Der verkannte Mensch (eBook)
512 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-28626-2 (ISBN)
Die britische Archäologin Rebecca Wragg Sykes hat aktuelle Forschungsergebnisse ausgewertet und wagt mit diesem Buch einen neuen Blick auf das Leben unserer unterschätzten Verwandten. Einfühlsam und poetisch zeichnet sie das faszinierende Bild der Neandertaler als kluge Kenner ihrer Welt - technologisch erfinderisch, ökologisch anpassungsfähig, ausgestattet mit einem ästhetischen Sinn und hoch entwickelten sozialen Fähigkeiten. Die unvoreingenommene Auseinandersetzung mit unseren alten Verwandten, die über 300.000 Jahre lang auf dieser Welt lebten und dabei extremen klimatischen Umwälzungen trotzten, lohnt im Zeitalter globaler Pandemien und Umweltkatastrophen mehr denn je. Eine verblüffende Lektüre, die uns Demut lehrt und unseren Ursprüngen näherbringt. Mit stimmungsvollen Zeichnungen und informativem vierfarbigen Bildteil.
Die britische Archäologin Rebecca Wragg Sykes war schon als Kind von den Neandertalern fasziniert. Neben ihrer Forschungstätigkeit ist ihr sehr an der Wissenschaftskommunikation gelegen. Sie publiziert in Printmedien wie The Guardian und The New York Times und spricht in Wissenschaftssendungen über ihre Arbeit. Außerdem ist sie Mitbegründerin des TrowelBlazers Projekts, das sich für mehr Sichtbarkeit von Frauen in der Archäologie und den Geowissenschaften einsetzt. Der verkannte Mensch ist ihr erstes Buch, für das sie 2021 mit dem renommierten Hessell-Tiltman-Geschichtspreis ausgezeichnet wurde.@LeMoustier
www.rebeccawraggsykes.com
Einleitung
Ein Geräusch von jenseits der Zeit erfüllt die Höhle: Nicht das Rauschen der Wellen, denn das Meer ist geflohen, seit die Kälte zugebissen hat und die Berge unter der eisigen Last ächzen. Jetzt umstehen harsche Wände einen weichen, verebbenden Atem, einen langsamer werdenden Herzschlag. Am Ende der Welt blickt der letzte Neandertaler Iberiens in die aufgehende Sonne über dem fernen Mittelmeer. Der steingraue Himmel lichtet sich, das Gurren der Felstauben vermischt sich mit dem Kreischen verirrter Möwen, die schreien wie hungrige Kinder. Doch es sind keine Kinder mehr da, niemand mehr, um mit ihm die Sterne verblassen zu sehen, und niemand ist bei ihm, um zu wachen, bis sich sein letzter Atemzug in der Luft verflüchtigt.
Vierzig Jahrtausende später ist das Meer zurück, die Luft schmeckt nach Salz, Stimmen und Musik hallen durch die Höhle – ein Requiem für einen Traum der Ahnen.
Wir befinden uns in Gorham’s Cave auf Gibraltar, es ist das Jahr 2014. Hier, an der lauschigen Südwestspitze Europas, versammeln sich Archäologen und Anthropologinnen alljährlich zu einer ihrer zahlreichen Neandertaler-Konferenzen. Doch dieses Jahr ist etwas Besonderes. Unter den Besuchern der hallenartigen Höhlen ist auch der Musiker Kid Coma, seinen Kollegen besser bekannt als der Biologe Doug Larson. Zu den Klängen seiner Gitarre singt er vom »letzten Menschen« – einige der jüngsten Neandertalerfunde stammen von der Iberischen Halbinsel und aus diesen Höhlen. Während seine Stimme durch die steinerne Kathedrale hallt, sind Vortragsnotizen, Theoriedebatten oder die Klassifizierung von Steinwerkzeugen vergessen. Die Kollegen lauschen, erfüllt von dem zutiefst menschlichen Bedürfnis, eine Verbindung zur Vorzeit zu spüren. Jemand hatte eine Kamera dabei, und wenn Sie wollen, können Sie diesen bewegenden Moment auf YouTube nacherleben.
Dieses Nachtlied an einer Zehntausende Jahre alten Beinstätte wirft ein Streiflicht auf die Menschen hinter der Wissenschaft. Kaum sind die akkuraten wissenschaftlichen Vorträge beendet, ergehen sich die Kollegen (die ja auch miteinander befreundet sind) in Bars und Cafés zwanglos und leidenschaftlich in Spekulationen. Ihre Gespräche drehen sich um »Traumorte«, bekannte und unbekannte, und darum, ob wir jemals auch nur einen flüchtigen Blick von der Lebenswirklichkeit der Neandertaler erhaschen werden.
In diesem Buch können Sie diesen Gesprächen lauschen. Es richtet sich an Leser, die ein bisschen oder vielleicht auch noch gar nichts von den Neandertalern wissen, an Interessierte und Liebhaber. Aber es könnte sogar etwas für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sein, die das große Glück haben, die Welt der Neandertaler zu erforschen, denn ihre Aufgabe wird zunehmend unüberschaubar: Verschlungene Pfade durch Daten und Theorien werden von immer neuen Entdeckungen überlagert, die zu Richtungswechseln und Kehrtwenden zwingen. Die schiere Masse der Information ist kaum zu bewältigen: Experten haben kaum mehr die Zeit, alle neuen Veröffentlichungen auf ihrem eigenen Spezialgebiet zu lesen, von der gesamten Forschungsliteratur über die Neandertaler ganz zu schweigen. Selbst erfahrene Wissenschaftler stehen verblüfft vor immer neuen Enthüllungen.
Die Neandertaler haben diese breite Aufmerksamkeit und Erforschung verdient. Mehr als jede andere ausgestorbene Menschenart genießen sie die Popularität von Popstars. Auf der Liste unserer frühen Verwandten (der sogenannten Homininen) stehen sie ganz oben, bedeutende Funde werden auf den Titelseiten der Fachblätter und Tageszeitungen verkündet. Unsere Faszination ist ungebrochen, der Begriff »Neandertaler« wird häufiger gegoogelt als »menschliche Evolution«.
Dieser Promistatus ist allerdings zweischneidig. Medienmacher wissen, dass Neandertaler Klicks bringen, und locken ihre Leser mit aufgepeppten Berichten und reißerischen Schlagzeilen wie »X rottete die Neandertaler aus« oder »Neandertaler doch nicht so dumm wie gedacht!«.
Bei aller Begeisterung halten sich Forscher und Forscherinnen in der Öffentlichkeit zurück, um angesichts der dauernden Wenden und Volten nicht dazustehen wie Fachidioten, die von einer Idee zur anderen taumeln. Die Wissenschaft lebt von der Debatte, doch Fachartikel mit neuen Daten und Theorien verraten nichts über das Staunen der Wissenschaftler, dafür aber viel über die gewaltige Dynamik der Forschung. Und weil sich Neandertalerklischees so hartnäckig halten, dringen die faszinierenderen Erkenntnisse der jüngeren Zeit kaum zu einem breiten Publikum durch.
Das große Ganze ist schwer zu erfassen und hat sich dramatisch verändert, seit 1856 einige in einer Kalksteinhöhle in Deutschland gefundene Fossilien1 provisorisch als Überreste einer verschwundenen Menschenart identifiziert wurden. Forscher suchten nach weiteren Überresten dieser rätselhaften Wesen, und zu Beginn des Ersten Weltkriegs wusste man, dass einst zahlreiche Geschwister des heutigen Menschen auf der Erde lebten. Irgendwann gerieten auch die vielen gefundenen Steinwerkzeuge in den Blick, und damit begann die ernsthafte Beschäftigung mit der Kultur der Neandertaler. Allmählich klärte sich der zeitliche Rahmen: Mitte des 20. Jahrhunderts wurden zum Teil weit auseinanderliegende Fundstätten, die zuvor frei durch Raum und Zeit geschwebt waren, mithilfe neuer Datierungsmethoden und der Geochronologie auf dem Zeitstrahl verankert und miteinander verknüpft. Von diesem Fundament aus betrachten wir heute, sieben Jahrzehnte später, das weite Panorama der Welt der Neandertaler, das viele Millionen Quadratkilometer und 350000 Jahre überspannt.
In anderer Hinsicht ist die Archäologie des beginnenden 21. Jahrhunderts jedoch Welten von ihren Anfängen entfernt. Die ersten Forscher waren bei der Rekonstruktion der Vergangenheit auf Knochen und Steine angewiesen, während heutige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über Techniken verfügen, die ihren Vorgängern als futuristische Spinnerei erschienen wären. Fundstätten werden nicht mehr mit Tusche und Papier kartiert, sondern mit Lasergeräten, und Experten untersuchen Objekte, an die man vor einem Jahrhundert nicht einmal im Traum gedacht hätte. Wenn wir Fischschuppen, Federäste oder die Mikrogeschichte einzelner Feuerstellen untersuchen, machen wir unsere Entdeckungen genauso häufig mit dem Mikroskop wie mit Kelle und Pinsel.
Wir können den Neandertalern fast über die Schulter blicken und die wenigen Minuten rekonstruieren, in denen einer von ihnen aus einem Stein ein scharfes Werkzeug herstellte, auch wenn dies 45000 Jahre zurückliegt. Die statische Fundstätte wird dynamisch: Wir können zusehen, wie Werkzeuge hin und her und in die Umgebung hinausgetragen werden. Wir wissen sogar, woher die Steine stammen, aus denen sie gefertigt wurden. Außerdem können wir heute tief in den Körper der Neandertaler hineinblicken. In Zähnen können wir zum Beispiel tägliche Wachstumslinien entdecken, aus mikroskopischen Kratzern im Zahnschmelz können wir Rückschlüsse auf die Ernährung ziehen, und wir können sogar den Rauch des Feuers »riechen«, der sich im Zahnstein eingelagert hat.
Diese Fülle von Informationen hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einer Renaissance der Neandertalerforschung geführt. Eine verblüffende Erkenntnis nach der anderen machte Schlagzeilen und vermittelte uns ein ganz neues Verständnis von ihren Lebensräumen und Zeithorizonten, ihren Werkzeugen, ihren Ernährungsgewohnheiten und der symbolischen Dimension ihrer Welt. Das Erstaunlichste war vielleicht, dass man aus unscheinbaren Knochensplittern und winzigen Mengen Höhlenerde ganze Genome rekonstruieren und einst belächelte Geschichten über die Liebe zwischen den Spezies herauskitzeln konnte.
Mithilfe raffinierter Geräte können wir aus jeder beliebigen Substanz ganze Bibliotheken von Informationen herauslesen, doch um diese richtig zu verstehen, muss man genau wissen, wie diese Fundorte entstanden sind. Die Launen von jahrtausendelanger Erosion und Konservation haben uns nur Bruchstücke hinterlassen. Vor jeder Analyse muss die Position jedes Fundstücks exakt festgehalten werden, um jede Schicht als Ganzes zu verstehen. Vor langer Zeit zerbrochene Teile werden wieder zusammengefügt, und die Bodenbeschaffenheit, der Winkel von Steinabschlägen oder die Verwitterung von Knochensplittern tragen zur Entschlüsselung einer Fundstätte bei. Aus diesem zerfledderten und durcheinandergewirbelten Archiv erhalten wir eine Ahnung von der Geschichte.
Für Archäologen und Archäologinnen ist die Ausgrabung ein berauschender Moment, doch danach müssen die Zehn- oder Hunderttausende von gefundenen Objekten gereinigt, etikettiert und in versiegelten Behältnissen verwahrt werden. In Datenbanken aufgenommen sind sie eine unschätzbare Ressource, mit deren Hilfe wir die Schnittstelle zwischen Geologie, Umwelt und homininem Leben erforschen können. Das hat auch unseren Blick auf die alten Sammlungen der Museen verändert. Selbst die »klassischen« Fundorte, die oft jährlich von Tausenden Touristen besucht werden, geben durch die modernen Analysemethoden unerwartete Geheimnisse preis. Dank dieser Forschung haben wir heute so präzise Antworten wie noch nie bisher auf grundlegende Fragen wie »Was haben die Neandertaler gegessen?«.
Allerdings zeigt schon ein kurzer Exkurs in die Wissenschaft der Ernährung der Neandertaler, wie komplex solche vermeintlich einfachen Fragen sind. Nicht nur, weil so viele Materialien und Methoden zur Verfügung stehen – Tierknochen werden genauso herangezogen wie mikroskopische Abnutzungsspuren auf Zähnen und Steinwerkzeugen sowie erhaltene Speisereste und die chemische und...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2022 |
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Übersetzer | Jürgen Neubauer |
Zusatzinfo | mit 8-seitigem vierfarbigen Bildteil |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Kindred. Neanderthal life, love, death and art |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Archäologie • eBooks • Geschichte • Geschichte der Menschheit • Neandertaler • Neanderthaler • neue Erkentnisse • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2022 • Paleo • Steinzeit • Urmenschen |
ISBN-10 | 3-641-28626-3 / 3641286263 |
ISBN-13 | 978-3-641-28626-2 / 9783641286262 |
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Größe: 17,4 MB
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