Wenn die Kinderseele streikt (eBook)
278 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86698-1 (ISBN)
Dr. med. Michael Elpers ist seit über 25 Jahren als Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut tätig. Nach seiner langjährigen Tätigkeit in der Berliner Charité leitet er mit zwei Kolleginnen eine sozialpsychiatrische Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Berlin. Er war jahrelang im Vorstand des Fördervereins von »Achtung Kinderseele« aktiv, außerdem ist er Gründungsmitglied von »NACOA«, ein Verein, der Kinder suchtkranker Eltern unterstützt.
Einleitung
Die Kinderseele streikt
»Der Sprung aus dem Fenster schien der einzige Ausweg für mich zu sein. Ich wollte sterben. Ich habe fast zwei Jahre lang darüber nachgedacht. Heute bin ich froh, dass es nicht geklappt hat. Aber die Gedanken an das Sterben sind geblieben.«
Jonas, 17 Jahre
Jonas kam zum ersten Mal in meine Sprechstunde, als er gerade siebzehn geworden war, ein groß gewachsener und sportlicher Jugendlicher. Zunächst war er zurückhaltend und einsilbig. Dennoch bemerkte ich eine ausgeprägte psychische Belastung: Jonas schaute mich kaum an, er sprach mit leiser und monotoner Stimme. Und er schien von meinen Fragen ein wenig genervt zu sein. Schließlich war ich nicht der Erste, der ihn nach dem Warum fragte.
Sechs Wochen zuvor hatte Jonas das Fenster in seinem Zimmer geöffnet – und war hinausgesprungen. Aus dem dritten Stock. Er hat vermutlich nur deshalb überlebt, weil sich direkt vor dem Mehrfamilienhaus, in dem er mit seinen Eltern lebte, ein schmaler Grünstreifen befand, auf dem er aufgekommen war.
Zwanzig Minuten lang lag Jonas verletzt am Boden, bis ihn Passanten entdeckten und die Feuerwehr alarmierten. Unfallchirurgen in der Notaufnahme diagnostizierten eine schwere Schädelprellung und mehrere Knochenbrüche bei ihm, doch zum Glück nichts Lebensbedrohliches. Ein Psychologe im Krankenhaus stellte darüber hinaus eine schwere Depression fest und empfahl Jonas einen stationären Aufenthalt in einer Jugendpsychiatrie. Aber Jonas lehnte ab, er wollte nach Hause. Da er nicht volljährig war, hätten seine Eltern sich darüber hinwegsetzen können. Doch trotz großer Bedenken erklärten sie sich mit Jonas’ Wunsch einverstanden.
So kam er kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus aufgrund seiner anhaltenden Niedergeschlagenheit in meine Praxis.
Ob Kinder und Jugendliche überhaupt Depressionen haben können, werde ich oft gefragt. Unseren Kindern fehle es doch an nichts, höre ich häufig, nie sei es ihnen so gut gegangen wie heute. Sie sind melancholisch? Ja. Traurig? Natürlich. Aber Depressionen? Ist das nicht übertrieben? Eine »richtige« Depression hätten doch nur Erwachsene. Dieser Irrglaube ist immer noch weit verbreitet.
Doch was ist eigentlich der Unterschied zwischen negativen Gefühlszuständen und einer Depression? Nun, das ist nicht schwer zu erklären: Traurigkeit und melancholische Verstimmungen sind Gefühle, die jeder von uns kennt, so wie Glück und Kummer, Freude und Angst, Liebe und Einsamkeit. Diese Emotionen begleiten uns durch das gesamte Leben, sie gehören zu unserer Persönlichkeit. Sie sind nicht Zeichen einer Erkrankung, sondern Ausdruck unserer Gefühlswelt. Und die ändert sich oft täglich – mitunter sogar noch schneller.
Eine Depression hingegen ist eine psychische Erkrankung, die von einem Arzt diagnostiziert wird. Eine Depression kann bereits im Kleinkindalter auftreten. Davon betroffene Menschen spüren im Extremfall: nichts. Nur andauernde Leere und emotionale Taubheit.
Den Unterschied zwischen Traurigkeit und Depression nachzuvollziehen fällt psychisch gesunden Menschen vielfach schwer. Daher reagieren sie zuweilen genervt oder mit Unverständnis auf die Antriebslosigkeit eines depressiven Menschen. Häufig bekommen Betroffene zu hören, dass sie sich einfach nur zusammenreißen sollen, dann werde schon wieder alles gut. Doch das ist ein großer Irrtum.
Selbst ich als Facharzt kann manchmal nur erahnen, was diese innere Leere, diese gefühlte Hoffnungslosigkeit für die betroffenen Kinder und Jugendlichen bedeutet.
Es lässt sich ansatzweise nachvollziehen, wenn man das Theaterstück Der Sohn kennt: Der französische Schriftsteller Florian Zeller beschreibt darin sehr einfühlsam und geradezu exemplarisch den Gefühlszustand eines depressiven Jugendlichen: In Person des 17-jährigen Nicolas, der sich angesichts der Trennung seiner Eltern und der Anforderungen des bevorstehenden Abiturs innerlich immer weiter von seiner Umwelt zurückzieht.
Gleichzeitig sehnt sich Nicolas nach Hilfe. Seine Eltern sind jedoch mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und stehen ihrem Sohn anfangs mit Unverständnis gegenüber. Mehr und mehr erkennen sie ihre eigene Hilflosigkeit gegenüber den immer deutlicheren Symptomen. Als die Eltern nach einem ersten Suizidversuch Nicolas gegen den ärztlichen Rat aus dem Krankenhaus wieder mit nach Hause nehmen, erschießt er sich kurz darauf während des Abendessens im Nebenzimmer. Die Eltern bleiben mit ihrer Trauer, ihrer Ratlosigkeit und ihren Schuldgefühlen zurück.
Wie bei Nicolas ist auch bei den meisten Betroffenen keine alleinige Ursache für ihre Depression zu finden; das gilt für Kinder genauso wie für Jugendliche und Erwachsene.
In jedem Fall aber gilt es für mich als Psychiater, der Hoffnungslosigkeit zu begegnen, die mit der Depression einhergeht, und gemeinsam mit den Betroffenen wieder eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Diese zwei Ziele sind von zentraler Bedeutung für die Behandlung.
Ich arbeite inzwischen seit mehr als 25 Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In dieser Zeit hat sich vieles verändert, in unserer Gesellschaft wie in meinem Fachgebiet. Depression ist nur eine, wenn auch eine sehr schwerwiegende psychische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Mit Sorge beobachte ich seit geraumer Zeit, dass die Zahl psychischer Leiden bei Kindern und Jugendlichen deutlich gestiegen ist und weiter steigt.
In der Öffentlichkeit wird diese Zunahme nicht genügend wahrgenommen – und wenn doch, so wird sie oft als Folge schulischer Probleme betrachtet. In die Diskussion geraten dann regelmäßig die Auswirkungen von Konzentrations- und Aufmerksamkeitssyndromen, die unter den Abkürzungen »ADS« (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) und »ADHS« (wenn Hyperaktivität hinzukommt) bekannt sind.
In vielen Medien werden sie als Modediagnosen bezeichnet. Sie haben den Ruf, allein aufgrund schlechter Schulleistungen diagnostiziert und schließlich therapiert zu werden, damit ehrgeizige Eltern den Schulerfolg ihrer Kinder optimieren können. Dabei wird übersehen, dass gerade diese Art psychischer Störungen nicht zugenommen hat, weder in Deutschland noch anderswo.1
Eine Therapie ist gleichwohl enorm wichtig, da das AD(H)S – wenn es nicht ausreichend behandelt wird – zu zahlreichen sozialen Problemen und psychiatrischen Folgestörungen mit einem langen Leidensweg führen kann, vom Kindesalter bis weit ins Erwachsenenalter. Die alleinige Fokussierung auf Leistungsprobleme in der Schule greift daher zweifelsohne zu kurz.
Ein kurzer Rückblick in die noch junge Geschichte der medizinischen Beschäftigung mit psychischen Problemen von Heranwachsenden lohnt an dieser Stelle.
Bis zum Beginn der Neuzeit wurde die Kindheit nicht als eigenständige Lebensphase wahrgenommen. Kinder wurden vielmehr als kleine Erwachsene betrachtet. Sie wurden schon in jungen Jahren zur Arbeit herangezogen. Ihrer psychischen Entwicklung schenkte bis weit in das 17. Jahrhundert hinein kaum jemand Beachtung. Erst im Zuge der Aufklärung änderte sich die Einstellung zu Kindern. Sie wurden nun mehr und mehr als eigenständige Personen mit eigenen Bedürfnissen wahrgenommen.
Im Jahr 1887 erschien das erste deutschsprachige Lehrbuch zur Kinder- und Jugendpsychiatrie2, verfasst von dem Psychiater und Universitätsprofessor Hermann Emminghaus (1845–1904), der sich intensiv mit naturwissenschaftlichen Aspekten psychiatrischer Erkrankungen beschäftigte. Er prägte den Begriff der Psychopathologie, der krankhaften Veränderung des Seelenlebens.
In der Folgezeit konnte sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach und nach als eigenständiges Fachgebiet etablieren. Zunehmend setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Kombination verschiedener Ansätze – etwa aus der Medizin, der Psychologie und der Heilpädagogik – für eine erfolgreiche Behandlung Heranwachsender notwendig ist.
Zudem gab es wertvolle neue Erkenntnisse zur normalen kindlichen Entwicklung und damit auch zur Abgrenzung zu psychischen Auffälligkeiten: Bahnbrechend waren insbesondere die Erkenntnisse des Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896–1980) zur kognitiven Entwicklung von Kindern und diejenigen der Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori (1870–1952), die wie niemand zuvor das Hauptaugenmerk auf die Beobachtung kindlicher Signale legte; auf dieser Grundlage entstanden die Montessorischulen und -kindergärten.
Die ersten Erwähnungen psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen reichen allerdings viel weiter zurück. So berichtete bereits im 17. Jahrhundert eine...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-407-86698-4 / 3407866984 |
ISBN-13 | 978-3-407-86698-1 / 9783407866981 |
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