil ich mir gleich stundenlang auf Dirk Shafer einen runterholen würde. Zu Hause verzog ich mich auf den Dachboden, wo ein paar Tauben hausten, und wichste. Wieder, wieder und wieder. Ich wollte Dirk. Ich wollte Männer.

Das war die Situation, in der ich mich mit 14 befand: Ein Junge, der seinen Körper erforschte und selbstbestimmt seine eigene Sexualität entdeckte. Aber meine Eltern hatten Pläne für mich, und Dirk kam darin nicht vor. Ich wusste, was von mir erwartet wurde. Als Einzelkind wollte ich meine Eltern stolz machen. Meine wichtigste Aufgabe als Sohn: Ich sollte die nächste Generation der Familie sichern. Eines Abends lag ich in meinem Zimmer und hatte wie so oft Migräne, als mein Vater sich unvermittelt neben mich ans Bett setzte. Das war viel Nähe für unsere Verhältnisse, und ich wusste sofort, dass er irgendetwas von mir wollte. Mein Vater zeigte mir ein Foto von einem Mädchen – meiner künftigen Ehefrau. Ich sollte sie heiraten, doch ich dachte nur: Fuck, was werden die in der Schule sagen? Ich hätte es aber nie gewagt, meine Gedanken laut auszusprechen. Also sagte ich meinem Vater nur, dass ich das Mädchen mochte und hübsch fand. Eine gute Antwort. Meine neue Rolle im Leben war definiert: Ehemann.

Ich fühlte mich zwar schon sehr erwachsen, aber ich war ein Kind, das ein anderes Kind heiraten sollte. Niemand bedrohte oder schlug uns, zwang uns einen Ring an den Finger oder verschleppte uns ins Ausland, aber der unausgesprochene Druck war immens. Niemand fragte uns, zu üblich war das Prozedere der Verheiratung in meiner Familie, aber wir hätten uns vermutlich auch nicht gegen den Willen unserer Eltern gestellt. Meine Eltern taten also, was sie kannten, und wir Kinder folgten. Wenn ich von diesem Kapitel in meinem Leben spreche, taucht immer wieder das Wort »Zwangsheirat« auf. Ich selbst benutze es eigentlich nur selten, weil es mir irgendwie widerstrebt. Es stimmt zwar, ich hatte keine Wahl – aber gezwungen fühlte ich mich damals so gar nicht. Ich fügte mich einfach in das für mich bestimmte Schicksal – und auf eine befremdliche Art fühlte es sich sogar organisch an. Tatsächlich sind Zwangsverheiratungen – noch dazu in einem so jungen Alter – allerdings ein wichtiges Thema. Weltweit werden jeden Tag etwa 39 000 minderjährige Mädchen verheiratet, ein Drittel davon ist jünger als 15 Jahre. So heißt es in einem Bericht des Europarates von 2018.16 Schon 2015 wurde dazu im Auftrag des Europäischen Parlaments die Studie »Forced marriage from gender perspective« veröffentlicht.17 In den Untersuchungen wird vor allem die Perspektive von jungen Mädchen eingenommen. Das macht Sinn, denn statistisch gesehen, sind sie deutlich häufiger betroffen als Jungen oder junge Männer. Auch in Deutschland suchen deutlich mehr Mädchen in Beratungsstellen Hilfe oder zeigen Zwangsehen an. Kein Wunder also, dass man Mädchen bei diesem Thema für besonders gefährdet, diskriminiert und schutzbedürftig hält. Meine Erfahrung als Mann oder Junge kommt in solchen Statistiken eher nicht vor. 2020 wurden in Deutschland 77 Verheiratungen bei der Polizei angezeigt.18 Die tatsächliche Zahl ist vermutlich höher. In besagter »Forced marriage«-Studie geht es jedenfalls nicht nur um zivilrechtliche Ehen, sondern insbesondere um jene, die informell, religiös und rituell geschlossen werden. Standesbeamt*innen braucht es dafür nicht, in meinem Fall war alles mit einer dreitägigen Party erledigt. Den »Zwangsheiraten« innerhalb der Rom*nja-Gemeinschaft in Deutschland, Spanien, Großbritannien, Dänemark und der Slowakei widmen die Forscher*innen übrigens ein eigenes Kapitel. Verheiratungen bedeuten für die jungen Menschen fehlende Selbstbestimmung. Sie entscheiden nicht, über ihre Familienplanung, ihre Schulbildung oder Berufswahl, ihre Sexualität oder die Unversehrtheit ihres Geistes und Körpers. All das hat das Zeug dazu, psychisch und physisch krank zu machen. Verheiratungen können Leben zerstören. Dennoch sehe ich EU-Untersuchungen – aber auch Diskurse und Medienberichte in Deutschland zu dem Thema – kritisch. Sie tragen nämlich sehr häufig dazu bei, rassistische Positionen aufrechtzuerhalten. Dann etwa, wenn Lehrer*innen pubertierende Schüler*innen auf ihrem Bildungsweg mit der Begründung ausbremsen: »Du brauchst das nicht, du heiratest doch eh früh und bekommst Kinder.« Auch Zwangs- oder Frühverheiratung einzig und allein einer patriarchalen »Roma-Kultur« zuzuschreiben, ist problematisch. Sinti*zze und Rom*nja werden in diesem Kontext fast ausschließlich als Opfer – oder im Umkehrschluss als Täter*innen – der eigenen Familien dargestellt. In den Medien werden große Hochzeiten als skurrile Events ausgeschlachtet, um die Fremd- und Andersartigkeit von Sinti*zze und Rom*nja zu untermauern. Dabei wird völlig vergessen: Ja, es gibt Menschen in meiner Community, die früh...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alltagsrassismus • Autobiografischer Roman • Comedian • die beste instanz • die jüngsten großeltern • Diskriminierung • Diversity • Empowerment • Gleichberechtigung • Homosexualität • Intersektionalität • Migrationshintergrund Romane • Persönlichkeitsentwicklung • Rassismus • Roma • Romnja • Schwul • Schwule Eltern • Sinti • sintizze • Zigeuner • z-wort
ISBN-10 3-8412-2950-6 / 3841229506
ISBN-13 978-3-8412-2950-2 / 9783841229502
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