Zur Zukunft der Demokratie (eBook)
432 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-29085-6 (ISBN)
Was ist zu tun, um unsere Demokratie in die Zukunft zu tragen? Diese Frage steht im Zentrum der Gesprächsreihe "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie", zu der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seit 2017 regelmäßig Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft eingeladen hat. In diesem Buch geben sie ihre vielfältigen Antworten auf eine der drängendsten Fragen unserer Zeit. Der Bundespräsident setzt mit seinem Eröffnungsbeitrag einen eigenen Impuls - eine Einladung zur Debatte über eine entscheidende Herausforderung unserer Zeit.
Mit Beiträgen von Michael Butter, Donatella della Porta, Udo Di Fabio, Evelyn Finger, Rainer Forst, Ute Frevert, Maja Göpel, Andreas Hollstein, Hans Joas, Daniel Kehlmann, Parag Khanna, Mouhanad Khorchide, Cornelia Koppetsch, Ivan Krastev, Jeff Mason, Ian McEwan, Eva Menasse, Wolfgang Merkel, Christoph Möllers, Herta Müller, Armin Nassehi, Susan Neiman, Steven Pinker, Bernhard Pörksen, Ulf Poschardt, Salman Rushdie, Ben Scott, Daniela Schwarzer, Julia Stein, Adam Tooze, Maren Urner, Luuk van Middelaar, David Van Reybrouck, Margrethe Vestager, Heinrich August Winkler und Daniel Ziblatt.
Frank-Walter Steinmeier ist seit 2017 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. In der Veranstaltungsreihe »Forum Bellevue« sprach er mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft »zur Zukunft der Demokratie«.
Frank-Walter Steinmeier
Wir sind eine Republik!
Wie wir die Demokratie zu unserer Zukunft machen
In den vielen persönlichen Gesprächen, die ich in den letzten Jahren als Bundespräsident führen durfte, war ich immer wieder beeindruckt von dem gesellschaftlichen Engagement der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Ob im sozialen, kulturellen oder ökologischen Bereich, im Ehrenamt oder im Beruf, in der Familie oder in der Nachbarschaft, in der Stadt oder auf dem Land: Unsere Gesellschaft verfügt über ein starkes Netz an gegenseitiger Hilfeleistung, ja: an Solidarität. Es stimmt eben nicht, dass die Menschen nicht über den Tellerrand der eigenen Interessen hinausdenken – sie erweisen sich jeden Tag als soziale, einander zugewandte Wesen. Die Solidarität in der Corona-Pandemie und in der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Juli 2021 haben das eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Für unsere Demokratie ist das eine gute Nachricht. Aber noch nicht die ganze Antwort.
Denn unsere Demokratie wird angefochten. Die liberalen Demokratien stehen heute weltweit – anders als wir nach dem Ende des Kalten Krieges gehofft hatten – unter Druck und befinden sich in einer fortdauernden und weiter zunehmenden Konkurrenz mit anderen, autoritären Entwürfen von politischer Ordnung. Der Druck ist auch von innen gewachsen – aber er steht im Kontext einer größeren internationalen Entwicklung, die mit den Freiheits- und Bürgerrechten infrage stellt, was uns als Demokratie ausmacht. Doch selbst wenn unsere demokratische Zukunft offen ist und wir sie jeden Tag aufs Neue mit Leben erfüllen müssen, so liegen doch all diejenigen falsch, die ihre Erosion für unausweichlich halten. Die liberale Demokratie ist unsere Zukunft, wenn wir uns ihrer Stärke und ihrer realen Möglichkeiten vergewissern.
Ich nehme wahr, dass auch in unserem Land Skepsis – und in Teilen auch Feindseligkeit – gegen unsere demokratischen Institutionen und ihre Vertreterinnen und Vertreter wachsen. Diese Abwendung ist gefährlich, denn unsere Demokratie ist nur so stark wie die Bürgerinnen und Bürger, die sie tragen. Sie ist nur so stark, wie Menschen bereit sind, sich für die Demokratie zu engagieren. Gerade jetzt, im Angesicht der Misstrauensbekundungen, haben wir aber die Chance, neu zu erkennen, dass dieser demokratische Staat »unser Staat« ist, dass seine demokratischen Institutionen »unsere Institutionen« sind. So können wir zu neuer innerer Stärke finden, aus der auch die Abwehrkraft gegen Anfechtungen von außen erwächst.
Wir sollten deshalb einen vernachlässigten Begriff, der im Namen unseres Landes, der Bundesrepublik Deutschland, enthalten ist, neu entdecken: Wir sind eine Republik! Das bedeutet mehr als nur die Abkehr von der Monarchie, jedenfalls dann, wenn wir den Anspruch ernst nehmen, der sich mit diesem Begriff verbindet. Wir sind Bürgerin und Bürger im politischen Sinne des Citoyens geworden. Wir haben uns zu Subjekten politischer Selbstbestimmung erklärt. Und dies ist alles andere als eine Belanglosigkeit. Wir sind eine Republik bedeutet, dass unsere Demokratie von der bürgerschaftlichen Einmischung in die öffentlichen Belange getragen ist. Republikanisch zu denken und zu handeln heißt, diese bürgerschaftliche Aneignung bewusst zu vollziehen, diese Trägerschaft der res publica bewusst anzunehmen. Als Haltung, aber noch mehr im Tun!
Das Republikanische der liberalen Demokratie
Die republikanische Haltung, für die ich plädiere, kann nur eine demokratische sein. Ein gestärktes Vertrauen in die Institutionen, in denen unsere öffentlichen Belange zum Ausdruck kommen, entsteht dann, wenn wir uns als Bürgerinnen und Bürger immer wieder aufs Neue klarmachen, dass wir in der Demokratie ihre aktiven Trägerinnen und Träger sind. Die »öffentliche Sache« kann sich – sinnvoll verstanden – überhaupt nur demokratisch herausbilden. Ein gestärkter Republikanismus zielt deshalb nicht auf die Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger zum Einsatz für ein Gemeinwohl, das von vornherein schon feststünde. Er zielt vielmehr darauf, unsere Demokratie durch plurale Einmischung und Intervention lebendig zu halten, das Allgemeinwohl im Diskurs zu ermitteln – und zugleich die gemeinsamen institutionellen Orte unserer Republik mit selbstbewusstem Stolz zu schützen.
Eine republikanische Haltung ist für mich zudem ausdrücklich auch eine liberale – und darf ihr nicht entgegengestellt werden, als sei politischer Wettbewerb der Republik abträglich, als stünden plurale Auffassungen und Interessen letztlich dem Allgemeinwohl im Weg. So sprechen heute die Autoritären, und sie tun es nicht ohne Wirkung. Und doch, es könnte falscher nicht sein. Eine demokratische Republik ist ohne eine liberale und damit plurale Gesellschaft nicht denkbar. Als Idee der gleichen politischen Freiheit beruht die Demokratie fundamental auf der allgemeinen Möglichkeit der Bürgerinnen und Bürger, nicht nur ihre Interessen zur Geltung zu bringen, sondern ihre eigenen Überzeugungen vom Allgemeinwohl einzubringen. Die Demokratie ist eine liberale oder sie ist nicht. Aber gerade weil Demokratie auf Vielfalt, Auseinandersetzung und Streit beruht, braucht sie dringend die gemeinsame Trägerschaft ihrer demokratischen Institutionen. Wir können die Freiheit nur in Anspruch nehmen und erhalten, wenn wir ihre Voraussetzungen – ich wiederhole es – mit Überzeugung und Engagement schützen. Bildhaft gesprochen: Nur wenn wir unser Haus der Demokratie gemeinsam instand halten, können wir darin in Gemeinsamkeit und Vielfalt leben.
Republikanische Zuwendung – jenseits von Abwendung und Anpassung
Ich höre immer wieder, die Idee der Demokratie sei ja eigentlich eine gute Sache, nur mit den konkreten Institutionen und ihren Protagonistinnen und Protagonisten könne man nichts anfangen. Aber ohne die konkrete gesellschaftliche Praxis in konkreten Institutionen bleibt die Idee der Demokratie: nur eine Idee. Unsere Demokratie kommt durch unsere institutionelle Praxis überhaupt erst in die Realität – und sie muss dort lebendig gehalten werden.
Die republikanische Alternative zur aggressiven oder resignativen Abwendung von unserer Demokratie liegt deshalb nicht darin, alles hinzunehmen oder abzunicken, sondern vielmehr in engagierter Zuwendung. Diese Zuwendung besteht nicht im routinierten Ja-Sagen, sondern in lebendiger Identifikation, zu der auch der Mut zur Kritik gehört sowie die Anstrengung, Vorschläge zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. So werden Beziehungen stark – auch die Beziehung zu unseren demokratischen Institutionen.
Nun erleben wir eine Zeit voller Veränderung. Umbrüche und Neuanfänge im politischen und wirtschaftlichen Leben – bis in den Alltag hinein – kennzeichnen die Gegenwart. Um die bürgerschaftliche Zuwendung zu unseren demokratischen Institutionen zu stärken, genügt es nicht, diese als Akt der bloßen Verteidigung des Bestehenden zu begreifen. Zuwendung entsteht nicht aus abwehrender Angst, sie entsteht aus der Überzeugung, dass wir unser gemeinsames Schicksal gestalten können. Und so bedarf es – in Anbetracht rasanter gesellschaftlicher Veränderungen – immer wieder aufs Neue der Kraft zur demokratischen Erneuerung. Demokratie zu verteidigen heißt, sie lebendig zu halten.
Die Zukunft der Demokratie liegt also in unserem Einsatz für die Demokratie der Zukunft. Was aber ist zu tun, um unsere Demokratie in die Zukunft zu tragen?
Mit der Veranstaltungsreihe »Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie« habe ich ein Format ins Leben gerufen, in dem ich in nunmehr zwölf Ausgaben Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik für ein gemeinsames öffentliches Nachdenken über diese Frage gewinnen konnte. Eine Übersicht der bisherigen Foren findet sich auf den Seiten 428 und 429. Hier entstanden Schritt für Schritt Analysen und Anregungen auf ganz unterschiedlichen Feldern.
Ich habe meine Gäste gebeten, ihre Perspektiven niederzuschreiben und zu aktualisieren – und die zusammengetragenen Impulse so zugänglich zu machen. Dabei sind mir im besten Sinne republikanischer Streitbarkeit gerade auch diejenigen Perspektiven wertvoll, die ich nicht teile und die zum Widerspruch anregen. Es kommt für das Gelingen dieses Forums eben nicht darauf an, dass wir in allem einig sind, sondern dass wir die politische Kultur der argumentativen Auseinandersetzung wiederentdecken und gerade damit ihre Verächter ins Unrecht setzen.
Ich danke allen Gästen für die Bereitschaft, dass sie sich abermals auf die Frage nach der Zukunft unserer Demokratie eingelassen haben und damit ihre Perspektive in eine wichtige Debatte einbringen. Ebenso danke ich der Bertelsmann Stiftung herzlich für die Unterstützung bei der Veranstaltungsreihe wie auch bei dem vorliegenden Buch.
Die Zukunftskraft unserer Erinnerung
Die politische Kraft gleicher Freiheit lässt sich nicht in die Zukunft tragen, ohne dass wir unsere Vergangenheit lebendig halten. Die Erinnerung an die Shoah ist ein unverrückbarer Teil der Identität unseres Landes. Sie ist Grund des Grundgesetzes. Da sich Zukunft für nachkommende Generationen aber nicht allein ex negativo, nicht allein aus dem »Nie wieder!« begründen lässt, müssen wir auch unsere Demokratiegeschichte, ihre Orte und Protagonisten noch stärker zum Teil der Gedenkkultur unserer Republik machen. Die Arbeit in Bildungsstätten und an Gedenkorten, in Institutionen, Vereinen und Initiativen, sie ist weit mehr als Erinnerungsarbeit, sie ist Arbeit an unserer...
Erscheint lt. Verlag | 17.1.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Daniel Kehlmann • Eva Menasse • Heinrich August Winkler • Hertha Müller • Ian McEwan • Maja Göpel • Margrethe Vestager • Salman Rushdie • Steven Pinker • Udo di Fabio |
ISBN-10 | 3-641-29085-6 / 3641290856 |
ISBN-13 | 978-3-641-29085-6 / 9783641290856 |
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