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Capitalism unbound (eBook)

Ökonomie, Ökologie, Kultur
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
342 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44853-4 (ISBN)

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Capitalism unbound -
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Steigende Ungleichheit, ein niemals endendes wirtschaftliches Wachstum und ressourcenvernichtende Ausbeutung stellen uns heute vor viele Probleme. Dennoch scheint es legitime Motive und überzeugende Argumente zu geben, die das Engagement der Menschen für den Kapitalismus rechtfertigen. Dieses Buch untersucht aus kulturellen, ökonomischen und ökologischen Perspektiven, wie der Kapitalismus trotz seiner verheerenden Auswirkungen weiterhin die dominante Wirtschaftsform bleibt. Es fragt nach den Strukturen, Mechanismen und Praktiken, die das eigentümliche Überleben dieses Systems sichern, das stets darauf ausgerichtet ist, Gewinner:innen und Verlierer:innen hervorzubringen. Mit Beiträgen u.a. von Frank Adloff, Jürgen Beyer, Christoph Deutschmann, Kai Dröge, Eva-Maria Engelen, Ulrike Froschauer, Sabine Hark, Ronald Hitzler, Axel Honneth, Hermann Kocyba, Klaus Kraemer, Jörn Lamla, Beate Littig, Manfred Lueger, Steffen Mau, Hans-Peter Müller, Harry Nutt, Michael Parzer, Andrea Roedig, Kathrin Röggla, Patrick Sachweh, Ferdinand Sutterlüty, Robert van Krieken, Berthold Vogel, Christian von Scheve, Greta Wagner und Monika Wohlrab-Sahr. Der Band bezieht sich auf das Werk von Sighard Neckel und ist ihm gewidmet.

Sarah Lenz, Dr. phil., und Martina Hasenfratz sind wiss. Mitarbeiterinnen in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit« an der Universität Hamburg.

Sarah Lenz, Dr. phil., und Martina Hasenfratz sind wiss. Mitarbeiterinnen in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit« an der Universität Hamburg.

Einer von uns. Sighard Neckel und das Feuilleton


Harry Nutt

»Schuld ist das Gefühl, durch eigenes Handeln die Verletzung einer Norm verantwortet zu haben«, heißt es in Sighard Neckels Aufsatz »Achtungsverlust und Scham« aus dem Jahr 1993, »Scham jenes, in seiner Integrität beschädigt zu sein. Schuld entsteht in der Übertretung von Verboten, Scham im Verfehlen eigener Ideale«. Ohne diese Definition damals verinnerlicht zu haben, hat eine Episode aus der Redaktion der Frankfurter Rundschau bei mir gleichsam Schuld- und Schamgefühle hervorgerufen, sodass ich erst jetzt darüber berichte, Sighard Neckel in der Zeit der Jahrtausendwende einem schlimmen Verdacht ausgesetzt zu haben. Dabei hatte er nichts weiter getan, als eine Einladung zum Gespräch anzunehmen.

Sighard Neckel hatte im Juni 2000 spontan zugesagt, für ein Zeitungsgespräch bereitzustehen, in dem es um die erste Staffel der Reality-Show »Big Brother« gehen sollte. Es war eine launig-inspirierende Zusammenkunft, die in der Redaktion der Frankfurter Rundschau und deren linkskonservativem Umfeld allerdings nachhaltig fortwirkende Irritationen auslöste. Der Verdacht, den Sighard Neckel traf, bestand in etwa darin, eine Art Vordenker einer neoliberalen Spaßgesellschaft zu sein. Wie hatte es dazu nur kommen können?

Sighard Neckel und ich waren einander erstmals zu Beginn der 1990er-Jahre begegnet. Wenn ich mich nicht täusche, hatte uns der Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift »Der Alltag«, Michael Rutschky, im Anschluss an den Habilitationsvortrag des Kollegen Heinz Bude miteinander bekanntgemacht. »Sie sind der nächste«, hatte Rutschky gesagt und damit auf den aus seiner Sicht klar vorgezeichneten Verlauf der akademischen Karriere Neckels angespielt. Rutschky, der sich fortan wenig um die Universität als Ort gesellschaftlicher Beobachtung scherte, hatte den wissenschaftlichen Nachwuchs sehr genau im Blick, und sei es auch nur, um Mitstreiter für sein offenes Zeitschriftenprojekt zu rekrutieren.

Sighard Neckel winkte bescheiden ab, aber sein soziologisches Programm war zu dieser Zeit bereits klar konturiert. Bei meiner Recherche für diesen Beitrag zur Festschrift wurde ich selbst davon überrascht, dass ich mit Neckels Texten bereits vertraut schien, ehe Rutschky uns einander vorstellte. Meine Rezension zum Essayband Die Macht der Unterscheidung war am 21. Juni 1993 in der taz erschienen, gut drei Jahre bevor ich dort als Redakteur im Kulturressort anheuern durfte und später gelegentlich auch Sighard Neckel als Autor und Interviewpartner für die taz gewann. Getreu der weit gefassten Regeln der Rutschky-Schule, der ich mich stolz zugehörig fühlte, interessierte ich mich weniger für wissenschaftliche Kohärenz, sondern für stilistische Vielfalt und die Überraschungen des essayistischen Einfalls.

Damals las sich das so: »Sighard Neckel rückt dem sozialen Design der Erlebnisgesellschaft mit psychologischer Aufmerksamkeit und soziologischer Beobachtungsgabe zu Leibe und malt so ein eindringliches Portrait deutscher Zustände«, urteilte ich in der taz-Besprechung etwas arg belehrend zu dem in der Reihe Zeitschriften des Fischer-Verlages erschienenen Bandes. »Wo die neue staatliche Einheit vorher getrennte Gruppen von Menschen zu einer Nation verbindet, bietet die Hervorhebung der eigenen Differenz die Chance, im sozialen Austausch die eigene Macht zu erhöhen. Positionskämpfe pflegen immer dann an Schärfe zu gewinnen, wenn die Verteilung von Rängen neu ausgehandelt wird«, zitierte ich Neckel, um dann in eigenen Worten fortzufahren: »Es geht also nicht nur um einen Verteilungskampf im ökonomischen Bereich, sondern auch um einen auf den Märkten des Bildungs- sowie des symbolischen Kapitals. Neckel beherrscht die gefällige essayistisch-journalistische Schreibweise ebenso wie die wissenschaftliche Prägnanz. An der Soziologie Pierre Bourdieus geschult, arbeitet er an einer psychologisch-existentialistischen Theorie der Scham.« Er war also, so lese ich meine Belobigung heute, einer von uns.

Das darf natürlich nicht als gönnerhafte Anerkennung missverstanden werden. Tatsächlich habe ich Sighard Neckels wissenschaftliche Arbeit immer als Orientierung für mein journalistisches Tun aufgefasst, für das Soziologie stets eine Art Leitmedium war, aus dem ich Anregungen bezog für spielerische Abschweifungen und notwendige Ergänzungen, allein schon deshalb, um nicht in narzisstischer Selbstbezüglichkeit zu verharren. Autorreferenzen des akademischen Betriebs, zu denen ich immer wieder zurückkehre und zu denen ich im Verlauf der Jahrzehnte regelmäßige oder sporadische Arbeitsbeziehungen unterhalten habe, sind neben Sighard Neckel die geschätzten Kollegen Heinz Bude, Dirk Baecker, Peter Fuchs, Norbert Bolz, Claus Leggewie, Martin Seel, Angela Keppler, Hannelore Schlaffer, Katharina Rutschky, Karin Wieland, Herfried Münkler, Axel Honneth, Micha Brumlik und Ulrich Bröckling. So unterschiedlich deren wissenschaftliche Ansätze auch sein mögen, habe ich doch immer deren Bereitschaft zu schätzen gewusst, ungeschützt und direkt zu aktuellen Geschehnissen in der Tageszeitung Stellung zu beziehen.

Ganz in diesem Sinne war es denn für mich auch keine Frage, Sighard Neckel in die notwendig gewordene Deutung eines neuen TV-Trash-Formats einzubeziehen, das im Sommer des Jahres 2000 das Licht der Welt erblickte.

Die öffentliche Empörung ging der tatsächlichen Übertragung der Fernsehshow »Big Brother« voraus. Die durch George Orwells Dystopie 1984 berühmt gewordene metaphorische Phantomfigur des Großen Bruders als verharmlosende Personifizierung des Überwachungsstaates hatte bei kritischen Medienbeobachtern schlimmste Befürchtungen geweckt. Was Michael Rutschky wenig später ohne euphemistische Umschweife als Unterschichtenfernsehen kennzeichnete, schien in Gestalt des Formats »Big Brother« als Alptraum der aufgeklärten Vernunft auf Dauersendung zu gehen.

Ich war einige Monate zuvor von der taz-Kultur, wie die Abteilung dort unprätentiös genannt wurde, als Ressortleiter Feuilleton zur Frankfurter Rundschau gewechselt, wo kritische frankfurterische Standards über viele Jahre vor allem von dem Literatur- und Filmkritiker Wolfram Schütte, aber auch Peter Iden (Kunst und Theater) und Hans-Klaus Jungheinrich (klassische Musik) gehütet worden waren. Wichtige Frankfurter Rundschau-Autoren etwa waren Karsten Witte und Lothar Baier. Als vergleichsweise junger und weitgehend unmusischer Kulturjournalist, der von der taz und schlimmer noch: aus Berlin kam, vermochte ich mich schon habituell nicht recht in die sorgsam austarierte Frankfurter Gesellschaft einzufügen, in der Theater und Oper, aber eben auch die FAZ, Suhrkamp-Verlag und das Institut für Sozialforschung eine Ehrfurcht einflößende geistige Dominanz auszuüben schienen, auch wenn diese Form des symbolischen Kapitals nurmehr behauptet und nicht mehr recht wirksam zu sein schien.

Für einen wie mich jedenfalls, der dem trivialen Fernsehen immer eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt hatte, war der Start des TV-Formats »Big Brother« ein feuilletonistisches Hochamt. Zur Auftaktsendung hatten wir, zumindest aus heutiger Sicht, einen echten Coup gelandet. Mein Kollege, der Filmkritiker Peter Körte, hatte Christoph Schlingensief dafür gewinnen können, den Einmarsch der Teilnehmer zur ersten »Big-Brother«-Sendung zu beobachten und für unser Feuilleton zu rezensieren. Schlingensief machte einen guten Job, und ich denke mit Hochachtung und einer gewissen Rührung daran, wie genau er das darstellerische Potenzial der Big-Brother-Akteure Zlatko, Jürgen, Kerstin und Co. bereits nach wenigen Minuten erfasst und ausgedeutet hatte. In diesem Sinne war auch der vor zehn Jahren gestorbene Christoph Schlingensief einer von uns.

»Big Brother« war schon ein paar Tage auf Sendung und die medienkritische Begleitung lief auf Hochtouren, als wir uns in der Frankfurter Rundschau entschlossen, ein ernstes, vertiefendes Gespräch über die Sendung zu initiieren. Die Auswahl unserer Gäste kam bereits einer Festlegung der Tonlage gleich. Neben Sighard Neckel luden wir den taz-Autor Detlef Kuhlbrodt hinzu, um mit Peter Körte und mir ein soziologisch distanziertes Werkstattgespräch zu führen. Kuhlbrodt und Neckel entpuppten sich als genau hinschauende Fans des Formats, kein Detail schien ihnen entgangen zu sein. Das...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2021
Co-Autor Ferdinand Sutterlüty, Harry Nutt, Sandra Schüddekopf, Christian von Scheve, Christoph Deutschmann, Klaus Kraemer, Jörn Lamla, Berthold Vogel, Robert van Krieken, Beate Littig, Sabine Hark, Lukas Hofstätter, Hans-Peter Müller, Eva-Maria Engelen, Frank Adloff, Ana Mijic, Michael Parzer, Greta Wagner, Ulrike Froschauer, Manfred Lueger, Steffen Mau, Patrick Sachweh, Kai Dröge, Hermann Kocyba, Andrea Roedig, Kathrin Röggla, Jürgen Beyer, Axel Honneth, Ronald Hitzler, Monika Wohlrab-Sahr, Marco Hohmann, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Sarah M. Pritz, Timo Wiegand
Illustrationen Maren Flößer
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Distinktion • Feudalismus • Gesellschaft • Globalisierung • Institut für Sozialforschung • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Klassen • Klassengesellschaft • Leistung • Leistungsgesellschaft • Neid • Neidkultur • Refeudalisierung • Scham • Soziale Frage • Soziale Klassen • Sozialforschung • Soziologie • Wirtschaft • Wirtschaftssoziologie • Zivilgesellschaft
ISBN-10 3-593-44853-X / 359344853X
ISBN-13 978-3-593-44853-4 / 9783593448534
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