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Ort ohne Wiederkehr (eBook)

Wie ich als Uigurin Chinas Lager überlebte
eBook Download: EPUB
2022
288 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-28865-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ort ohne Wiederkehr - Mihrigul Tursun, Andrea C. Hoffmann
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»Die Welt muss nicht nur davon erfahren, sie muss wissen, wie sich das anfühlt, in so einem Lager eingesperrt zu sein«
Menschenrechtsorganisationen und Regierungen sprechen von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem »kulturellen Genozid«. Mihrigul Tursun ist wiederholt Opfer der chinesischen Bestrebungen zur totalen Assimilation der Minderheit der Uiguren geworden. Sie erlebte die sogenannten »Umerziehungslager« in ihrer unbeschreiblichen Grausamkeit, die physische und psychische Gewalt, am eigenen Leib. Auf bis heute ungeklärte Weise kam ihr kleiner Sohn ums Leben, während sie eingesperrt war. Heute hat sie trotz der auch im Exil nicht verschwundenen Bedrohung den Mut, offen über das Erlebte zu sprechen und aus eigener Erfahrung das zu beschreiben, was die uigurische Minderheit in China erleiden muss. Ein bedeutender Augenzeugenbericht, der dem Leser die Menschen hinter den Nachrichten aus China nahebringt.

Die Uigurin Mihrigul Tursun, Jahrgang 1989, war mehrmals in den chinesischen »Umerziehungslagern« von Xinjiang inhaftiert. In der Zeit ihrer Haft starb einer ihrer Söhne im chinesischen Gewahrsam unter ungeklärten Umständen. Am 28. November 2018 machte Mihrigul Tursun ihre erschütternde Aussage vor dem US-Kongress (Congressional-Executive Commission on China). Sie beschrieb die unmenschlichen Bedingungen und die Foltermethoden in den Lagern. Im Dezember 2018 wurde Tursun mit dem Citizen Power Award ausgezeichnet.

1

Eine Uigurin in China

Ich stamme aus dem Dorf Toraklik in der Nähe von Qarqan, einer Oasenstadt in der Taklamakan-Wüste im äußersten Westen Chinas. Dieser Ort hatte nichts mit dem Hightech-China zu tun, das die Welt heute kennt. Zumindest zum Zeitpunkt meiner Geburt im Jahr 1989 schien die Zeit in meiner Heimat noch stehen geblieben zu sein.

Ich wurde auf einem Eselskarren geboren. Das Gefährt sollte meine Mutter aus unserem Dorf nach Korla bringen, der nächstgrößeren Stadt, in der es ein Krankenhaus gab. Normalerweise gebaren die Frauen in der Gegend ihre Kinder zu Hause. Aber ich kam viel zu früh auf die Welt und befand mich außerdem in einer gefährlichen Seitenlage. Deshalb brauchte meine Mutter einen Arzt für die Entbindung. Die lange und holperige Fahrt mit dem Karren war die einzige Möglichkeit, zu ihm zu gelangen. Doch sie schaffte es nicht: Ich kam bereits, als sie und mein Vater sich auf der Hälfte des Weges befanden. Bei der Niederkunft gab es schlimme Komplikationen. Meine Mutter, die damals erst siebzehn Jahre alt war, überlebte meine Geburt nicht.

Mein Vater, Tursun, war untröstlich. Er hatte Mutter erst ein Jahr zuvor geheiratet. Die beiden waren sehr verliebt ineinander gewesen, und voller Hoffnung auf eine große Familie. Aber plötzlich war da nur noch der Schmerz. Und ein kleines Baby, das brüllte und nach der Milch seiner Mutter verlangte.

Mutter wurde noch am selben Tag nach islamischem Ritus beerdigt. Danach tagte der Familienrat, um zu entscheiden, was mit mir geschehen sollte. Niemand räumte mir große Überlebenschancen ein. Ich war fast sechs Wochen zu früh auf die Welt gekommen und viel zu klein. So klein, dass ich angeblich in den Hut meines Vaters passte. Alle glaubten daher, dass ich sterben würde. Nur meine alte Großmutter, die Mutter meiner Mutter, die gerade ihre Tochter verloren hatte, klammerte sich an die Hoffnung, wenigstens ihre Enkelin könnte leben.

Sie machte meinem Vater einen Vorschlag: »Gib die Kleine mir. Ich werde versuchen, sie hochzupäppeln.« Wie alle war auch Großmutter voller Trauer. Aber vielleicht fühlte sie, dass ihr das Mädchen, das da mit etwas Glück heranwachsen würde, über den Verlust ihrer geliebten Tochter hinweghelfen könnte. Meine Großmutter sah in mir immer einen Teil meiner Mutter: den Teil, der noch lebte. Deshalb wollte sie sich um das kleine Wesen kümmern, in dessen Adern das Blut ihrer Tochter Malika floss.

Außerdem verstand meine Großmutter sofort, dass mein Vater mit der Pflege eines Neugeborenen allein völlig überfordert war. Sie hingegen kannte sich gut mit Kindern aus. Schließlich hatte sie insgesamt 24 davon auf die Welt gebracht und großgezogen.

Meine Mutter war ihre Jüngste gewesen. Aber sie hatte noch eine weitere Tochter, die bislang unverheiratet war. Meine Tante Menzire glich meiner Mutter sehr: Sie ist, ebenso wie meine Großmutter und ich selbst, eine kleine und sehr zierliche Frau. Ihre Haut ist für die Menschen unserer Region eher hell, die Züge ihres Gesichts sind sanft. Außerdem besitzt sie dieselben dunkelbraunen, leicht gewellten Haare, die ihr bis fast zur Hüfte reichen. Und sie war nur eineinhalb Jahre älter als meine Mutter. Deshalb war meine Großmutter sich fast sicher, dass sie meinem Vater ebenfalls gefallen würde. Sie schlug ihm vor, Menzire nach einer angemessenen Trauerzeit zu heiraten. Nach einer kurzen Bedenkzeit erklärte mein Vater sich einverstanden, mit Menzire eine neue Familie zu gründen.

So kam es also, dass ich im Haus meiner Großmutter aufwuchs. Sie wohnte in einem bescheidenen Lehmbau etwas außerhalb des Dorfes Toraklik. Mein Vater und meine Tante lebten in einem anderen Dorf. Wir besuchten sie einmal im Monat, oder die beiden kamen zu uns, um mich zu sehen. Daher habe ich bis heute ein sehr inniges Verhältnis zu ihnen und betrachte Menzire als eine Art Ersatzmutter. Aber meine allererste und wichtigste Bezugsperson war meine Großmutter, eine Frau, die damals zwar schon alt war, aber voller Warmherzigkeit und Güte.

Anfangs hatte sie es sehr schwer mit mir, da ich nach der frühen und tragischen Geburt stark kränkelte. Eine Zeit lang wusste niemand, ob ich ohne Muttermilch überleben würde. Aber meine Großmutter besaß eine Kuh und vier Schafe. Und sie hatte Geduld: Wann immer ich nach Nahrung verlangte, tunkte sie ihren Finger in eine Schale mit Schafsmilch und ließ mich daran nuckeln, als ob es die Brust meiner Mutter wäre. Auf diese Weise gelang es ihr, mich mit viel Mühe langsam aufzupäppeln. Mit der Zeit wurde ich stärker und nahm auch etwas an Gewicht zu. Als ich endlich das Schlimmste überstanden hatte und klar war, dass ich leben würde, freute sich meine Großmutter unbändig über ihr fünfundzwanzigstes Kind. Mit Stolz und Zuversicht sagte sie allen, dass Gott es besonders gut mit ihr gemeint habe.

Großmutter vertrat in vielerlei Hinsicht eine Welt, die es heute gar nicht mehr gibt. Schon damals war diese Welt im Begriff unterzugehen – aber das merkten wir nicht. Mehr als 4.000 Kilometer von Peking entfernt lebten wir in einer Art Paralleluniversum. Sogar unsere Uhren gingen anders, weil die Sonne hier viel später aufgeht als im chinesischen Kernland. Um ehrlich zu sein, war mir in den ersten Jahren meines Lebens nicht einmal klar, dass wir in einem Land namens China lebten: Wenn es um unsere Heimat ging, redeten meine Verwandten immer von Ost-Turkistan. Deshalb glaubte ich selbstverständlich, unser Land hieße auch so.

Die Chinesen, das waren für mich irgendwelche fremden Leute, die schmale Augen, platte Nasen und keine Körperbehaarung hatten. Die chinesischen Frauen flochten ihre Haare nicht zu Zöpfen, und die Männer trugen keine Bärte und Kopfbedeckungen, wie die Leute bei uns im Dorf. Uns Kindern schärfte man ein, dass wir uns vor Chinesen in Acht nehmen und im Zweifel vor ihnen wegrennen sollten, da sie gerne uigurische Kinder verspeisten. Das glaubte ich, das glaubten wir alle. Deshalb waren wir auch heilfroh, dass sich nie ein Chinese in unser Dorf verirrte.

In materieller Hinsicht lebten wir bescheiden, manche würden es ärmlich nennen. Damals empfand ich das jedoch nicht so. Aber wenn ich jetzt zurückblicke und unseren Lebensstandard mit dem in anderen Regionen Chinas vergleiche, erkenne ich es deutlich: Im Haus meiner Großmutter gab es weder Elektrizität noch fließend Wasser. Um unsere Trinkwasservorräte zu erneuern, schickte sie mich täglich mit zwei Eimern zu einem nahe gelegenen See, aus dem die Oase ihr Wasser speiste.

Zu meinen Aufgaben rund um das Haus gehörte es auch, das Vieh zu hüten. Nach dem morgendlichen Melken führte ich unsere Schafe und die Kuh zu wenigen Stellen, an denen genug Gras und Grünzeug wuchs, damit sie sich tagsüber satt fressen konnten. Gleichzeitig musste ich aufpassen, dass mir die Tiere nicht wegliefen. Als ich später zur Schule ging, suchte ich auf dem Weg dorthin Orte, wo ich sie anbinden und zurücklassen konnte, um sie nach dem Unterricht wieder abzuholen.

Wenn ich feststellte, dass ein Tier trächtig war, strahlte das faltige Gesicht meiner Großmutter vor Freude. Lämmer waren uns immer willkommen, denn sie brachten zusätzliche Milch und Wolle, aber auch Fleisch. Einmal gebar ein Schaf sogar zwei Lämmer auf einmal. Meine Großmutter überlegte bereits, was wir damit anfangen würden. »Wir können es verkaufen und uns warme Kleider kaufen – oder wir behalten es und füttern mit der Wolle unsere Jacken«, sagte sie zu mir. Im Winter brauchten wir immer besonders warme Kleider.

Aber Großmutter hatte ihre Pläne ohne das Mutterschaf gemacht. Das nämlich hatte überhaupt keine Lust, zwei Lämmer gleichzeitig zu ernähren. Die Schafsmutter ließ nur das größere Lamm an ihre Zitzen, dem kleineren, schwächeren zeigte sie die kalte Schulter. Es saß jammernd in einer Ecke und schrie nach Nahrung. Ich war entsetzt über so viel Grausamkeit. Meine Großmutter mühte sich vergeblich, die Mutter und ihr Junges zu vereinen. Irgendwann gab sie auf.

»Sie wird es nicht annehmen«, erkannte sie nach unzähligen Versuchen.

»Aber wir können es doch nicht einfach sterben lassen!«

»Nein.« Großmutter wies mich an, im Schuppen nach einer speziellen Flasche zu suchen. Die hatte vorne eine Saugvorrichtung und sah aus wie eine Trinkflasche für Menschen-Babys. Darin füllte sie Milch, die vom Melken übrig geblieben war. »Wir müssen es selbst großziehen«, sagte Großmutter, »das ist jetzt deine Aufgabe.«

So fand ich mich plötzlich in der Rolle der Schafsmutter wieder: Mehrmals täglich gab ich dem kleinen Lamm die Flasche, die es immer hungrig und ungeduldig annahm. Nach ein paar Tagen wurde es stärker und sein Fell flauschiger. Schließlich begann es sogar, die Umgebung außerhalb des Schafstalls zu erkunden. Ich war sehr zufrieden mit meiner Arbeit.

Die Schafe waren unsere Lebensgrundlage und entscheidend für unsere Ernährung. Jedes Jahr, meist zu einem besonderen Anlass, schlachteten wir eines. Das Fleisch lagerten wir in einer Erdgrube unter dem Haus, da wir keinen Kühlschrank besaßen. Viel Fleisch kochten wir aber auch unmittelbar nach dem Schlachten ein, um es an unsere Nachbarn und Verwandten im Dorf zu verteilen. Denn so ist es bei uns Tradition: Jeden Tag kocht eine andere Familie im Dorf und gibt allen Nachbarn etwas ab. Auf diese Weise gibt es oft etwas Warmes zu essen, auch wenn man selbst gerade nichts hat oder einfach nicht kochen mag.

Wir aßen das, was der kleine Garten hinterm Haus so hergab. Dort baute meine Großmutter Rüben, Bohnen, Kartoffeln, Tomaten und allerlei anderes Gemüse an. Außerdem gab es Obstbäume mit leckeren Aprikosen und...

Erscheint lt. Verlag 17.1.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Adrian Zenz • Autonome Region Xinjiang • Bericht einer Uigurin • Biografie • Biographien • China • China Minderheiten • eBooks • Ethnische Säuberung • Exil • Flucht • Folter • Frauenschicksal • Freiheit • Gehirnwäsche • Genozid • Gulbahar Haitiwaji • Haft • Human Rights Watch • Konzentrationslager • Lagerbericht • Memoir • Menschenrechte • Menschrenrechte China • Muslime • Muslimische Minderheit • Neuerscheinung • Peking • Religiöse Minderheit • Tiger Chair • Überwachungsstaat • Uiguren • Uigurin • Umerziehungslager • Unterdrückung • Verfolgung • Verfolgung von Minderheiten • Wang Yi • Xi Jinping • Xinjiang • Xinjiang Police Files • Zwangsarbeit
ISBN-10 3-641-28865-7 / 3641288657
ISBN-13 978-3-641-28865-5 / 9783641288655
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