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Das Elend der Medien (eBook)

Schlechte Nachrichten für den Journalismus
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
350 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-86962-564-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Elend der Medien -  Alexis von Mirbach,  Michael Meyen
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Wie in Pierre Bourdieus Klassiker 'Das Elend der Welt' analysieren Medienpraktiker, Medienpolitiker, professionelle Medienbeobachter und Laien in 40 Gesprächen die Medienkrise der Gegenwart: Welche Probleme gibt es, welche Ursachen lassen sich benennen und wie können wir die Situation verbessern? Die stilistischen Mittel reichen von Interviews über Monologe und Reportagen bis hin zu Gruppenporträts. Antworten geben Heiko Hilker (MDR-Rundfunkrat), Michael Seidel (Schweriner Volkszeitung), Jens Wernicke (Rubikon), Hans Söllner (Liedermacher) und 'ganz normale' Bürger aus Oberbayern, Sachsen oder Südthüringen. Sie alle zeigen: Die Medienkrise ist keine Folge von Desinformation, sondern hat ihren Ursprung in der Organisation des Mediensystems selbst.

Alexis von Mirbach, Dr., geboren am 21. Februar 1978 in München, studierte Regionalwissenschaft Lateinamerika an der Universität zu Köln sowie Kommunikationswissenschaft (Bachelor, Master) an der LMU München. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im bayerischen Forschungsverbund 'Zukunft der Demokratie' und koordiniert dort das Projekt Media Future Lab Seine Forschungsschwerpunkte sind Online-Journalismus, Öffentliche Meinung in Kuba und Medienpolitik. Michael Meyen, Prof. Dr., Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus.

Alexis von Mirbach, Dr., geboren am 21. Februar 1978 in München, studierte Regionalwissenschaft Lateinamerika an der Universität zu Köln sowie Kommunikationswissenschaft (Bachelor, Master) an der LMU München. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im bayerischen Forschungsverbund "Zukunft der Demokratie" und koordiniert dort das Projekt Media Future Lab Seine Forschungsschwerpunkte sind Online-Journalismus, Öffentliche Meinung in Kuba und Medienpolitik. Michael Meyen, Prof. Dr., Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus.

Vom Elend der Demokratie – auch in der Wissenschaft. Ein Vorwort (Michael Meyen)

1. Jenseits von Gut und Böse. Warum das Elend der Medien viele Gesichter hat (Alexis Mirbach)

2. Der Hoffnungsträger. Was der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht, um seinen Auftrag zu erfüllen (Michael Meyen)

3. Am Sterbebett. Die Regionalpresse, mit DDR-Erfahrung von innen gesehen (Michael Meyen)

4. Das Geld, das liebe Geld. Sieben Stimmen vom Rand des journalistischen Feldes (Alexis Mirbach)

5. Das ›andere‹ journalistische Feld. Vom Kampf um Definitionsmacht (Michael Meyen)

6. Journalismus als Nebenprodukt. Linker Aktivismus von Kreuzberg bis Kurdistan (Michael Meyen)

7. Die Mücke im Schlafzimmer. Medienkritik von unten (Michael Meyen)

8. Wenn links plötzlich rechts sein soll. Corona-Gespräche in München und Oberbayern (Alexis Mirbach)

9. Wir sind das Volk. Vier Stimmen aus dem Osten, 30 Jahre danach (Alexis Mirbach)

10. Südthüringer Extreme. Am Rande der Wahrheit in Hildburghausen (Alexis Mirbach)

11. Vom Desinformations- zum Demokratie-Frame. Anstelle einer Zusammenfassung (Michael Meyen)

1.JENSEITS VON GUT UND BÖSE.
WARUM DAS ELEND DER MEDIEN VIELE GESICHTER HAT


Alexis Mirbach

Dieses Buch könnte auch ›Die Leiden der Medien‹ heißen – wenn der Leitbegriff unseres Referenzwerks La misère du monde anders übersetzt worden wäre. Als Unbehagen. Als Not. Als Misere. Oder eben als Leid.1 La misère du monde ist ein soziologisch-literarischer Klassiker, der in Frankreich 1993 unter der Leitung von Pierre Bourdieu erschien und hierzulande 1997 als Das Elend der Welt. Deshalb der erste Teil unseres Buchtitels.

Ausgangspunkt für La misère du monde war die Anfrage eines Finanzinstituts an Bourdieu (damals Lehrstuhlinhaber am Collège de France und lange meistzitierter Sozialwissenschaftler der Welt), die »malaise social« zu erforschen. »Verbrechen« und »Krawalle« in den Pariser Vorstädten2 sowie teils spektakuläre Streikbewegungen waren damals zentraler Topos der französischen Debatte und beliebtes Medienthema.3 Bourdieu nahm die Aufgabe an, lehnte aber ab, die »soziale Malaise« mit konventionellen Fragebogentechniken anzugehen, und skizzierte stattdessen ein qualitatives Untersuchungsdesign, aus dem dann eine ebenso »einfühlsame« wie »skalpellscharfe« Sozioanalyse Frankreichs entstand – gestützt auf die Dokumentation von 40 Einzelschicksalen.4

Das Werk traf den Nerv der Zeit: Die 1.000 Seiten von La misère du monde verkauften sich allein in Frankreich im ersten Jahr über 100.000 Mal und lösten auch international eine Forschungsbewegung aus, die von unten auf die Welt blickt. Das Elend der Welt diente sogar als Vorlage für Theaterinszenierungen und schwappte auch über die deutsch-französische Grenze. Günter Grass, Daniela Dahn und Johano Strasser veröffentlichten 2002 »Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft«5, und der Bourdieu-Vertraute Franz Schultheis gab 2005 mit Kristina Schulz eine deutsche Variante des ›Elends‹ heraus.6

Der ›Welt‹-Anspruch im Titel mag vermessen klingen, werden in La misère du monde doch nur Franzosen interviewt. Verwaltungsangestellte, Einwanderer, Polizisten, Familien in den Banlieus. Der Anspruch von Das Elend der Welt ist trotzdem global – weniger, weil ›monde‹ im Französischen auch einfach als ›Leute‹ verstanden werden kann,7 sondern weil das Buch vor dem Hintergrund weltweiter Deregulierungen der Finanzmärkte, tiefgreifender Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt sowie umfassender Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens entstand.8 Bourdieu selbst hat von einer »kollektiven Konversion zur neoliberalen Sichtweise […] im Schulterschluss mit den sozialistischen Parteiführern« gesprochen,9 die in den 1990er-Jahren und 2000er-Jahren unter Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder als Strategie »des dritten Weges« vorangetrieben wurde.10

Im Elend der Welt zeigt sich die »Abdankung des Staates«: beim Wohnungsbau, bei der Überführung öffentlicher Dienstleistungen in den Privatsektor oder bei der Transformation schulischer Einrichtungen. Das alltägliche Leid spielt sich bei Mietern von Sozialwohnungen ab, deren Siedlungen zu Ghettos gemacht wurden, bei Einwanderern, denen das ethnische Stigma auf unauflösliche Weise in Hautfarbe und Namen eingeschrieben ist,11 bei kleinen Beamten und Sozialarbeitern, die »die unerträglichsten Auswirkungen und Unzulänglichkeiten der Marktlogik kompensieren müssen«,12 im Abstieg und Niedergang der alten Arbeiter, in ihrem Hass auf die neuen Vorarbeiter13 oder bei Landwirten, denen die Frauen auf den Feldern fehlen, denen die Investitionen buchstäblich versickern und die (als das Mikrofon abgestellt ist) mit einem tiefen Seufzer ihre Sympathien für den Anführer der rechten Partei Front National gestehen.14 Durch die Analyse der individuellen Situation gelingt es dem Forscherteam um Bourdieu, Entwicklungen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite (und die Zukunft) zu erfassen.

Was hat das mit den Medien zu tun?


Ob Folge der von Bourdieu angeklagten neoliberalen Politik unter sozialdemokratischer Absolution oder nicht: Knapp drei Jahrzehnte nach La misère du monde steckt die Demokratie westlich-liberaler Prägung in der Krise.15 Symptome sind nach herrschender Meinung das Erstarken autoritärer Regierungen in postsozialistischen Ländern, der Aufstieg der neuen Rechten, der Brexit oder Donald Trump. Nicht erst seit den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen ist die öffentliche Sorge um den Fortbestand der Demokratie auch in Deutschland zentraler Topos gesellschaftlicher Debatten. Der Soziologe Stephan Lessenich (um nur einen prominenten Sprecher zu zitieren) nennt als Indikatoren die »Eruptionen von Hass in sozialen Medien«, eine »sich leerlaufenden transmediale Aufregungsmaschine«, die »Unversöhnlichkeit des Umgangstons in der politischen Debatte« und eine bis ins Private vordringende »Dynamik des Kommunikationsabbruchs zwischen unvereinbar erscheinenden Meinungen.«16

Dass die Krise der Demokratie auch eine Krise des Journalismus ist, hat Colin Crouch in seinem Konzept der »postdemokratischen Gesellschaft«17 schon vor gut zwei Jahrzehnten herausgestellt. Während »Heerscharen von Wirtschaftslobbyisten« unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf den Hinterbühnen der Politik operieren würden, diene der »medienindustrielle Komplex« allein der Aufmerksamkeitsproduktion.18 Dass in einer multioptionalen Welt, die Orientierung erwartet, aber nur komplexe Wahrheiten bietet,19 die Krise als ›Normalzustand‹20 sehr viel mit Medien zu tun haben muss, zeigt allein die Inflation von Begriffen wie ›Fake News‹, ›Mainstream‹, ›Framing‹, ›Lügenpresse‹, ›Verschwörungstheorie‹ oder ›Desinformation‹. Deshalb der zweite Teil unseres Titels.

Unabhängig vom Titel gibt es in der Kommunikationswissenschaft mit der Media Malaise seit Ende der 1940er-Jahre die These, dass Medien die Ursache für negative Einstellungen gegenüber der Politik und demokratischen Prozessen sind: Paul Lazarsfeld und Robert Merton warnten vor einer »narkotisierenden Dysfunktion der Medien«,21 und Michael Robinson führte in den 1970er-Jahren den wachsenden Zynismus gegenüber der Politik auf die Präsentationsformen des Fernsehens zurück und prägte das Schlagwort Videomalaise.22 Video- und Media-Malaise-Forscher untersuchen seither, ob Skandalisierung, Negativismus, Konflikthaftigkeit oder Personalisierung für die steigende Politikverdrossenheit verantwortlich sind.23

Auf großes Interesse stießen die Erkenntnisse aber weder in der Öffentlichkeit noch in den Redaktionen oder in der Politik.24 Das dürfte auch an der Zielvariable Politikverdrossenheit gelegen haben. Lange hat man zwar das Sinken der Wahlbeteiligung vor laufenden Kameras mit Krokodilstränen beklagt, solche Symptome aber als Wohlstandsapathie ad acta gelegt, solange sich nicht abzeichnete, dass sich dahinter eine fundamentale Systemkritik verbergen könnte und möglicherweise eine Medienwirkung.25

Ganz anders heute. Die PEGIDA-Demonstranten haben ihre Systemkritik ab 2014 über den Begriff ›Lügenpresse‹ transportiert. Und der Brexit sowie die Wahl Trumps zeigten wenig später, dass sich liberaldemokratische Verhältnisse tatsächlich ändern können, womöglich herbeigeführt durch einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der eng mit digitalen Plattformen wie Facebook oder Twitter zusammenhängt. Veränderungen der öffentlichen Kommunikation sind seither Chefsache in Politik, Journalismus und Wissenschaft – und damit auch die Frage, wer oder was das Elend in den Medien ist.

Wie aus Elend Zukunft wird


Das Elend sei »vielgesichtig«, schreibt Bourdieu, »unformuliert« und »unformulierbar«. Manchmal drücke es sich mangels legitimer Mittel nur in Hass oder Wahn aus.26 Dieses Buch zeigt viele Gesichter des Elends der Medien. Wir sammeln schlechte Nachrichten für den Journalismus – gefunden bei Bürgern, Medienprofis am Rande des journalistischen Feldes und bei denen, die in der Nähe des Machtpols arbeiten und dennoch nicht nur Gutes zu sagen haben. Indem wir Medienkritik aus unterschiedlichen Feldpositionen in ihrer habituellen Verknüpfung darstellen, betreiben wir Ursachenforschung. Wo liegen die Wurzeln der Medien- und Demokratie-Malaise?

Für dieses Buch treiben uns ein Reformgedanke und der Glaube an den »transformativen Einfluss« von Wissen an. Mit Anthony Giddens gehen wir davon aus, dass Akteure (Medienmacher, Medienpolitiker,...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Kommunikation / Medien Journalistik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bourdieu • Journalismus • Medienkritik
ISBN-10 3-86962-564-3 / 3869625643
ISBN-13 978-3-86962-564-5 / 9783869625645
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