Staatskunst (eBook)
608 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-28846-4 (ISBN)
Henry Kissinger, Jahrhundertpolitiker und Friedensnobelpreisträger, Meister der Diplomatie und politischer Stratege, zeigt in diesem Alterswerk, was Staatskunst in Zeiten von Krise und Umbruch auszeichnet. Am Beispiel von sechs Staatenlenkern, denen er persönlich verbunden war - Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Richard Nixon und Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher -, führt er uns vor Augen, wie aus dem Zusammenspiel von Strategie, Mut und Charakter politische Führung erwächst. Und was wir heute, angesichts wiederaufflammender Großmachtkonflikte, von ihrer Staatskunst lernen können.
Ein beeindruckendes Vermächtnis, zeitlos und zugleich hochaktuell.
Henry Kissinger (1923 bis 2023) emigrierte 1938 in die USA. Er war Professor für Politikwissenschaft in Harvard, bevor er ab 1969 als Sicherheitsberater und 1973-1977 als Außenminister amtierte. Er gilt als Motor der Entspannungspolitik sowie der diplomatischen Voraussetzungen für einen Rückzug aus Vietnam und einer Friedensregelung in Nahost. 1973 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Henry Kissinger, der Prototyp eines 'Elder Statesman', veröffentlichte umfassende politische Erinnerungen (in drei Bänden) und andere internationale Bestseller wie 'China' (2011), 'Weltordnung' (2014) und zuletzt 'Staatskunst' (2022).
Einleitung
DIE ACHSEN DER STAATSKUNST
Jede Gesellschaft ist unabhängig von ihrem politischen System unentwegt im Übergang zwischen einer Vergangenheit, die ihre Erinnerung prägt, und einer Vision der Zukunft, die ihre Entwicklung inspiriert. Auf diesem Weg ist Führung unverzichtbar: Entscheidungen müssen getroffen, Vertrauen verdient, Versprechen gehalten, ein Weg nach vorn gebahnt werden. In menschlichen Institutionen – Staaten, Religionen, Armeen, Unternehmen, Schulen – ist Führung vonnöten, um den Menschen zu helfen, damit sie von dort, wo sie gerade sind, dorthin kommen, wo sie noch nie gewesen sind – und manchmal sogar an Orte oder in Positionen, die sie sich bisher kaum haben vorstellen können. Ohne Führung treiben Institutionen dahin, und Nationen riskieren wachsende Bedeutungslosigkeit und schließlich eine Katastrophe.
Politische Entscheidungsträger denken und handeln am Schnittpunkt zweier Achsen: Die erste verläuft zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die zweite zwischen den beständigen Werten und den Erwartungen der Menschen unter ihrer Führung. Ihre erste Aufgabe ist die Analyse, die mit einer realistischen Bewertung ihrer Gesellschaft ausgehend von ihrer Geschichte, ihrer Lebensweise und ihrer Leistungsfähigkeit beginnt. In einem zweiten Schritt müssen sie dann das, was sie wissen und notwendigerweise aus der Vergangenheit abgeleitet haben, in Einklang bringen mit den Mutmaßungen, die sie über die Zukunft intuitiv erahnen. Es ist dieses intuitive Erfassen der Richtung, das Staatslenker in die Lage versetzt, Ziele zu definieren und eine Strategie festzulegen.
Damit ihre Strategien die Gesellschaft inspirieren, müssen Führungspersönlichkeiten auch als Erzieher wirken – sie müssen Ziele kommunizieren, Zweifel beschwichtigen und Unterstützung mobilisieren. Der Staat besitzt zwar per definitionem das Gewaltmonopol, doch Zwangsmaßnahmen sind ein Symptom unzulänglicher Staatsführung. Gute Anführer wecken in ihrer Bevölkerung den Wunsch, Seite an Seite mit ihnen zu gehen. Zudem müssen sie auch ihr direktes Umfeld dazu anregen, ihr Denken so zu vermitteln, dass es den praktischen Tagesfragen gerecht wird. Ein dynamisches Team ist die sichtbare Ergänzung der inneren Kraft einer solchen Führungspersönlichkeit; es unterstützt ihren Weg und verbessert ihre Entscheidungen. Politische Entscheidungsträger können durch die Qualität ihres Umfelds größer – oder kleiner – werden.
Die wichtigsten Eigenschaften bei diesen Aufgaben, und die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, sind Mut und Charakter – Mut, um unter komplexen und schwierigen Optionen eine Richtung zu wählen und damit das Althergebrachte hinter sich zu lassen; und Charakterstärke, um einen Kurs beizubehalten, dessen Nutzen und Risiken im Moment der Entscheidung nur unvollständig abgeschätzt werden können. Mut gibt im Moment der Entscheidung Kraft; Charakterstärke sorgt dafür, dass man seinen Werten treu bleibt.
Besonders wichtig ist staatsmännische Führung in Übergangszeiten, wenn Werte und Institutionen ihre Bedeutung verlieren und die Umrisse einer lebenswerten Zukunft umstritten sind. In solchen Zeiten sind Führungsfiguren aufgerufen, kreativ und diagnostisch zu denken: Aus welchen Quellen entspringt das Wohl der Gesellschaft? Oder ihr Niedergang? Welches Erbe der Vergangenheit sollte bewahrt werden, welches angepasst oder verworfen? Welche Ziele verdienen intensiven Einsatz, und welche Chancen müssen ausgeschlagen werden, egal, wie verlockend sie wirken? Und im Extremfall: Ist die eigene Gesellschaft vital und zuversichtlich genug, um auf dem Weg in eine erfülltere Zukunft Opfer zu ertragen?
DAS WESEN POLITISCHER ENTSCHEIDUNGEN
Staatslenker sind immer Zwängen unterworfen. Sie operieren mit dem Mangel, denn jede Gesellschaft stößt an die von Demografie und Ökonomie diktierten Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Einflusses. Sie operieren auch in ihrer Zeit, denn jedes Zeitalter und jede Kultur spiegeln ihre eigenen vorherrschenden Werte, Gewohnheiten und Einstellungen wider, die zusammen ihre angestrebten Ergebnisse definieren. Und sie operieren in Konkurrenz, denn sie müssen sich mit anderen Akteuren – seien es Verbündete, potenzielle Partner oder Gegner – auseinandersetzen, die nicht statisch sind, sondern sich anpassen können und mit ihren eigenen je besonderen Fähigkeiten eigene Ziele verfolgen. Zudem entwickeln sich Ereignisse oft auch noch zu schnell, um genaue Berechnungen zu erlauben; Führungspersönlichkeiten müssen oft anhand von Intuitionen und noch nicht überprüfbaren Hypothesen entscheiden. Risikomanagement ist für einen Spitzenpolitiker ebenso wichtig wie analytische Fähigkeiten.
»Strategie« beschreibt die Schlussfolgerung, zu der ein Staatslenker unter diesen Bedingungen der Knappheit, der Zeitgebundenheit, der Konkurrenz und der Fluidität kommt. Bei der Suche nach einem Weg voran kann man strategische Führung mit einem Seiltanz vergleichen: Wie ein Akrobat, der stürzt, wenn er zu ängstlich oder zu kühn ist, bewegt sich auch eine Führungsfigur auf einem dünnen Seil, aufgehängt zwischen den relativen Gewissheiten der Vergangenheit und den Unklarheiten der Zukunft. Die Strafe für das Streben nach dem Unerreichbaren – die Griechen sprachen von Hybris – ist Erschöpfung, der Preis für das Ausruhen auf den eigenen Lorbeeren sind fortschreitende Bedeutungslosigkeit und schließlich Verfall. Schritt für Schritt müssen Anführer Mittel und Zwecke sowie Absichten und Umstände in Übereinstimmung bringen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen.
Der strategisch handelnde Entscheidungsträger ist mit einem inhärenten Paradoxon konfrontiert: In Situationen, in denen Handeln gefragt ist, ist der Entscheidungsspielraum oft dann am größten, wenn die relevanten Informationen noch sehr knapp sind. Sobald mehr Daten zur Verfügung stehen, hat sich der Spielraum meist schon verengt. In den frühen Phasen des Aufbaus strategischer Waffen bei einer rivalisierenden Macht oder beim plötzlichen Auftauchen eines neuartigen Atemwegsvirus etwa ist die Verlockung groß, das gerade im Entstehen begriffene Phänomen als entweder vorübergehend oder als mit den bestehenden Standards beherrschbar zu betrachten. Wenn die Bedrohung nicht länger geleugnet oder minimiert werden kann, ist der Handlungsspielraum dann schon geschrumpft, oder die Kosten, das Problem anzugehen, sind womöglich exorbitant gewachsen. Wenn man die Zeit nicht nutzt, werden von selbst Schranken auftauchen. Selbst die beste der verbleibenden Möglichkeiten wird dann schwierig umzusetzen sein, mit kleineren Gewinnen im Erfolgsfall und größeren Risiken bei einem Scheitern.
In solchen Situationen sind der Instinkt und die Urteilskraft einer Führungspersönlichkeit von größter Bedeutung. Winston Churchill war sich dessen sehr wohl bewusst, als er in Ein Sturm zieht auf (1948) schrieb: »Staatsmänner sind nicht nur zur Regelung einfacher Fragen berufen. Diese Fragen regeln sich oft von selbst. Wenn die Waagschalen sich zitternd im Gleichgewicht halten, wenn die wahren Verhältnisse verschleiert sind, bietet sich die Gelegenheit zu Entscheidungen, durch die die Welt gerettet werden kann.«1
Im Mai 1953 fragte ein amerikanischer Austauschstudent Churchill, wie man sich wohl auf die Herausforderungen der Staatsführung vorbereiten könne. »Studieren Sie Geschichte! Studieren Sie Geschichte!«, lautete Churchills entschiedene Antwort. »In der Geschichte liegen alle Geheimnisse der Staatskunst.«2 Churchill selbst war ein bemerkenswerter Geschichtskenner und Geschichtsschreiber, dem das Kontinuum, in dem er arbeitete, nur allzu bewusst war.
Allerdings ist historisches Wissen zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Manche Dinge bleiben für immer »verschleiert«, sie entziehen sich auch den Gebildeten und Erfahrenen. Die Geschichte lehrt durch Analogie, durch die Fähigkeit, vergleichbare Situationen zu erkennen. Ihre »Lektionen« sind allerdings im Wesentlichen Annäherungen, die Entscheidungsträger wahrnehmen müssen, um sie dann verantwortlich an die Umstände ihrer eigenen Zeit anzupassen. Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler erfasste diese Aufgabe, als er im frühen 20. Jahrhundert schrieb, der »geborene Staatsmann« sei »vor allem Kenner, Kenner der Menschen, Lagen, Dinge«, mit der Fähigkeit, »das Richtige [zu] tun, ohne es zu ›wissen‹«.3
Strategische Staatslenker brauchen auch die Eigenschaften des Künstlers, der spürt, wie er mit den Materialien, die in der Gegenwart verfügbar sind, die Zukunft formen kann. Wie Charles de Gaulle in seiner Betrachtung über Führungsstärke, Le Fil de l’Epée (1932), schrieb, »bedient sich [dieser] fortwährend der Intelligenz«, die schließlich die Quelle von »Schlüssen, Technik, Wissen« ist. Der Künstler aber fügt diesen Grundlagen noch »das Mittel einer instinktiven Fähigkeit, der Inspiration« hinzu, »die allein die direkte Fühlung mit der Natur herstellt, an der der Funke sich entzündet«.4
Weil die Realität so komplex ist, unterscheidet sich die historische von der naturwissenschaftlichen Wahrheit. Der Naturwissenschaftler sucht verifizierbare Ergebnisse; der historisch gebildete strategische Staatslenker bemüht sich, aus der der Sache innewohnenden Mehrdeutigkeit umsetzbare Erkenntnisse zu destillieren. Wissenschaftliche Experimente stützen vorherige Ergebnisse oder werfen Zweifel auf, sie geben Naturwissenschaftlern die Möglichkeit,...
Erscheint lt. Verlag | 4.7.2022 |
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Übersetzer | Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Karlheinz Dürr, Anja Lerz, Karsten Petersen, Sabine Reinhardus, Karin Schuler, Thomas Stauder |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | LEADERSHIP. Six Studies in World Strategy |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 100. Geburtstag • 2022 • Adenauer • bestsellerliste spiegel aktuell • de Gaulle • Diplomatie • eBooks • Führungskräfte • Geschichte • henry kissinger gestorben • Leadership • Lee Kuan Yew • Neuerscheinung • Nixon • Politik • politische Führung • Sadat • Staatskunst • staatslenker • Staatsmann • Thatcher • Visionäre • Vorbilder • Weltordnung • Weltpolitik |
ISBN-10 | 3-641-28846-0 / 3641288460 |
ISBN-13 | 978-3-641-28846-4 / 9783641288464 |
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