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Spätmoderne in der Krise (eBook)

Was leistet die Gesellschaftstheorie?
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76984-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spätmoderne in der Krise -  Andreas Reckwitz,  Hartmut Rosa
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In Zeiten tiefgreifender sozialer Umbrüche und manifester Krisen schlägt die Stunde grundsätzlicher Analysen, welche die gegenwärtige Gesellschaft als ganze in den Blick nehmen, ihre Strukturmerkmale und Dynamiken untersuchen und vielleicht sogar Wege aus der krisenhaften Entwicklung aufzeigen. In jüngster Zeit haben Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa großangelegte, jedoch ganz unterschiedlich akzentuierte Gesellschaftstheorien vorgelegt, welche die gegenwärtigen Debatten über die Spätmoderne maßgeblich bestimmen. In diesem gemeinsamen Buch treten sie nun in einen kritischen Dialog.

Ausgehend von dem geteilten Anliegen, dass die Analyse der Moderne als Sozialformation ins Zentrum einer Soziologie gehört, die ihre Aufgabe der Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst ernst nimmt, entfalten sie in umfangreichen Essays zunächst ihre je eigene gesellschaftstheoretische Perspektive: Während Reckwitz »soziale Praktiken«, »Kontingenz« und »Singularisierung« als Leitbegriffe wählt, entscheidet sich Rosa für »Beschleunigung«, »Steigerung« und »Resonanz«. Im zweiten Teil des Buches spitzen sie ihre Positionen nochmals zu, arbeiten Gemeinsamkeiten heraus, markieren aber auch grundlegende Differenzen - und zwar im direkten, von Martin Bauer moderierten Gespräch.



Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Fellow im Thomas Mann House in Los Angeles. Sein Buch <em>Die Gesellschaft der Singularitäten</em> wurde 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Sachbuchpreises der Leipziger Buchmesse. 2019 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

7Einleitung


9




Zu Beginn des Jahres 1997 sind wir uns zum ersten Mal begegnet, im Rahmen eines Doktorandenseminars der Studienstiftung des deutschen Volkes in einem Kloster im Münsterland. Der eine (Hartmut Rosa) befand sich in der Endphase seiner Dissertation über Charles Taylor, der andere (Andreas Reckwitz) am Anfang seiner Doktorarbeit über Kulturtheorien. In der Veranstaltung gab es lebhafte Diskussionen über den cultural turn und die Bedeutung des Sozialkonstruktivismus für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Es waren die 1990er Jahre, in Deutschland war gerade die Mauer zwischen West und Ost – und auch so manche dogmatische Frontstellung in den Köpfen – gefallen, und solche Fragestellungen waren typische Themen der Zeit. Jenes Seminar bedeutete auch den Anfang eines Gesprächsfadens zwischen uns – eines Gesprächs über Fachliches, Berufliches und Persönliches –, der seitdem nicht abgerissen ist.

Nachdem wir beide in der Mitte der 2000er Jahre Rufe auf Professuren erhalten und anschließend in unseren Büchern und Forschungsprojekten verschiedene Pfade beschritten hatten – in Richtung Beschleunigung, Resonanz und Unverfügbarkeit hier, in Richtung Subjekt, Kreativität und Singularisierung dort –, liefen die biografischen Linien zwar manchmal auseinander, aber sie kreuzten sich auch immer wieder. So zum Beispiel im Herbst 2016 während des Soziologiekongresses in Bamberg. Der eine (Hartmut Rosa) hatte dort sein Buch über »Resonanz« vorgestellt, der andere (Andreas Reckwitz) einen Kommentar dazu gehalten. Im Nachgang dieser Veranstaltung kam dann erstmals die Idee auf, in einer gemeinsamen Publikation noch einmal grundsätzlicher anzusetzen und unsere recht unterschiedlichen, aber doch auch in vielem miteinander verwandten theoretischen Perspekti10ven auf die moderne Gesellschaft und auf das, was Soziologie leisten kann und soll, einander gegenüberzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die Idee blieb eine Weile latent. Vor dem Hintergrund neu aufflammender und lebhafter Auseinandersetzungen innerhalb der soziologischen Disziplin und jenseits ihrer Grenzen über die Frage, wie Soziologie zu betreiben sei, was sie zu leisten vermag und was nicht, wozu es einer Gesellschaftstheorie bedarf und was von dieser für die Gesellschaft zu erwarten sei, haben wir uns schließlich dazu entschlossen, sie – unter tatkräftiger Unterstützung unserer Lektorin im Suhrkamp Verlag, Eva Gilmer – in die Tat umzusetzen. Den letzte Anstoß dazu gab die Einsicht in eine grundlegende Gemeinsamkeit, eine gemeinsame Motivation, die ein solches Buch sinnvoll und vielleicht sogar nötig erscheinen lässt: die Motivation, die Gesellschaftstheorie und damit auch die Theorie der Moderne als zentrale Aufgabe der Soziologie stark zu machen. Dieses Anliegen prägt unser beider Arbeit seit den 2000er Jahren.

Ein solches disziplinäres Selbstverständnis ist durchaus nicht selbstverständlich, wenn man die gegenwärtige Landschaft der Sozialwissenschaften national und international betrachtet, ja, es stößt vielerorts auf Widerstände. Man begegnet in jüngster Zeit vielmehr einer merkwürdigen Diskrepanz innerhalb des intellektuellen Feldes, die sich aufspannt zwischen einem ausgeprägten, immer drängenderen Interesse der Öffentlichkeit an umfassenden Theorien der Gegenwartsgesellschaft, ja der menschlichen Gesellschaft und Geschichte in ihrer Gesamtheit einerseits und andererseits einer auffälligen Erosion der Bereitschaft und vielleicht auch des Mutes auf Seiten der international organisierten Soziologie, an solchen Gesellschaftstheorien zu arbeiten. Mit anderen Worten: Während die »Nachfrage« nach Gesellschaftstheorie anwächst, scheint das entsprechende »Angebot« in der internationalen Soziologie zurückzugehen.

Das öffentliche Interesse an einer solchen Theorie, an umfas11senden Analysen und Deutungen der Gegenwartsgesellschaften, aber auch an der longue durée der Transformation menschlicher Gesellschaften von ihren Anfängen bis in die Zukunft hinein hat sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts jedenfalls deutlich intensiviert. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Gesellschaften dessen, was man einmal den »Westen« genannt hat, also insbesondere für Europa und Nordamerika, sowie darüber hinaus: für China, Indien oder Brasilien und auch für den arabischsprachigen Raum. Das ist vielleicht überraschend. Von Jean-François Lyotard stammt bekanntlich die 1979 in Das postmoderne Wissen entfaltete These, dass wir am »Ende der großen Erzählungen« der Moderne und der Modernisierung angelangt seien.[1]  Die großen Theorien gesellschaftlicher Entwicklung, welche die klassische Moderne prägten, hätten in der Postmoderne an Kredit verloren, gefragt seien nur mehr die »kleinen Erzählungen«, die spezifischen Analysen: lokal, zeitlich und sachlich begrenzt. Lyotards Kritik am Erbe der Geschichtsphilosophie und an deren aus heutiger Sicht naiv und einseitig anmutenden Fortschrittsgeschichten war sicherlich berechtigt – aber mit seiner Prognose, dass damit die umfassenden theoretischen Deutungsversuche überflüssig werden, lag er letztendlich falsch. Genau das Gegenteil ist inzwischen eingetreten.

Hatten sich die Sozialwissenschaften in den zwei Jahrzehnten zwischen 1985 und 2005 gerne darüber beklagt, das Interesse der Öffentlichkeit an Gesellschaftsanalyse sei erlahmt, ist spätestens seit 2008 eine Revitalisierung dieses öffentlichen Interesses am big picture zu beobachten. »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« und »Wohin entwickelt sich die menschliche Gesellschaft?« sind Fragen, die man sich allenthalben (wieder) stellt. Die öffentliche Diskussion gibt sich nicht mehr mit empirischen Einzelanalysen zu Spezialfragen und erst recht nicht mehr mit »kleinen Erzählungen« zufrieden. Herauskristallisiert hat sich viel12mehr eine Neugier und auch ein durchaus drängender Wunsch nach Gesamtanalysen des gesellschaftlichen Zustandes. Dass dies der Fall ist, haben die beiden Autoren dieses Bandes auf jeweils eigene Weise in den letzten Jahren durchaus persönlich erfahren. Unsere gesellschaftstheoretischen Versuche sind jeweils auf eine überraschend breite Rezeption nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des wissenschaftlichen Feldes gestoßen: in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft, im Kultur- und Kunstfeld, in den Kirchen und den psychosozialen Organisationen und nicht zuletzt bei den Studierenden und Promovierenden an den Universitäten. Darüber hinaus haben wir zahlreiche Reaktionen von gesellschaftlich und politisch hochinteressierten, ebenso offenen wie kritischen privaten Leserinnen und Lesern erhalten, deren intellektueller Wissensdrang und mitunter beeindruckendes Beobachtungsvermögen jedes Naserümpfen des Wissenschaftsbetriebs über die vermeintlich schlichten Gemüter der »Laien« als ziemlich dünkelhaft erscheinen lassen.

Dieses erstarkte Interesse an der Theorie und am »großen Bild«, welches über die heterogenen Fäden der Alltagserfahrung hinaus ein wissenschaftlich gestütztes sinnhaftes Ganzes präsentiert, hat nachvollziehbare Ursachen. Die wichtigste ist sicherlich, dass in den letzten zehn Jahren die Ballung gesellschaftlicher Krisenmomente der kritischen Reflexion der westlichen Gesellschaften über sich selbst einen gewaltigen Schub gegeben hat. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 hat die Frage nach den Strukturmerkmalen eines postindustriellen Kapitalismus und seinen sozialen Folgen, etwa in Form verschärfter sozialer Ungleichheit, auf die Tagesordnung gesetzt. Die Einsicht in die bedrohlichen Konsequenzen des Klimawandels hat der ökologischen Frage nach der Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt sowie nach dem, was die Epoche des Anthropozäns ausmacht, größte Aufmerksamkeit beschert. Dass die Geologie der Erde selbst durch menschliches Handeln veränderbar ist, hat bei manchen zu einer tiefgreifenden on13tologischen Verunsicherung geführt. Der internationale Aufstieg des Rechtspopulismus schließlich hat eine breite Diskussion über dessen strukturelle Ursachen, über Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer in Gang gesetzt. Generell gilt: Während man in den 1990er Jahren am »Ende der Geschichte« angekommen schien – an der Schwelle zu einer Posthistoire, welches die Alternativlosigkeit des westlichen Modells...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2021
Mitarbeit Sonstige Mitarbeit: Martin Bauer
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Gesellschaft • Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2023 • Leibniz-Preis 2019 • Moderne • Paul Watzlawick Ehrenring 2018 • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Soziologie
ISBN-10 3-518-76984-7 / 3518769847
ISBN-13 978-3-518-76984-3 / 9783518769843
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