Wozu das alles? (eBook)
496 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491568-5 (ISBN)
Christian Uhle, geboren 1988, ist Philosoph und lebt in Berlin. Die Frage nach dem Sinn treibt ihn seit Jahren um. Als Wissenschaftler hat er zu gesellschaftlichen Transformationen geforscht und seine Perspektiven in zahlreichen Vorträgen und Gastbeiträgen öffentlich gemacht. Er war philosophischer Berater der Arte-Serie »Streetphilosophy«, ist Host mehrerer Veranstaltungsreihen und verkörpert eine engagierte, junge Philosophie.
Christian Uhle, geboren 1988, ist Philosoph und lebt in Berlin. Die Frage nach dem Sinn treibt ihn seit Jahren um. Als Wissenschaftler hat er zu gesellschaftlichen Transformationen geforscht und seine Perspektiven in zahlreichen Vorträgen und Gastbeiträgen öffentlich gemacht. Er war philosophischer Berater der Arte-Serie »Streetphilosophy«, ist Host mehrerer Veranstaltungsreihen und verkörpert eine engagierte, junge Philosophie.
Uhle gelingt ein tiefgreifendes philosophisches Porträt des heutigen Menschen und all dessen, was einem sinnerfüllten Leben im Wege steht.
Der Autor liefert in seinem Buch nicht die eine knackige Antwort. Er bietet mehrere Antworten und es macht zweifellos Sinn, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Man fühlt sich von ihm ins Gespräch gezogen über die großen Fragen des Lebens
eine wunderbar anschauliche und sinnliche Reise auf der Suche nach dem sinnvollen Leben
Letzte Vorbehalte verfliegen mit der Lektüre, so nachvollziehbar, verständlich und überzeugend dröselt Uhle die Sinnfrage auf.
Sinnloser Sinn und wertlose Zwecke
Um die Sinnfrage zu beantworten, müssen wir sie zuerst besser verstehen. Schicht für Schicht wollen wir sie entblättern und freilegen. Vollständig haben wir sie noch nicht erfasst, aber erste Erkenntnisse können wir festhalten.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens kann verstanden werden als die Frage nach einem Zweck, welcher unserer Existenz vorausgeht. Doch den könnte es nur geben, wenn uns ein göttliches Wesen mit einer bestimmten Absicht erschaffen hätte. Erklären wir die Welt hingegen wissenschaftlich, müssen wir sie als zwecklos und in dieser Hinsicht als sinnlos begreifen.
Das mag ein Nährboden sein, auf dem Sinnkrisen in der gesellschaftlichen Moderne besonders gut gedeihen. Aber haben wir damit den Kern der Sinnfrage erfasst, ist dies wirklich das Problem?
Kehren wir noch einmal zum Zweifel zurück: In Momenten der Sinnkrise fühlen wir uns wertlos und überflüssig. Ein höherer Sinn, ein Grund, weshalb wir auf der Erde sind, könnte diese Gefühle möglicherweise auflösen. Dann gäbe es einen verborgenen Zweck, dem unser Leben insgeheim dient – oder dienen sollte. Doch »Gott ist todt!«, das bedeutet auch: Wir können keinen »höherstehenden Handwerker« erkennen, der irgendetwas im Sinn hatte, als er uns erschuf. Dieser Gedanke kann schmerzen. Aber warum eigentlich? Was ist daran so tragisch?
Man könnte an dieser Stelle ja einwerfen, ein festgelegter Zweck unserer Existenz würde vor allem Unfreiheit bedeuten. Denn würde er uns nicht auf eine bestimmte Lebensweise verpflichten? »Wie gut, dass es keinen solchen Sinn gibt!«, könnte man deshalb ausrufen, anstatt sein Fehlen zu betrauern. Und würde uns ein solcher Sinn nicht zu einem bloßen Mittel herabwürdigen? Schließlich würden wir dann nur existieren, um irgendeine Funktion zu erfüllen, wie ein Ding, wie ein Messer, das keinen Wert an sich hat, sondern nur einen abgeleiteten Wert, weil es für irgendetwas nützlich ist. Ja, kommen darin nicht sogar oberflächliche, geradezu kapitalistische Vorstellungen zum Ausdruck, nämlich, dass wertlos ist, wer keinen Zweck erfüllt?
Das ist ein durchaus gewichtiger Punkt. Wenn wir, wie Aristoteles, über den Sinn des Lebens nachdenken wie über den Sinn von Messern, dann betrachten wir Menschen als Objekte, meist als Objekte einer göttlichen Schöpfung. In dieser Geschichte ist der Mensch reichlich passiv; er wurde zu irgendeinem Zweck erschaffen und darin besteht nun sein Lebenssinn. Diese Vorstellung blendet einen entscheidenden Punkt aus: Menschen sind Subjekte, sie selbst sind schöpfende und gebärende Wesen – sie sind Wesen, die einen Anfang machen können, um mit Hannah Arendt zu sprechen.[1]
Aristoteles fragte nach dem Sinn von Menschen wie nach dem Sinn von Etwas. Wir aber sind Jemand! Daher noch einmal: Was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn es keinen Zweck und Grund gäbe, weshalb Menschen auf dieser Erde sind?
Wenn wir uns überlegen, in welchen Situationen die Frage nach dem zweckhaften Sinn auftaucht – und zwar als eine existenziell wichtige Frage –, dann sind dies Momente, in denen uns all unser Tun sinnlos vorkommt. Als wäre letztlich alles vergeblich, nichts wirklich wichtig. Wir sind zwar Wesen, die einen Anfang machen können. Aber welcher Anfang lohnt schon?
Und so ist dies die zentrale Sehnsucht hinter der Frage nach einem zweckhaften Sinn: Wir wünschen uns eine Aufgabe, für die es sich einzusetzen, zu leben und im Zweifel auch zu leiden oder sogar zu sterben lohnt. Wir fragen nicht aus bloßem Wissensdurst nach einem Zweck unserer Existenz, sondern aus praktischen Gründen: um unser Leben daran auszurichten. Der Sinn des Lebens soll uns einen Kompass an die Hand geben.
Wer nach Sinn sucht, möchte nicht bloß die Welt etwas besser verstehen, sondern auch wissen: »Was ist der Sinn, von dem ich mich leiten lassen sollte? Wie soll ich leben?« Es ist die Sehnsucht, im täglichen Handeln einen tieferen Zweck, eine Bestimmung, zu erkennen und umzusetzen.
In den meisten Religionen werden solche Fragen beantwortet. Die Begründung menschlichen Daseins wird unmittelbar an konkrete Aufgaben gekoppelt. Zu den ältesten bekannten Schöpfungsmythen gehört das etwa 1800 v.Chr. entstandene Atrahasis-Epos. Diese sumerische Geschichte berichtet von einem folgenschweren Streit: Vor langer Zeit lebte eine Vielzahl von Göttern. Doch das göttliche Dasein war nicht immer spaßig, zumindest nicht für die Igigu. Diese niederen Götter mussten für die Anunnaki arbeiten. Mühsam hielten sie die Bewässerung der Felder aufrecht und legten ganze Flüsse an. Währenddessen teilten die Anunnaki den Wohlstand unter sich auf. Bis es zu einer Rebellion kam: Mitten in der Nacht umzingelten die Igigu das Haus von Enlil, einem mächtigen Gott der Anunnaki, und erklärten ihren Streik. Erschöpft und wütend waren sie, weigerten sich, auch nur einen weiteren Spatenstich zu tun. Die Situation war angespannt, Verhandlungen scheiterten, es drohte Blutvergießen. Schließlich fanden die höheren Götter einen Ausweg aus der heiklen Lage: Sie erschufen den Menschen. Problem gelöst. Von nun an konnten sich beide Götterfamilien entspannen –, denn alle harte Arbeit wurde vom Homo sapiens übernommen.[2]
Es drängt sich der Verdacht auf, dass einige Menschen im alten Babylon wesentlich mehr von diesem Mythos profitierten als andere. Ja, dass Fragen über den Sinn und Unsinn des Lebens häufig auch Machtfragen sind. Aber dazu später mehr.
»Los, arbeite! Dazu wurde deine Spezies erschaffen!«, dröhnt es aus dem Himmel. Ein solcher Sinn muss aktiv verwirklicht werden. Jedes Menschenleben hat gemäß dieser Erzählung zwar prinzipiell einen Sinn, ist aber erst dann sinnvoll, wenn auch gearbeitet wird.
Wäre das eine befriedigende Antwort auf die Sinnfrage? Was die Menschen im antiken Mesopotamien darüber dachten, wissen wir nicht, aber das ist für unsere Reise auch nicht wichtig. Entscheidend ist vielmehr die grundsätzliche Frage: Wäre jeder göttliche Zweck gleichermaßen geeignet, um das eigene Leben als sinnvoll zu erfahren?
Wohl kaum. Ein wertvoller, wichtiger Zweck soll es sein, eine wahrhaft lohnende Aufgabe! Möglicherweise würde ein solcher Sinn von uns verlangen, alles über den Haufen zu werfen und ganz anders zu leben. Vielleicht würden wir auch erkennen, dass unser alltäglicher Kampf bereits einen tieferen Sinn hat, der uns bisher verborgen war. Dann könnten wir weitermachen wie bisher, wären aber mit unserem Schicksal versöhnt.
Das ist der Kern der zweckhaften Sinnfrage: Wir wünschen uns ein Ziel, an dem wir erstens unser Leben ausrichten können und das wir zweitens als wertvoll ansehen können. Ob es eine Begründung gibt, weshalb wir existieren, ist also gar nicht entscheidend.
Das wird auch deutlich, wenn wir uns vorstellen: Vor langer Zeit, lange bevor es Menschen gab, begegneten sich die geniale Göttin Agnes und der schöne Gott Bernd unweit jenes Ortes, an dem die Götter leben. Es war Liebe fast auf den ersten Blick, und die beiden verbrachten viele glückliche und leidenschaftliche Jahrhunderte miteinander. Mit der Zeit begannen sich die beiden jedoch zu langweilen, ihnen gingen die Gesprächsthemen aus, und die körperliche Anziehung verblasste. Agnes konnte sich die Zeit mit Poesie und Mathematik vertreiben. Doch Bernd war leider, so überirdisch schön er war, von eher einfachem Verstand und Humor. Gedichte und Zahlen waren nichts für ihn; er brauchte simplere Unterhaltung. Eines Tages kam Agnes eine Idee. Als Jugendlicher hatte der Gott Caspar zu Übungszwecken einen Planeten erschaffen, die sogenannte Erde. Auf ihm nun schuf Agnes die Menschen, eine rundum lächerliche Spezies. Ein voller Erfolg: Von nun an lebte das Götterpaar wieder in trauter Harmonie. Während Agnes ihren Forschungen nachging, konnte sich Bernd über das absurde Verhalten der Menschen amüsieren und war nicht mehr so schrecklich gelangweilt.
Diese Schöpfungsgeschichte spricht der Menschheit einen glasklaren Zweck zu, nämlich dem gelangweilten und dümmlichen Gott Bernd (nur ein Gott unter vielen) als Entertainmentprogramm zu dienen. Ungefähr wie im Reality-TV à la Big Brother. Obwohl es in diesem Szenario einen ganz eindeutigen Sinn des Lebens gibt, würden wir unser Dasein wohl als ziemlich sinnlos empfinden, glaubten wir daran. Denn es ist schwer, die Rolle als Bernds Hofnarr wirklich wichtig zu nehmen.
Auch der amerikanische Philosoph Robert Nozick (1938– 2002) argumentiert in diese Richtung und entwickelt ein eindrückliches Gedankenexperiment. Nozick stellt sich vor, Gott hätte die Menschheit erschaffen, um vorbeireisenden Außerirdischen als Nahrung zu dienen.[3] Er kommt zu dem Schluss, dass dieser klar definierte Sinn des Lebens hochgradig unbefriedigend wäre. Das hat verschiedene Gründe. Erstens würde uns dieser Zweck keinerlei Orientierung bieten, weil er nicht unser Zutun erfordert –, er macht uns zu einem passiven Nahrungsmittel. Zweitens kann ein Zweck unserer Existenz nur dann sinnstiftend sein, wenn wir ihn als wertvoll erachten. Vorbeireisenden Aliens als Lunchpacket zur Verfügung zu stehen ist jedoch alles andere als bedeutsam. Ähnliches würde gelten, wenn Gott uns erschaffen hätte, um Grashalme zu zählen. Bernd, Aliens, Grashalme – all diese Zwecke stellen nicht die Art von Sinn dar, nach der wir suchen. Ein wertvoller Zweck soll es sein, nicht irgendeiner.
Alles andere würde einen sinnlosen Sinn darstellen. In diesem Fall gibt es zwar einen...
Erscheint lt. Verlag | 27.4.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aristoteles • Das gute Leben • Friedrich Nietzsche • Gilgamesch • Günther Anders • Hannah Arendt • Jean-Paul Sartre • Krise • Mihaly Csikszentmihalyi • new work • Orientierung • Philosophie • Platon • Psychologie • Schicksal • Sinnfrage • Sisyphosmythos • Soziologie • Walter Terence Stace • work life balance |
ISBN-10 | 3-10-491568-7 / 3104915687 |
ISBN-13 | 978-3-10-491568-5 / 9783104915685 |
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