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Sag mir nicht, wer ich bin (eBook)

Über die Sehnsucht nach Identität und die Freiheit, nirgends hineinzupassen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44074-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sag mir nicht, wer ich bin -  Julia Wadhawan
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Schluss mit der Polarisierung! Julia Wadhawans Vater kommt aus Indien, nur Inder will er keiner sein. Zu Hause spricht er Deutsch, liebt Schnitzel und gibt seiner Tochter zu verstehen: Wir sind eine ganz normale, deutsche Familie. Doch das sehen nicht alle so. Zwischen den Zuschreibungen der anderen entwickelt Julia eine Abneigung gegen jede Form von Gruppenzugehörigkeit - bis sie als Journalistin nach Indien reist und das Land sie zwingt, sich zu positionieren. Entlang von Hautfarbe, Religion und Herkunft zeigt die Autorin globale Strukturen auf, die unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung mehr bestimmen als Nationalitäten. »Sag mir nicht, wer ich bin« ist das persönliche und engagierte Plädoyer dafür, Vielfalt zuzulassen und dabei Haltung zu finden.

Julia Wadhawan, geboren 1987, lebt in Hamburg. Sie arbeitet als freie Journalistin u.a. für >Die Zeit<, >Spiegel< und >Deutschlandfunk Nova<, vor allem zu Digitalisierung, sozialer Gerechtigkeit, Entwicklungspolitik - und Indien. Von dort berichtet sie über Politik und Gesellschaft. Julia Wadhawan wurde u.a. als Fachjournalistin des Jahres ausgezeichnet und war Medienbotschafterin im deutsch-indischen Austauschprogramm der Robert Bosch Stiftung.

Julia Wadhawan, geboren 1987, lebt in Hamburg. Sie arbeitet als freie Journalistin u.a. für ›Die Zeit‹, ›Spiegel‹ und ›Deutschlandfunk Nova‹, vor allem zu Digitalisierung, sozialer Gerechtigkeit, Entwicklungspolitik – und Indien. Von dort berichtet sie über Politik und Gesellschaft. Julia Wadhawan wurde u.a. als Fachjournalistin des Jahres ausgezeichnet und war Medienbotschafterin im deutsch-indischen Austauschprogramm der Robert Bosch Stiftung.

1 Verlustangst


Die Nachricht, vor der ich mich gefürchtet habe, kommt nicht überraschend, und doch trifft sie mich wie eine Ohrfeige. Papa hat sie offensichtlich in Eile geschrieben, aber die Botschaft ist deutlich.

Ich werde Indien hundertprozentig verlassen.

Es sind nur ein paar Worte über WhatsApp, aber ich kann beinahe hören, wie er sie mit dem Volumen eines Schlagbohrers herauspresst, laut, tief und unnachgiebig. Ich sitze auf zwei zusammengeschobenen Sesseln neben der geöffneten Terrassentür, die Beine ratlos ausgestreckt. Tee dampft aus einer bauchigen Tasse. So dunkel und grau der November in Hamburg auch sein kann, hier in Neu-Delhi fühlt er sich an wie Spätsommer. Nur ein bisschen staubig riecht es auch jetzt, am Morgen, obwohl sich die Luft über Nacht von den Ausdünstungen der Stadt erholen konnte. Draußen spielt das übliche Konzert einer indischen Metropole: Autoreifen auf Asphalt, Hup-Dialoge zwischen freundlicher Ankündigung und aggressivem Geh-mir-aus-dem-Weg, Gemüsehändler, die ihr Sortiment auf Fahrradtheken gestapelt klingelnd am Straßenrand entlangschieben. Unser kleiner Vorgarten wirkt dabei wie eine Irritation, ein Fehler. Zucchinis ziehen sich an der Erde entlang, grüne Tomaten hängen noch schüchtern in den Sträuchern. Eine weiße Mauer fängt meinen Blick auf die Straße ab, und ich frage mich, wie bei Mauern jeder Art, ob sie mich eigentlich schützen, und wenn ja, warum ich dann das Gefühl nicht loswerde, gleichzeitig eingesperrt zu sein.

Bin ich zu unvorsichtig geworden – war ich es immer? Leichtsinnig, einfältig? Ich fühle mich wie eine Wand, die eben noch mit ihrem Betonfundament protzte und jetzt kleinlaut nachgibt. Schuld, Trauer, das Gefühl von Ungerechtigkeit. Ich kann nicht sagen, was davon mir am meisten in der Brust zwickt. Ist es meine Schuld, dass Papa das Haus meiner Großeltern, in dem ich gerade sitze, verkaufen will? Weil ich den Golddring auf dem Nachttisch liegen ließ und er jetzt weg ist? Weil ich auf etwas Wertvolles nicht Acht gab? Und nun fehlt nicht nur der Schmuck, ich bin im Begriff, gleich mehrere Zuhause zu verlieren: einen Menschen in Deutschland, der mir diesen Ring als Zeichen seiner Liebe geschenkt hat. Ein Haus, das mir womöglich mehr bedeutet, als ich wahrhaben wollte. Und mit dem Haus auch die Verbindung zu einem Land, dem ich nah sein wollte, mit dem ich aber am ehesten eine unverbindliche Fernbeziehung führe.

Cousin Sharad analysiert nicht richtig ernst, aber auch nicht komplett ironisch: »Eigentlich ist es Tonys Schuld. Weil er Julia nicht besser erzogen hat.« Tony, das ist mein Vater. Es ist 2019, ich bin 32 Jahre alt und offenbar immer noch nicht in der Lage, mich einigermaßen würdevoll durchs Leben zu bewegen. Durch Indien. Papas Land. »Das ist nicht mein Land«, höre ich ihn in meinen Gedanken antworten, dabei schüttelt er den Kopf, als wolle er eine lästige Fliege abwimmeln. Nur weil er hier geboren ist, zur Schule ging, schätzungsweise 90 Prozent seiner Familie hier leben, hat er keinerlei Besitzansprüche an diesen Ort. Eigentlich finde ich das eine fortschrittliche Einstellung, Besitzansprüche kämpfen ja heutzutage nicht nur in Gesellschaft und Liebe um Berechtigung. Papa bezeichnet sich jedenfalls weder als Inder noch als Deutscher, er sei Weltbürger. »Mein Zuhause ist mein Körper!«, hat er mehr als einmal gesagt. Ein gemütliches Zuhause, eingewickelt in mehrere Schichten gespeicherte Energie, die sich vor allem um den Bauch spannen. Damit die Energie nicht über weniger eingewickelte Körperteile verloren geht, trägt Papa gern eine französische Baskenmütze auf dem zarten grauen Haar, ein bisschen schief, und, wenn es sehr kalt ist, Wollmützen. Im Sommer setzt er den kolumbianischen Basthut auf, den ich ihm von meiner Südamerikareise mitgebracht habe. Mit seiner braunen Haut und einem gespannten weißen T-Shirt über dem Bauch sieht er dann aus wie ein kolumbianischer Kaffeebauer. Seine Ohren bleiben bei jeder Kopfbedeckung frei, vielleicht, um ihn nicht am »selektiven Hören« zu hindern, wie er das nennt. Papa hört öfter schlecht, weil er nicht anders kann. Und manchmal, weil er nicht anders will.

Ich wusste, dass die Situation mehr nach sich ziehen würde als nur ein bisschen Ärger. Am liebsten hätte ich sie einfach allein gelöst. Am Morgen hatte ich meinen Ring ausgezogen, weil er mir beim Yoga ständig auf den Knöchel gerutscht war. Als ich daran denke, kann ich ihn nirgends finden, und ein Verdacht beschleicht mich. Unter kleinen Tuben Hotellotion, Taschentuchpäckchen und verstaubten Moskitosprays krame ich mein Schmucktäschchen hervor. Die goldenen Armreifen, die Oma Rup mir geschenkt hatte, sind auch weg. Die eine Erinnerung an sie, die mehr war als ein paar unklare Bilder und verschwommene Gefühle. Natürlich geht es nicht um den materiellen Wert, sondern darum, wofür die Armreifen, der Ring stehen: Familie, Liebe, Zuhause. Das ist doch das Wichtigste im Leben, und ich lasse es sozusagen achtlos herumliegen, bis jemand anders Gefallen daran findet. Jemand, den ich kenne und der nur ein paar Meter weiter so tut, als wüsste er von nichts?

Ich bin allein im Haus meiner verstorbenen Großeltern im Süden von Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Also, fast allein. In der Küche schneidet Radhe Zwiebeln; ein halbstarker Junge mit James-Dean-Frisur schaut zu und gleichzeitig ständig auf sein Handy. Freundliche Gemüter, friedliche Koexistenz. Sie stellen kaum Fragen, ich gebe kaum Antworten und versuche, immer aufmunternd zu lächeln. Ich glaube zwar, dass sie das irritiert, aber sie nicken mir dann zu. Radhe kocht außerdem hervorragend. Er führte mal ein kleines Restaurant. Wir sprechen verschiedene Sprachen und denken manchmal, einander verstanden zu haben, die meiste Zeit aber hoffen wir das vor allem.

Der James-Dean-Junge hat außerdem einen großen Bruder, wir kennen die beiden schon lange. Ihr Vater Ahmed arbeitete bestimmt 15 Jahre für uns, bevor er vor ein paar Monaten plötzlich starb. An seiner Stelle fährt jetzt der älteste Sohn den Wagen. Ein stiller Anfang-20-Jähriger mit dünnen Beinen und sorgfältig gezwirbeltem Schnauzbart. Jamal. Ahmed saß im Auto in letzter Zeit häufig auf dem Beifahrersitz und redete pausenlos auf ihn ein. Die Bedeutung der Worte ging an mir vorbei, aber sein Ton war deutlich: Der Vater erteilte seinem Sohn Lektionen. Nur der erhobene Zeigefinger fehlte. Jamal hörte zu oder auch nicht, jedenfalls zeigte er keinerlei Reaktion, und davor hatte ich großen Respekt. Wenn ich mich um eine Konversation bemühte und ihn in gebrochenem Hindi fragte, wie es ihm ging (viel mehr fiel mir nicht ein), strahlten mich seine Augen für eine Sekunde an, bevor sie verschämt den Boden suchten.

Es ist nicht so, dass wir einander kennen würden. Wir können kaum drei Sätze miteinander wechseln. Trotzdem kam er mir in den letzten Tagen komisch vor, anders als sonst. Seine Augen waren glasig, er wich meinem Blick aus und huschte ins Hinterhaus, sobald er mich mit dem Auto am Eingang abgesetzt hatte. Ich schäme mich, das anzunehmen, aber ich glaube, er hat mich beklaut. Und in dieser Scham fühle ich mich ihm auf absurde Weise verbunden.

Wir haben beide versagt. Ich habe zugelassen, dass sich unser Zuhause in Neu-Delhi, das meine Eltern so lange mühsam aufrechterhalten haben, nicht mehr sicher anfühlt. Dass ich diesen Jungen dazu verleitet habe, das Erbe seines Vaters zu verraten, der so lange unser Vertrauen genoss. Weil mich meine westliche Wohlstandsnaivität blind gemacht hat für die Realität. Goldschmuck, bei wem wecke ich da schon Begierden? Nur die verwöhnte Seele denkt sich dabei nichts.

Papa hat nicht vor, mich zu trösten. Bei jeder WhatsApp-Nachricht vibriert das Telefon in meinem Schoß.

Schade, dass es so enden muss!

Was endet wie?

Dass du deine wertvollsten Sachen herumliegen lässt. Und jetzt sind sie weg

Ich hatte sie in einer Schublade! In einer Tasche, ganz weit unten!

Bullshit, du bist voll doof.

Sicher hat er Recht. Das alles ist und war eine wirklich blöde Idee, und dieser Vorfall ist nur ein Zeichen vom Universum, mir das mitzuteilen. Andererseits, kann das nicht jedem passieren? Ich versuche mir und Papa einzureden, dass wir sachlich bleiben sollten, statt Dinge zu sagen, die wir gar nicht so meinen. Aber hier liegt offenbar das Problem: Papa meint es genauso.

Für mich ist Indien Vergangenheit …

Ok. Für mich nicht.

Das ist deine Zukunft, nicht meine.

Neben mir wölben ein paar Auberginen ihre dunkel-violetten Bäuche, als wüchsen sie auf offenem Feld und nicht inmitten von Großstadtlärm und Staubluft. Sind sie genauso doof wie ich? Mein Handy vibriert wieder. Wie ernst es Papa meint, kann ich daran erkennen, dass er zwar die Sprache wechselt, die Botschaft aber unverändert bleibt.

I am exiting for sure, if you feel comfortable, let me know your intention.

Meine Absichten. Naja, zusammengefasst spiele ich mit dem Gedanken, bei einem Mann in Indien zu bleiben, statt in meine Beziehung und mein Leben nach Deutschland zurückzukehren. Mich beschleicht das leise Gefühl, dass sich Papa auch deswegen etwas angespannt verhält.

Während ich die weiße Mauer unseres Vorgartens anstarre, sacke ich innerlich enttäuscht zusammen. Projekt generationsübergreifende Rückintegration abgebrochen. Ich komme mir lächerlich vor, wie ich in diesem Land sitze, das nicht meines ist, und...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alice Hasters • Auf der Suche nach meinen Wurzeln • ausgewandert • Auswandern • CouchSurfing • Das deutsche Krokodil • Debattenbuch • Delhi • Der weiße Fleck • Deutschland • Emanzipation • Familie • Feminismus • Fremdheit • Geschlechterrollen • gesellschaftspolitisches Debattenbuch • Gleichberechtigung • Hamburg • Hautfarbe • Heimat • Herkunft • Identität • Ijoma Mangold • Indien • Indisch • Journalismus • Liebe • Linda Zervakis • Memoir • Migrationsgeschichte • Mohamed Amjahid • Mumbai • politisches Geschenkbuch • Rassismus • Reise • Religion • Reportage • Roots • Sara Nuru • Stephan Orth • Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten • Wohlstand • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-423-44074-0 / 3423440740
ISBN-13 978-3-423-44074-5 / 9783423440745
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