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Wir können mehr sein (eBook)

Die Macht der Vielfalt
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30144-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir können mehr sein -  Aminata Touré
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Was in diesem Land anders werden muss. Aminata Touré verbrachte die ersten Jahre ihres Lebens in einer Unterkunft für Geflüchtete, heute ist sie Vizepräsidentin eines Landtags. Dass sich dieser Satz wie eine Heldinnengeschichte liest, zeigt, dass wir noch nicht in einer offenen und gleichberechtigten Gesellschaft leben. Es ist höchste Zeit, das zu ändern. Aminata Tourés Eltern flohen 1992, kurz vor ihrer Geburt, aus Mali. Im selben Jahr, während sie mit ihrer Familie in einer Flüchtlingsunterkunft lebte, brannten in Deutschland eben solche Häuser. Und das nicht zum letzten Mal. Ihr Buch handelt vom Aufwachsen als Schwarze Frau in einer Gesellschaft, die immer noch Mühe hat, ihren eigenen Rassismus zu erkennen, aber auch vom Weg in die Politik, von Erfolgen und vom Scheitern - nicht, um zu sagen, dass es schwer oder einfach war, sondern, um zu sagen, was in diesem Land anders werden muss. Politik kann mehr sein als Machterhalt und die Verwaltung der Zustände. Ein Aufruf an junge und diverse Menschen, in die Institutionen zu gehen, um die Politik und unser Zusammenleben zu verändern.

Aminata Touré, geboren 1992, wuchs in Neumünster auf und trat 2012 der Grünen Jugend bei. Seit 2017 ist sie Landtagsabgeordnete in Schleswig-Holstein und seit 2019 Vizepräsidentin des Parlaments. In ihrer Fraktion ist sie u.a. Sprecherin für die Themen Migration, Antirassismus und Gleichstellung. 

Aminata Touré, geboren 1992, wuchs in Neumünster auf und trat 2012 der Grünen Jugend bei. Seit 2017 ist sie Landtagsabgeordnete in Schleswig-Holstein und seit 2019 Vizepräsidentin des Parlaments. In ihrer Fraktion ist sie u.a. Sprecherin für die Themen Migration, Antirassismus und Gleichstellung. 

Von vorne


Als ich am 15. November 1992 geboren wurde, waren meine Eltern noch nicht einmal ein Jahr in Deutschland. Dass die Bedingungen, unter denen ich aufwuchs, nicht die gleichen waren wie bei der Mehrheit in dieser Gesellschaft, wurde mir erst viele Jahre später klar. Die ersten fünf Jahre nach meiner Geburt lebten wir im Stadtteil Faldera in Neumünster. Ich persönlich habe diese Zeit überwiegend als schön wahrgenommen. In Gesprächen mit meinen älteren Geschwistern oder meiner Mutter wird mir jedoch immer wieder bewusst, dass sie diese Zeit ganz anders in Erinnerung haben. Viel schmerzvoller. Ich hatte wohl das Glück, so jung zu sein, dass ich wenig verstand und vieles, was wir erlebten, als normal empfand. Um mich herum waren Kinder aus allen Teilen der Welt, die die meiste Zeit gemeinsam draußen verbrachten und spielten. Es gab alle Altersstufen, von Kleinkindern bis zu jungen Erwachsenen. Ich wusste, dass unser Leben irgendwie ein wenig anders war, als das derer, die ein paar Häuser weiter lebten, aber ich konnte noch nicht einschätzen, inwiefern. Für mich war die Flüchtlingsunterkunft mein Zuhause. Wir lebten in unserer Wohnung und zum Duschen ging man eben in den Keller. Aber wenn man nichts anderes kennt, dann empfindet man es auch nicht als merkwürdig. Von den Erwachsenen hörte man oft Sätze wie »Hast du Papiere« oder »Hast du Duldung«, aber diese Worte spielten in meiner Welt keine Rolle – anfangs.

Saka ging bereits zur Schule, was Mariam und ich extrem cool fanden. Wir konnten es kaum abwarten, selbst dorthin zu gehen. Wir waren schon ziemlich erpicht darauf, etwas anderes zu sehen als unsere vier Wände, den Parkplatz, die große Wiese vor und den Wald hinter dem Haus. Ich weiß noch, dass ein Mädchen aus der Ukraine, das in unserem Alter war, in den Kindergarten gehen durfte und wir nicht. Das hatte »aufenthaltsrechtliche Gründe«, auch so ein Wort. Wir warfen ihr neidvolle Blicke zu, wenn sie hinging oder zurückkam.

Bis zu unserer Einschulung hatte meine Mutter es sich zur Aufgabe gemacht, Mariam und mir das Rechnen, Schreiben und Lesen auf Deutsch und Französisch beizubringen. Dafür hatte sie sich etwas in ihren Augen ganz Hervorragendes ausgedacht: Aus der Rückwand eines alten Schranks bastelte sie eine Tafel, sprühte sie mit schwarzer Farbe an, kaufte Kreide und schon gab es zu Hause Unterricht. Natürlich. Wenn ich an meine Mutter denke, und zwar in jeder Phase meines (und auch ihres) Lebens, dann sehe ich ihren entschlossenen Blick und ihre klare Haltung. In ihren Augen ist nichts unmöglich, man muss sich schlichtweg Mühe geben. Meine Mutter hat uns damals nie erklärt, weshalb sie so viel Kraft und Energie in unsere Bildung investierte. Ich nahm es einfach hin, dass man eben sehr viel lernen musste und auch gut sein musste.

Später erst begriff ich, dass sie versuchte, uns auf ein Leben vorzubereiten, in dem wir es immer schwer haben würden. Ein Leben, in dem man immer die andere sein und unterschätzt werden würde. In dem viele Menschen einen für dumm und unfähig halten werden. Als wir älter wurden, sagte meine Mutter uns einen Satz, den ich mir eingeprägt habe: »Dort, wo andere 100 Prozent geben werden, werdet ihr 200 Prozent geben müssen, um dasselbe zu erreichen.« Dafür wollte sie uns wappnen. Einige romantisieren so etwas und finden es toll, dass meine Mutter all das getan hat. Und es ist auch wirklich toll. Das finde ich auch. Ein Problem wird es, wenn diese Romantik die Tatsache überdeckt, dass es grundfalsch ist, dass es Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die für Außenstehende unbemerkt mit diesen zusätzlichen Anstrengungen aufwachsen.

Um das Gift der Unzulänglichkeit, den Gedanken, dass man weniger kann als andere, nicht in sich streuen zu lassen, muss man wissen, wer man ist und was man kann, das war die Maxime zu Hause. Diese Erziehung war der Grund dafür, dass ich nie verstanden habe, weshalb man uns Schwarze Menschen für minderwertig gehalten hat und hält. Ich habe nie an die Unzulänglichkeit von Schwarzen Menschen geglaubt, sosehr diese Welt auch versucht hat, alle davon zu überzeugen. Stattdessen begann ich, an einer Welt zu zweifeln, die so verächtlich auf Schwarze Menschen blickt. Aber auch das Wissen um die rassistischen Strukturen dieser Welt, das man mit der Zeit erwirbt, verhindert nicht, dass das Gift sich in einem ausbreitet und man viele Momente des Zweifelns hat. Es braucht Strategien, um damit umzugehen, es erfordert ein tägliches Selbstvergewissern. Man muss sich schlicht jeden Tag sagen, dass man nicht minderwertig ist. Aber wie jeder Mensch hat man schlechte Tage, an denen das Gutzureden nicht wirkt. An denen die Summe an Verletzungen einen trifft und man sich schwach fühlt. An denen man den rassistischen Erzählungen mehr glaubt als all dem Wissen, das man sich angeeignet hat. Als all den Erfahrungen, die man gesammelt hat, die die rassistischen Zuschreibungen widerlegen. In diesen düsteren Momenten, manchmal Tage, manchmal Wochen, erfordert es Kraft und Resilienz, sich wieder auf die Beine zu stellen. Wenn ich höre, wie Menschen über Rassismus sprechen, wie sie sich fragen, ob er hier existiert und ihn damit komplett infrage stellen, denke ich an genau diese Momente. Ich denke dann, ihr habt doch keine Ahnung, wie tief verwurzelt Rassismus in dieser Gesellschaft ist und was er in uns bewirkt. Ihr hättet es gerne in knackigen Zweizeilern beschrieben, damit es euch besser geht. Damit ihr rezitieren könnt, was Rassismus ist. Möglichst kurz und knapp und verständlich und in den Schilderungen nicht allzu drastisch, sodass sie für die Mehrheitsgesellschaft verdaulich sind. »Nichts zu Belastendes, sodass die Leser*innen der Zeitungen nicht überfordert sind.« Wie oft wir das hören. »Man darf die Leute nicht überfordern.« Die Erfahrungsberichte über Rassismus sind nichts im Vergleich zu den jahrelangen Selbstzweifeln, Verletzungen und den Kämpfen in einer Gesellschaft, in der man so oft nicht akzeptiert wird. Sie sind nichts im Vergleich.

 

Ich kann mich mehr an die Französisch- als an die Deutschstunden erinnern. »Un petit bébé ne fume pas la pipe«, ist ein Satz, der bei mir hängen geblieben ist und über den wir uns heute noch kaputtlachen: Ein kleines Baby raucht keine Pfeife. Als ich in die Grundschule kam, konnte ich also lesen, schreiben und rechnen. Die Schreibschrift war anders als zu Hause, aber gut, ich musste flexibel sein.

Bevor Mariam eingeschult wurde, waren wir beide morgens zu Hause. Wir lernten und spielten zusammen und so fühlte sich das Nicht-in-den-Kindergarten-gehen-Dürfen nicht so schwer an. Als sie dann in die Schule ging, tauchte sie in die andere Welt ein, zu der ich noch keinen Zugang hatte. Ab sofort war ich morgens alleine. Klar, meine Mutter war da, aber eben keine Kids in meinem Alter. Ich stellte mir vor, dass alle anderen Kinder jetzt gerade ohne mich spielten und lernten. Manchmal war ich morgens draußen vor dem Haus und spielte alleine. Unsere Nachbarin von unten, eine alte Frau, die mit ihrer Familie hierhergeflohen war, sagte zu mir, dass meine Haare in der Sonne etwas rot leuchteten. Ich sei eine kleine Hexe. Ich musste lachen und fand es cool, dass sie das sagte. In meinen Augen war ich Schwarz und Schwarze Menschen hatten schwarze Haare, keine roten. Es war dennoch irgendwie ein melancholischer Morgen. Wenn ich mich heute daran erinnere, denke ich, dass ich wohl schon früh gelernt habe, was Melancholie bedeutet. Mir reichte es. Ich wollte in die Schule.

An einem Morgen brachten meine Mutter und ich Mariam zur Schule, was ich extrem aufregend fand, weil ich mir dabei vorstellen konnte, selbst zur Schule zu gehen. Ich durfte mir ihre Emilflasche um den Hals hängen und sie ihr zur Schule tragen. Auf dem Rückweg bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, ihr die Flasche zu geben. Meine Mutter hatte einen Fotoapparat dabei und fotografierte mich. Auf diesem Bild strahle ich über beide Ohren. Ich fühlte mich wie eine kleine Erwachsene, also wie eine Grundschülerin.

 

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich bald auf dieselbe Schule wie meine Schwestern gehen würde, aber kurz vor meiner Einschulung verließen wir Faldera und zogen in den Stadtteil Einfeld. Es war ein völlig anderes Umfeld und damit auch eine neue Etappe in unserem Leben. Wir durften die Flüchtlingsunterkunft verlassen, weil sie abgerissen wurde, und bezogen unsere erste eigene Wohnung. An unserem Status als Geduldete hingegen änderte sich nichts. Wir lebten weiter in der Unsicherheit, mit der ständigen Frage, ob wir in Deutschland würden bleiben können.

Der Umzug war ein absolut krasses Ereignis für uns. In Faldera war es völlig klar, dass alle Menschen, die in genau diesen Wohnblöcken lebten, die »Asylanten« waren. Ja, das sagte man damals noch ungenierter als heute. Es gab auch eine Abstufung: In den ersten beiden Wohnblöcken direkt an der Straße lebten diejenigen, die eine unsichere Bleibeperspektive hatten und jederzeit abgeschoben werden konnten. Dort lebten wir. In den zwei hinteren Wohnblöcken lebten diejenigen, die es »geschafft« und bereits ein Bleiberecht hatten. Man blickte voller Neid auf sie. Das war der Kosmos, in dem man lebte: bleiben dürfen oder nicht. Saka berichtete manchmal davon, dass sie in der Schule mit Worten wie »Verpiss dich in dein scheiß Asylantenheim!« konfrontiert wurde. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann war es vielleicht doch nicht so schlimm, dass ich nicht in den Kindergarten gehen durfte. Zumindest konnte ich mir so die Illusion einer Welt, in der man verschieden ist, aber eben alle verschieden sind, noch aufrechterhalten.

Denn die Zeit, in der wir als Asylsuchende in der...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Black lives matter • Bundestagswahl 2021 • Bündnis 90 / Die Grünen • Demokratie • Diversity • Erfahrung • Feminismus • #FridaysForFuture • FridaysForFuture • Klimawandel • Landtag Schleswig-Holstein • Obama • Politik • Politisches Engagement • Populismus • Rassismus • Vizepräsidentin • Wahlen 2021
ISBN-10 3-462-30144-6 / 3462301446
ISBN-13 978-3-462-30144-1 / 9783462301441
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