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Aufsässige Leben, schöne Experimente (eBook)

Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers | Wie junge schwarze Frauen vor hundert Jahren die Freiheit erfanden
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2662-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aufsässige Leben, schöne Experimente -  Saidiya Hartman
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Eine unbekannte Geschichte weiblicher Selbstermächtigung und kultureller Revolution Im frühen 20. Jahrhundert erprobten junge afroamerikanische Frauen in großstädtischen Slums neue, subversive Formen der Liebe und der Solidarität außerhalb von Konvention und Gesetz: nichteheliche Partnerschaften und flüchtige Ehen, queere Identitäten und alleinerziehende Mutterschaft. Ihren Lebensentwürfe waren revolutionär, doch sie selbst sind vergessen. In ihrem bahnbrechenden, berührend schönen Buch erweitert Saidiya Hartman unsere Vorstellung von Geschichtsschreibung radikal. Sie belebt das historische Archiv mit literarischer Imagination und rekonstruiert die experimentellen Welten und rebellischen Begehren dieser Vorreiterinnen.

Saidiya Hartman ist Professorin an der Columbia University in New York und spezialisiert auf afro-amerikanische Literatur und Kulturgeschichte. 2019 erhielt sie das MacArthur Stipendium. Mit Wayward Lives, Beautiful Experiments gewann sie 2019 unter anderem den National Book Critics Circle Award und stand 2020 auf der Shortlist für den James Tait Black Memorial Prize.

Saidiya Hartman ist Professorin an der Columbia University in New York und spezialisiert auf afro-amerikanische Literatur und Kulturgeschichte. 2019 erhielt sie das MacArthur Stipendium. Mit Wayward Lives, Beautiful Experiments gewann sie 2019 unter anderem den National Book Critics Circle Award und stand 2020 auf der Shortlist für den James Tait Black Memorial Prize.

Die schreckliche Schönheit des Slums

Man findet sie in der Gruppe schöner Schläger und zu lockerer Mädchen, die sich an der Ecke versammeln und den neuesten Klatsch austauschen, oder auch vor Wanamaker’s Schaufenster, durch das sie lüstern auf ein Paar elegante Schuhe schaut, die wie Juwelen präsentiert werden. Man kann ihr dabei zusehen, wie sie sich auf der Gasse gemeinsam mit ihren Freunden ein Bier teilt, frech und reizend in einem ermäßigten Kleid und Seidenbändern. Man beobachtet ehrfürchtig, wie sie sich halb aus dem Fenster eines Mietshauses lehnt und während sie dem Sog der Schwerkraft trotzt, den Tratsch des ganzen Wohnblocks in Erfahrung bringt. Sobald man auch nur einen der Wege betritt, die durch die weitläufige Stadt führen, wird man ihr beim Herumstromern begegnen. »Slum« nennen die Leute von außerhalb die Straßen und Gassen, die ihre Welt ausmachen. Für sie ist es einfach nur der Ort, an dem sie wohnt. Man würde an ihrem Wohnblock niemals vorbeikommen, wenn man nicht selbst dort wohnt, es sei denn, man hätte sich verlaufen oder wäre auf eine der abendlichen Vergnügungen aus, die die bessere Hälfte anbietet. Auf ihren Expeditionen durch die Slums ernähren sich Voyeure vom Lebenselixier des Gettos, sie sehnen sich danach und verabscheuen es. Die Sozialwissenschaftler und Reformerinnen mit ihren Kameras und ihren Umfragen, die all die außergewöhnlichen Exemplare aufmerksam anstarren, sind kein bisschen besser.

Ihr Stadtviertel ist ein Labyrinth aus schmutzigen Gassen und düsteren Höfen. Es ist Little Africa, das »Negro«-Viertel, die schwarze Zone. Die Italienerinnen und Juden verschwinden in der sie verschlingenden Nähe. Es ist eine Welt, die hinter der Fassade einer geordneten Metropole im Verborgenen liegt. Die der Straße zugewandten, noch nicht verfallenen Gebäude und anständigen Häuser verstecken das Wohnhaus in der Seitengasse, in dem sie wohnt. Betritt man den schmalen Durchgang zur Gasse, überschreitet man die Schwelle in eine lärmende, unordentliche Welt, einen Ort, der von Unruhe, primitivem Kollektivismus und Anarchie bestimmt ist. Es ist eine menschliche Kloake, die von den übelsten Subjekten bevölkert wird. Es ist ein Reich der Exzesse und des Fabelhaften. Es ist eine elende Gegend. Es ist die in die Stadt ausgeweitete Plantage. Es ist ein soziales Labor. Das Getto ist ein Raum der Begegnung. Die Söhne und Töchter der Reichen kommen hierher auf der Suche nach Sinn, Lebensfreude und Vergnügen. Die Reformerinnen und Soziologen kommen auf der Suche nach den wahrhaft Benachteiligten – wobei es ihnen weder gelingt, sie und ihre Freundinnen als Denkerinnen und Planerinnen zu sehen, noch die schönen Experimente wahrzunehmen, die von armen schwarzen Mädchen hier gemacht werden.

Das Viertel, der Sumpf, das Getto – ist ein städtisches Gemeingut, in dem sich die Armen versammeln, Lebensformen improvisieren, mit Freiheit experimentieren und das ihnen auferlegte niedere Dasein verweigern. Es ist ein Gebiet extremer Entbehrungen und skandalöser Verschwendung. In den Reihen der Mietshäuser wohnen die Anständigen friedlich neben den Zügellosen und Unsittlichen. Das Viertel der Schwarzen ist ein Ort, der der Schönheit beraubt ist und sie übermäßig zur Schau stellt. Einziehen und Weiterziehen sind der Rhythmus des täglichen Lebens. Jede Welle von Neuankömmlingen verändert die Gegend – verändert, wie der Slum aussieht, klingt und riecht. Niemand lässt sich hier nieder, man kommt eine Weile unter, wartet auf etwas Besseres und zieht weiter. So hofft man zumindest. Noch ist es nicht das dunkle Getto,2 aber bald werden nur die Schwarzen übrig bleiben.

Alles ist im Slum Mangelware, außer Empfindungen. Das Erleben ist zu viel. Die schreckliche Schönheit ist mehr, als man jemals zu assimilieren, zu sortieren und zu erklären hoffen kann. Die Reformer knipsen ihre Bilder von den Gebäuden, den überbelegten Kitchenette-Zimmern,* den Wäscheleinen und den Plumpsklos. Sie entgeht ihrer Aufmerksamkeit, während sie ihnen aus dem Fenster im dritten Stock des Hinterhauses, in dem sie wohnt, zuschaut und über ihre Dämlichkeit lacht. Sie machen ein Foto von der Lombard Street, als sich dort kaum jemand aufhält. Sie fragt sich, was sie an Wäscheleinen und Plumpsklos so faszinierend finden. Immerzu machen sie Bilder von den gleichen Dingen. Haben Reiche wirklich so viel bessere Unterwäsche? Ist Seide denn so anders als Baumwolle und wird sie nicht so hübsch wie ein Banner über der Straße drapiert?

* Kitchenette-Zimmer waren in den schwarzen Vierteln überbelegte Einraumwohnungen, die ohne fließendes Wasser, ausreichende Belüftung oder sanitäre Anlagen ein großes Gesundheits- und Brandrisiko darstellten. Die Anlage dieser Wohneinheiten zementierte die Segregation zwischen schwarzen und weißen Vierteln.

Es gelingt den Außenstehenden und Aufbauerinnen nicht, es einzufangen, es richtig zu erfassen. Alles, was sie sehen, ist eine typische Gettogasse. Was sie nicht sehen, sind der Austausch von Blicken und die Schmerzen des Verlangens, die ihre Bildunterschriften verwirren und auf die Möglichkeit eines Lebens deuten, das größer als Armut ist, auf Unruhe und Aufruhr, die keine Kamera festhalten kann. Es gelingt ihnen nicht, die Schönheit zu erkennen. Sie nehmen nur die Unordnung wahr und übersehen dabei, auf wie viele Weisen Schwarze Leben schaffen und aus dem Notwendigsten eine Arena der Raffinesse machen. Eine halb bekleidete Frau, die einen Hausmantel über ihrem zarten Nachthemd trägt, lehnt vom Schatten der Diele verdeckt im Türrahmen und tratscht mit ihrer Freundin, die auf der Schwelle steht. Auf der Straße entfaltet sich intimes Leben.

Die Journalisten ergießen sich in Harper’s Weekly: »Über den Juden, in den gleichen Mietshäusern, hausen inmitten von Szenen unbeschreiblichen Elends und geschmackloser Pracht Negroes, die ihr unbeschwertes Leben aus Vergnügen, Trubel, Musik, Lärm und heftigen Kämpfen führen, was sie zu einem Schrecken für ihre weißen Nachbarn und Vermieter macht.«3 Erregt beim Anblick von elegant gekleideten Hausangestellten, Hausmeistern, Hafenarbeitern und Liftjungen mit schnittigen Hüten, die sich an der Ecke herausputzen, von ästhetischen Schwarzen, die sich damit begnügen, ihr Geld für Extravaganz, Zierde und Glanz zu verschwenden, drängt der Soziologe sie, von ihren jüdischen und italienischen Nachbarn den Wert eines Dollars zu lernen. Schwarze sollen ihre lockeren Sitten, sinnlichen Genüsse und leichtsinnigen Exzesse, diese Gepflogenheiten der Sklaverei, aufgeben. Die gegenwärtige Vergangenheit unfreiwilliger Knechtschaft entfaltet sich auf der Straße, und das Heim, das vollständig vom Sklavenschiff und der promiskuitiven Herdenhaltung zerstört wurde,4 wird jetzt wieder zerstört, durch seine Umarmung von Fremden aufgebrochen.

Die Sinne werden gefordert und überwältigt. Schau mal, dort drüben. Lass deine Augen alles wahrnehmen: die hübschen Verbrechertypen, die den Hof wie Wächter säumen; die maßlose Zurschaustellung von drei reizenden Blumentöpfen, die auf der Fensterbank arrangiert sind; die Bettlaken, die mit Monogramm bestickten Taschentücher, die verzierten Seidenstrümpfe, die Unterwäsche einer Hure, die an einer quer über die Gasse gespannten Leine hängen und heimliche Absprachen, aufsässige Leben, sinnliche Angelegenheiten aussenden. Wie Schatten huschen Frauen mit in Papier und Schnur eingewickelten Päckchen vorbei. Das grelle Licht auf ihren Rücken verwandelt sie in Silhouetten; abstrahierte dunkle Formen treten an die Stelle derer, die sie wirklich sind.

Die Töchter des Lumpensammlers sitzen müßig auf den Stufen zu ihrer Kellerwohnung. Die Älteste strahlt hervor, wie sie in Sonntagshut und beschmutztem Kleid inmitten des Unrats sitzt. Die Jüngste bleibt ein verschwommenes Mysterium.

Die Sonne fällt ins Treppenhaus, drückt gegen die Mädchen und beleuchtet den Eingang zu dem kleinen, feuchten Raum, der mit Vaters Waren gefüllt ist: Lumpen, Papiere, Weggeworfenes, Stückwerk und ausrangierte Gegenstände, die für eine spätere Verwendung gerettet wurden. Er wendet der Kamera den Rücken zu und entzieht sich der Aufnahme.

Was du hören kannst, wenn du aufmerksam bist: die gutturalen Töne des Jiddischen, die Englisch zu einer Fremdsprache machen. Die runden, mit offenem Mund geformten Klänge aus North Carolina und Virginia fließen in die kantige Sprache der Stadt ein und werden durch den Rhythmus und den Tonfall der nördlichen Straßen verändert. Der Ausbruch von Gelächter, die Salve von Flüchen, die Rufe, die die Wände des Mietshauses vibrieren lassen und den Boden erschüttern. Oh Baby, ja, so ist es gut! – die liebliche Musik eines ausgedehnten Stöhnens, das die Zuhörenden verstummen lässt, Lauschende, die nach mehr verlangen, obwohl sie wissen, dass es sich nicht gehört. Ein Rausch der Eindrücke: der Moschusgeruch von eng umschlungenen Körpern, die in einem Kellerlokal tanzen; die Hand einer über den Hof gehenden Fremden, die versehentlich deine streift; der flüchtige Blick auf ein junges Liebespaar, das sich im tiefen Schatten eines Hausflurs aneinanderschmiegt; die brutale Umarmung zweier kämpfender Männer; der beißende Geruch von Speck und Maiskuchen, die auf offenem Feuer angebraten werden; das Geißblatt im Duftwasser einer Haushaltshilfe; der Ahornrauch, der aus der Maiskolbenpfeife eines alten Mannes aufsteigt. Eine ganze Welt ist in einem kleinen Häuserblock zusammengepfercht, voll mit schwarzen Menschen, die von fast...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2022
Übersetzer Anna Jäger
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Amerikanischer Bürgerkrieg • Befreiung • Chigago • Feminismus • Gender • Gewalt • Jim Crow • Kolonialismus • New York • Philadelphia • Plantage • Race • Rassismus • Segregation • Sexualität • Sklaverei • Slum • Soziologie • Südstaaten • Unterdrückung • Weiblichkeit • white supremacy
ISBN-10 3-8437-2662-0 / 3843726620
ISBN-13 978-3-8437-2662-7 / 9783843726627
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