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Ich möchte lieber nicht (eBook)

Spiegel-Bestseller
Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60073-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich möchte lieber nicht -  Juliane Marie Schreiber
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Warum positives Denken uns nicht weiterbringt, Schimpfen aber schon Dieses Buch ist ein Aufruf zum Widerstand gegen die Ideologie unserer Zeit: den Zwang des Glücks. Ratgeber und Duschbäder fordern uns auf, positiv zu sein. Wir sollen Scheitern als Chance begreifen und ständig unser Selbst entfalten. Doch der Terror des Positiven nervt, belastet jeden von uns und schwächt den Zusammenhalt: Wir betrachten Glück als Prestige und verstehen politische Probleme als persönliches Versagen. Das zeigt nicht nur die psychologische Forschung, sondern auch die Geschichte. Dagegen hilft nur Rebellion: Schimpfen ist Ausdruck gelebter Freiheit, ohne Schmerz gibt es keine Kunst, und Wut ist der Motor des Fortschritts. Denn die Welt wurde nicht von den Glücklichen verändert, sondern von den Unzufriedenen. »Die Wahrheit tut weh, darum wird Schreibers Buch Sie nicht glücklich machen. Aber es wird Sie zum Denken bringen, und das ist das Einzige, was heute zählt.«Slavoj ?i?ek »Beschissen drauf sein endlich wieder salonfähig machen! Das Wort ?negativ? endlich wieder positiv besetzen!«Shahak Shapira

Juliane Marie Schreiber, geboren 1990 in Ost-Berlin, ist Politologin und freie Journalistin. Ihr Buch »Bilder als Waffen« erhielt den sicherheitspolitischen Wissenschaftspreis »Aquila Ascendens«. Als freie Journalistin schreibt sie unter anderem für ZDFheute, den Freitag und das Philosophie Magazin. Sie ist im Team von Jung & Naiv und hat dort eine eigene Interviewreihe. Schreiber studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Berlin und Paris und arbeitete für Stiftungen und im Bundestag. Für ihre Dissertation forscht sie zum »Krieg gegen den Terror«.  

Juliane Marie Schreiber, geboren 1990 in Ost-Berlin, ist Politologin und freie Journalistin. Wenn sie nicht zu Pessimismus forscht, beschäftigt sie sich mit den Themen Krieg, Terror, Gewalt und Armut. Ihr Buch »Bilder als Waffen« erhielt den sicherheitspolitischen Wissenschaftspreis »Aquila Ascendens«. Schreiber studierte Politik, Soziologie und Kulturwissenschaft in Berlin und Paris und arbeitete als Redenschreiberin für Stiftungen und Abgeordnete des Bundestags. Als freie Journalistin schreibt sie u. a. für den Freitag, ZDFheute, das Philosophie Magazin und Die Welt. Sie gehört zum Team von Tilo Jung und setzt ihre eigene Interviewreihe bei Jung & Naiv ab November 2020 fort. Für ihre Dissertation forscht sie zu »Weaponized Narratives«.

Scheitern als Chance


Warum sollte man in der Welt leben,
ohne das Gewicht der Welt zu spüren?

Karl Ove Knausgård (Sterben)[22]

 

Es ist ein grauer Sonntag im Oktober, als ich durch den Nieselregen ins Altenheim fahre. Meine Großmutter ist seit einiger Zeit ein Pflegefall und unsere Verbindung schon immer innig, darum besuche ich sie, so oft es geht. Im Flur von Etage 5 angekommen, schlägt mir jedes Mal eine sterile Anonymität entgegen. Das Surren der Leuchtstoffröhren, an denen bläuliches Licht an mintgrün gestrichenen Wänden abperlt. Es riecht beißend, nach Essigreiniger und Desinfektionsmittel. Aus den Zimmern dringen die Laute der Alten, ein Schnarchen, Ächzen und Wimmern. Pfleger in hellblauen Kitteln eilen vorbei, die gar nicht wissen, was sie zuerst tun sollen. Hier wird das Altsein verwaltet.

Im Zimmer meiner Großmutter setze ich mich an ihr Bett und reiche ihr die Schnabeltasse mit stark verdünntem Milchkaffee. Gegenüber, am Bett ihrer Zimmernachbarin, steht ein junger Mann, der mich beim Eintreten ignoriert hat. In seinen Turnschuhen federt er vor seiner Großmutter auf und ab. Er doziert etwas. Dann tritt er näher an sie heran und liest doch tatsächlich einen Spruch vom großmütterlichen Kalenderblatt vor: »Lächle, und die Welt lächelt zurück!« Und: »Siehst du, sei doch mal ein bisschen positiv, Oma, dann wirst du hier auch besser behandelt!« Mir fällt fast die Schnabeltasse aus der Hand. Seine Großmutter, kraftlos, mit starken Schmerzen, kann kaum noch sprechen.

Ich bin auch sprachlos. Erst auf dem Heimweg wird mir klar, was eigentlich passiert ist. Das war nämlich überhaupt kein mitfühlender Ratschlag, sondern eine Form von Opfer-Beschuldigung, die in dieser aussichtslosen Situation am Ende eines Lebens wie blanker Hohn klingt. Der Enkel hatte das Prinzip der Positiven Psychologie verinnerlicht: Denke positiv, dann wird schon alles gut, denn du hast es in der Hand! Am Altenbett wurde daraus eine empathielose Ohrfeige. Denn der falsche Umkehrschluss lautete: Deine negative Einstellung ist schuld, dass du hier nicht gut behandelt wirst. Es liegt nämlich nicht etwa am akuten Pflegenotstand oder den schlechten Arbeitsbedingungen der Pfleger, nein, es liegt ausschließlich an den Gedanken der Oma.

 

Mit dieser abstrusen Schlussfolgerung wird sogar Krebspatienten immer wieder die eigene Verantwortung an ihrer Erkrankung unterstellt. Ihre negative Einstellung zum Leben habe eben dazu geführt, dass sie überhaupt Krebs bekommen hätten! Die Autorin Barbara Ehrenreich beschreibt diese erstaunlich festsitzende Überzeugung der US-amerikanischen »Brustkrebsszene«, wonach das Überleben der Krankheit von einer positiven Einstellung abhänge, genauso wie das anfängliche Risiko, überhaupt an Krebs zu erkranken.[23]

Der irrsinnige Glaube, dass Krebs in irgendeiner Weise psychisch bedingt sei, hält sich auch bei uns hartnäckig. So glaubten 61 Prozent der Befragten in Deutschland, seelische Belastungen und Stress könnten Krebs auslösen.[24] Das ist wissenschaftlich aber überhaupt nicht haltbar. Niemand erkrankt an einem Tumor, weil er bestimmte Persönlichkeitsmerkmale hat oder starke Trauer durchleben musste. Vielmehr liegt es an genetischen Faktoren und am Risikoverhalten, wie zum Beispiel Rauchen, und oft ist es einfach nur ein tragischer Zufall.[25]

Bereits die Formulierung »den Krebs besiegen« ist eine schiefe Metapher, die suggeriert, man könne aktiv, nur durch seine eigene Anstrengung tatsächlich das Ruder herumreißen. Menschen, die an Krebs gestorben sind, haben sich aber nicht »nicht genug angestrengt«, und es wäre absurd und völlig menschenverachtend, das zu glauben.

Sicher neigen Menschen dazu, Unglück zu personifizieren, weil sie es dann besser bewältigen können. Die Suggestion ist hier: »Ich habe einen greifbaren Gegner vor mir.« Das Unglück erscheint so bezwingbar. Doch selbst wenn wir als Menschen einiges aus eigener Kraft ändern können: Das Wunder unseres Verstandes besteht darin, zwischen dem Möglichen und dem Unveränderlichen zu unterscheiden, wie schon der Stoiker Epiktet gesagt hat.[26] Dass unsere Existenz von Schicksalsschlägen geprägt ist, die man manchmal als unabwendbar akzeptieren muss, gehört dazu.

 

»Optimismus stärkt das Immunsystem! Optimismus macht gesund! Optimisten leben länger!« Solche Parolen haben Sie sicherlich schon mal in der Zeitung gelesen. Seit Jahren finden immer wieder vermeintliche Erfolgsgeschichten aus der Wissenschaft ihren Weg in die Öffentlichkeit. Und hier kommt die Positive Psychologie ins Spiel mit einem Optimismus-Hype, der im Wesentlichen auf einen US-amerikanischen Psychologen zurückgeht, der vor einigen Jahrzehnten sein Fach revolutioniert hat: Martin Seligman.[27] »Marty«, wie seine Freunde ihn nennen, war bereits ein einflussreicher Psychologe, als er 1996 Präsident der American Psychological Association (APA), dem Dachverband der Psychologen in den USA, wurde. Dort gab er einen neuen Kurs vor. Nicht mehr nur die Kranken heilen war Seligmans Devise, sondern allen Menschen ein besseres, sprich glücklicheres Leben verschaffen. Jeder hat sein Glück selbst in der Hand! Die Strömung der Positiven Psychologie war geboren.[28]

Was erst einmal gut klingen mag – warum sollen wir nicht alle von der Forschung profitieren? –, entsprach allerdings auch einem ökonomischen Kalkül. Denn seit Mitte der Achtzigerjahre warfen sich US-Bürger Psychopharmaka ein wie Erdnüsse auf einem Stehempfang. Die Patienten dachten sich: Warum jahrelang auf der Couch liegen, wenn es doch so einfach geht? Viele Therapeuten bangten um ihre Jobs.[29] Und so traf es sich gut, dass Seligman für seine Zunft ein ganz neues Arbeitsfeld erschloss, nämlich den Weltmarkt der Selbstverbesserung. Aus einigen Psychologen wurden jetzt Coaches und Berater, die nicht mehr psychisch Kranke heilten, sondern kerngesunden Menschen helfen sollten, mehr aus sich herauszuholen. Jeder Mensch war jetzt ein potenzieller Kunde. Da soll noch mal jemand behaupten, man könne nicht seine eigene Nachfrage erschaffen.

In diesem Zusammenhang fällt oft die schöne Worthülse »Mindset«. Stets verbunden mit dem Hinweis, wie wichtig es sei, das »richtige« zu haben. Erinnert Sie das nicht sofort an Christian Lindners »Probleme sind nur dornige Chancen«? (Passend dazu sieht die FDP ihr Bildungsministerium als »Chancenministerium«.[30]) Auch hier fragt man sich, was mit »Mindset« eigentlich genau gemeint ist, eine Voreinstellung im menschlichen Denkapparat? Kann ich mich für das richtige »Mindset« entscheiden wie für die beste Version meines Selbst? Auch hier wird vermittelt, alles komme nur auf die individuelle Betrachtungsweise im Leben an.

Die Idee, alles liege am Individuum, ist ein gutes Beispiel für das, was Karl Marx das »falsche Bewusstsein« nennt, eine Ideologie, die man nicht bemerkt, weil man sie so sehr verinnerlicht hat, wie etwa die Arbeiterklasse, die ihre eigene Ausbeutung für die natürliche Weltordnung hält. Adorno hat diese Ideologiekritik auf die Massenkultur übertragen, in der nichts mehr authentisch für sich steht, sondern alles nur noch durch den Filter der Vermarktung gesehen wird. In der heutigen Glücksindustrie, also dem Teil der Konsumwelt, der uns für viel Geld viel Dopaminausschüttung im Hirn verspricht, sind diese Mechanismen genauso subversiv. Der Filter ist so durchsichtig, dass wir ihn gar nicht mehr bemerken. Bis in die kleinsten Denkbewegungen sehen wir die Welt durch die Brille der Individualisierung.

Es ist erstaunlich, wie selten wir fähig sind, unabwendbares Leid zu akzeptieren. Stattdessen glauben wir, wir müssten sogar im Leid produktiv bleiben. Geht es uns schlecht, haben wir uns entweder nicht genug angestrengt. Oder wir müssen das Leid wenigstens zu einer Chance für etwas Besseres umdeuten.

Sogar während der Corona-Pandemie ließ sich das beobachten. Covid hatte im April 2020 weltweit schon über 100.000 Tote gefordert. Und während in Bergamo das Krematorium wegen Überlastung schließen musste und in Madrid ein Eisstadion zur Leichenhalle umgewandelt wurde, teilten Leute in den sozialen Medien frohlockend Beiträge darüber, dass die Kanäle von Venedig so klar waren, dass man die Fische darin wieder sehen konnte.[31] Durch die Pandemie blieb die extreme Wasserverschmutzung aus. War das nicht wunderbar?

...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Achtsamkeit • Anleitung zum Unglücklichsein • Antidepressiva • Coaching • Depression • Gesellschaftkritik • Glücklich • Glücksdiktat • Glücksterror • Glücksversprechen • Glückszwang • Gutes Leben • Happiness • hygge • Ideologie • Konsumgesellschaft • Kulturkritik • miese Stimmung • Millenials • Negatives Denken • Neoliberalismus • Optimismus • Pessimismus • Positive Psychologie • Positives Denken • Propanda • schlechte Laune • Selbstoptimierung • Social Media • Spätkapitalismus • Trauer
ISBN-10 3-492-60073-5 / 3492600735
ISBN-13 978-3-492-60073-6 / 9783492600736
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