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Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich (eBook)

Die neue Klassenjustiz
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8046-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich -  Ronen Steinke
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Der Rechtsstaat bricht sein zentrales Versprechen Das Versprechen lautet, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber sie sind nicht gleich. Das Recht hierzulande begünstigt jene, die begütert sind; es benachteiligt die, die wenig oder nichts haben. Verfahren wegen Wirtschaftsdelikten in Millionenhöhe enden mit minimalen Strafen oder werden eingestellt. Prozesse gegen Menschen, die ein Brot stehlen oder wiederholt schwarzfahren, enden hart und immer härter. In einer beunruhigenden Reportage deckt der Jurist Ronen Steinke systematische Ungerechtigkeit im Strafsystem auf. Er besucht Haftanstalten, recherchiert bei Staatsanwältinnen, Richtern, Anwälten und Verurteilten. Und er stellt dringende Forderungen, was sich ändern muss. Systematische Ungerechtigkeit im Strafsystem Gerichtsverfahren wegen Wirtschaftsdelikten in Millionenhöhe enden mit minimalen Strafen oder oder werden eingestellt. Prozesse gegen Menschen, die ein Brot stehlen oder wiederholt schwarzfahren, enden hart und immer härter. Die Gründe dafür hängen mit den Gesetzen zusammen. Und mit dem, was die Gerichte heute aus diesen Gesetzen machen. Das mag man achselzuckend hinnehmen: Es gibt halt Oben und Unten. Wer Geld hat, der hat es überall leichter. Aber wenn sich der Rechtsstaat so etwas nachsagen lassen muss, dann ist das kein Recht. Es sind angespannte, gereizte Zeiten in Deutschland. Die sozialen Gegensätze verschärfen sich. Arm und Reich entfernen sich immer mehr voneinander. Und die Justiz steht mittendrin - und versucht, die Wogen zu glätten? Die Gleichheit zu verteidigen?  Nein, sie macht leider mit beim Auseinandertreiben.

Ronen Steinke, Dr. jur., geboren 1983 in Erlangen, ist Leitender Redakteur und Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung. Er studierte Jura und Kriminologie, arbeitete in Anwaltskanzleien, einem Jugendgefängnis und beim UN-Jugoslawientribunal in Den Haag. Seine Promotion über die Entwicklung der Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg bis Den Haag wurde von der FAZ als »Meisterstück« gelobt. Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit »Der Staat gegen Fritz Bauer« preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Berlin Verlag erschien 2017 sein hochgelobtes Buch »Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin«. 2020 folgte »Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt«, 2022 der Bestseller »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz« und 2023 »Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht«. 

Ronen Steinke ist Redakteur und Autor der »Süddeutschen Zeitung«. Der promovierte Jurist recherchiert seit Jahren zu Justizskandalen. Im Berlin Verlag erschien zuletzt sein Buch »Terror gegen Juden« (2020). Seine Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit »Der Staat gegen Fritz Bauer« preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ronen Steinke lebt in Berlin.

1. »Die Angeklagte verteidigt sich selbst«: Ein guter Witz


»Deutsch?«, fragt die Richterin. Eine Frau in orangefarbener Jacke steht etwas verloren in der Mitte des kleinen Berliner Gerichtssaals. Ihr Gesicht wirkt wächsern und grau, die blondierten Haare kleben am Hinterkopf.

»Hm?«

»Deutsch?«

»Wie?«

»Ob Sie deutsch sind!!«

»Hm?«

Die Frau hat Schwierigkeiten, die Fragen nach ihren Personalien zu verstehen. Sie ist 76 Jahre alt und auf beiden Ohren schwerhörig, wie sie entschuldigend sagt. Das Geburtsdatum ging gerade noch, die Frau, die Irene von B. heißt, hat genickt, als der Tag im November 1944 vorgelesen wurde. Für den Rest braucht es jetzt mehrere Anläufe. Kein guter Anfang für einen Prozess. Amtsrichterin Anja Grund versucht jetzt einfach, sehr laut zu sprechen. Die Angeklagte, die schwarze Leggings trägt, scheint das nicht als Unfreundlichkeit aufzufassen – wenn man das denn beurteilen kann als Zuschauer, der Irene von B. zum ersten Mal sieht. Oder auch als Richterin, die sie zum ersten Mal sieht.

Frau von B. wurde vorgeladen wegen einer Packung Kerzen zum Preis von 4,99 Euro.[11] Diese soll sie in der Rossmann-Filiale in der Berliner Schloßstraße eingesteckt haben, »um meinen Adventskranz zu vervollständigen«, wie sie selbst sagt. Das war ein paar Tage vor Weihnachten. »Das ist für mich eine Sache, die ich brauche für meine Gemütlichkeit, weil ich ohnehin allein zu Hause bin.«

Die Kerzen, und daneben auch die Tatsache, dass Frau von B. sich seit ihrem Eintritt ins Rentenalter schon ein paarmal bei ähnlichen kleinen Taten hat erwischen lassen, seien ihr äußerst peinlich, sagt sie. »Ich fühle mich dabei gar nicht wohl. Ich mein’, ich hab die Kerzen ja trotzdem bekommen. Der Polizist hat mir die Kerzen gekauft. Der konnte es ja selbst nicht verstehen, dass ich mir wegen ein paar Kerzen so einen Ärger einfange.«

Die Richterin sagt: »Sie müssen diese Frage nicht beantworten, aber mögen Sie uns sagen, wie viel Geld Sie im Monat zur Verfügung haben?«

Irene von B. dreht sich um, schaut zu einem jungen Mann, der sie in den Saal begleitet hat. Er sagt: »Knapp 1000 Euro Rente.«

»Und wer sind Sie, bitte?«, fragt die Richterin.

Er sei der gesetzliche Betreuer von Frau von B. An dieser Stelle müsste man eigentlich stutzen, denn einen gesetzlichen Betreuer bekommt man in Deutschland an die Seite gestellt, so steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch, wenn man »aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen« kann.[12] Der junge Mann erläutert dann noch, dass Frau von B. seit ihrem Schlaganfall halbseitig gelähmt sei. »Auch kognitiv gibt’s erhebliche Einschränkungen.«

Schlaganfall. Das war dem Gericht bis dahin nicht bekannt.

Gerichtsverhandlungen in Deutschland sind eigentlich öffentlich. Das ist ein ehernes Prinzip, es soll Beschuldigte vor Willkür schützen. Eigentlich ist deshalb auch die Verhandlung gegen die 76-jährige Frau von B. öffentlich. Aber es ist vielleicht kein Zufall, dass auf den drei Holzbänken für das Publikum in diesem kleinen, linoleumgefliesten Gerichtssaal niemand sitzt. Man müsste dazu ja wissen, dass es dieses Schnellgericht überhaupt gibt, das offiziell »Bereitschaftsgericht« heißt. Draußen steht nur »Polizei« und »Landeskriminalamt«.

Und man müsste dann in diesem Gebäude, gelegen an einer vierspurigen Bundesstraße, dem Tempelhofer Damm, auch erst den Weg durch eine verschlossene Tür finden, an einem Wachtmeister vorbei, der den Ausweis und die Taschen kontrolliert, dann weiter durch einen langen Gang. Sitzungssaal 0202, gegenüber stehen bunte Müllbehälter für Altglas, Restmüll, Gelber Sack.

An der Wand neben der Tür ist, wie bei Gerichtssälen üblich, ein A4-Zettel angeschlagen. Auf ihm finden sich die Namen von neun Angeklagten, die an diesem Tag herbestellt worden sind. Und Uhrzeiten: 10.45 Uhr. 11.00 Uhr. 11.15 Uhr. 11.30 Uhr. 11.45 Uhr. 12.00 Uhr. 12.15 Uhr. 12.25 Uhr. 12.40 Uhr.

An diesem unscheinbaren Ort wickelt Deutschlands größtes Strafgericht, das Amtsgericht Berlin-Tiergarten, jene Fälle ab, für die es sich besonders wenig Zeit nehmen möchte. Solche Schnellgerichte gibt es in fast allen größeren Städten. »Einfach gelagerte Fälle«, heißt es im Amtsdeutsch, darf die Justiz in besonders beschleunigten Verfahren bearbeiten.[13]

Fast immer handelt es sich um Ladendiebstahl oder Schwarzfahren, deutscher Alltag. Vorhin ging es in Saal 0202 um Lebensmittel im Wert von 5,57 Euro. Die Angeklagte hieß Nicole B., 57, sie war teilweise geständig, wie die Richterin vom Blatt ablas. »Sie gesteht Müsli, Schrippen, Lachgummi, Corned Beef«, sagte die Richterin. »Katzenfutter bestreitet sie.« Und sie bat um Entschuldigung. Da es aber nicht der erste derartige Diebstahl war, erhielt sie 30 Tagessätze Geldstrafe.[14] Übersetzt bedeutet das, dass ihr ein Monat Hartz IV gestrichen wurde.

Manchmal werden in diesem Gerichtssaal 20 oder 30 Prozesse erledigt, an einem einzigen Tag. Für die Justiz geht es darum, einen Teil der enormen Masse an Verfahren wegzuschaffen, unter denen sie in Berlin so ächzt. »Wir sind die Massendrescher«, sagt eine Frau, die dort arbeitet. »Wir müssen effektiv und schnell sein. Je höher die personelle Not, desto schneller wird gedroschen.«

Wenn es diese ultrakurzen Prozesse nicht gäbe, dann würde vielleicht – wie in New York – bis in die Nacht hinein verhandelt werden müssen: mit Ladendieben, die noch bei Mondschein auf der Anklagebank sitzen, und mit Richterinnen, die tagsüber schlafen und erst um 17.30 Uhr zur Spätschicht in den »Night Court« kommen.

Das Schnellgericht ist kein Ort für hohe Strafen. Hier werden nur Fälle aufgerufen, bei denen die Justiz mit maximal sechs Monaten Freiheitsentzug rechnet. Es ist auch kein Ort des völligen Unverständnisses gegenüber Menschen in schwierigen Lebenslagen. Manchmal ergeht auch Gnade vor Recht. Vor einer Stunde zum Beispiel kam ein 27-Jähriger herein, der im Kaufland »diverse Lebens- und Genussmittel« im Gesamtwert von 42,13 Euro entwendet haben soll. So hat es die Anklägerin vorgelesen. »Eistee der Sorte Lipton Sparkling, Wurst, Fisch und zwei Backwaren.«[15]

Der Angeklagte: Phillip S., breite Figur. Die Basecap nahm er ab für seinen kurzen Auftritt, die Kapuzenjacke behielt er an. Er sagte, es sei ihm damals nicht gut gegangen. Er habe wegen seiner Hautkrankheit unter einer Depression gelitten. »Ich konnte mich nicht bewegen, ohne dass was aufgerissen ist.« Inzwischen gehe es ihm zum Glück besser. »Ich bin jetzt beim Rheumatologen, kriege monatlich Spritzen.« Einen Job habe er auch wieder.

Phillip S. hat keine Vorstrafen. Er sagte, er habe zum ersten Mal im Leben etwas im Supermarkt eingesteckt. Das Geld war alle, der Kühlschrank leer. »In dem Moment war es die einfachste Lösung. Jemand nach Geld fragen? Nee.« Richterin Anja Grund hatte da schon Luft geholt, um etwas zu sagen, aber Phillip S. schob leise hinterher: »Aber war scheiße, klar.«

Hier sind sich die Richterin und die Anklägerin schnell einig gewesen, sie haben auf eine Strafe verzichtet. Nach Paragraf 153 der Strafprozessordnung darf man ein Verfahren ganz ohne Auflagen einstellen. »Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse«, hat die Richterin gesagt und Phillip S. nach nicht einmal zehn Minuten verabschiedet und Gesundheit und Erfolg gewünscht.

»Aber das bleibt bei uns vermerkt«, sagte die Anklägerin noch. »Also, es sollte nicht noch mal vorkommen. Das müssen Sie uns wirklich versprechen.«

»Versprochen. Ja.«

Aber Gnade ist die Ausnahme. Auch hier, im Schnellgericht. Wer nicht zum ersten Mal erwischt worden ist wie der 27-Jährige, sondern schon zum achten Mal im Supermarkt etwas Kleines eingesteckt hat wie die 76-jährige, halbseitig gelähmte Irene von B., gilt als unbelehrbar. Da wird die Justiz strenger.

Irene von B. ist schon 2009 zu 15 Tagessätzen verurteilt worden, wie die Anklägerin nun vorträgt. Damals musste sie eine halbe Monatsrente als Strafe zahlen. Dann noch mal 2011. Und wieder 2013. 2014. 2015. 2016. 2020. Von Mal zu Mal wurde die Strafe leicht erhöht. So ist es üblich. Auch wenn die Taten Bagatellen bleiben, die Strafen werden...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bagatelldelikt • Beschaffungskriminalität • Diebstahl • Diskriminierung • Drogendelikt • Eigentumsdelikt • Ersatzfreiheitsstafe • Freiheitsentzug • Gerichtsbeschluss • Gerichtsfälle • Gerichtsgutachten • Gesetz • Hartz-IV-Empfänger • Justizirrtum • Justizskandal • Klassenjustiz • Klassenunterschiede • Korruption • Prozessordnung • Rechtsprechung • Rechtsstaat • soziale Härte • Soziale Ungerechtigkeit • Soziale Ungleichheit • Strafrecht • Straftat • Wirtschaftsdelikt
ISBN-10 3-8270-8046-0 / 3827080460
ISBN-13 978-3-8270-8046-2 / 9783827080462
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