Hybris (eBook)
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2593-4 (ISBN)
Prof. Dr. Johannes Krause, geboren 1980, ist Experte für die Entschlüsselung der DNA aus alten Knochen. Er war Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und ist seit 2020 Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er arbeitete zusammen mit Svante Pääbo an der Sequenzierung des Neandertalergenoms, 2010 entdeckte er auf Grundlage der DNA eines Fingerknochens den Denisovaner, eine neue Urmenschenform. Heute ist Krause fokussiert auf DNA-Analyse zur Erklärung historischer Epidemien und menschlicher Wanderungsbewegungen.
Prof. Dr. Johannes Krause, geboren 1980, ist Experte für die Entschlüsselung der DNA aus alten Knochen. Er war Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und ist seit 2020 Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er arbeitete zusammen mit Svante Pääbo an der Sequenzierung des Neandertalergenoms, 2010 entdeckte er auf Grundlage der DNA eines Fingerknochens den Denisovaner, eine neue Urmenschenform. Heute ist Krause fokussiert auf DNA-Analyse zur Erklärung historischer Epidemien und menschlicher Wanderungsbewegungen.
Hol den Neandertaler raus
Einer der Orte, an denen man sich dem Wesen des ausgestorbenen Neandertalers nähert, indem man Teile von ihm wieder zum Leben erweckt, ist das Leipziger MPI für Evolutionäre Anthropologie. Das Institut ist weltweit führend bei der genetischen Erforschung des Neandertalers, dem nächsten Verwandten des Menschen. 2010 veröffentlichte ein Team um Svante Pääbo, einer der Institutsdirektoren, nach jahrelanger Sequenzier- und Forschungsarbeit das Genom der vor rund 40 000 Jahren verschwundenen Neandertalerinnen – nahezu sämtliche Genome, die bislang entschlüsselt werden konnten, stammen von weiblichen Vertretern. Eine der wichtigsten Erkenntnisse war damals, dass die Neandertaler gar nicht ausgestorben waren, sondern alle heutigen Menschen nördlich der Sahara Gene dieser Urmenschen in sich tragen – die frühen modernen Menschen sich also mit ihnen vermischt hatten, als sie von Afrika kommend die ganze Welt besiedelten.
Die Spitzenstellung bei der Urmenschen-Forschung hat das Leipziger MPI seitdem mit weiteren Sequenzierungen kompletter Neandertalerinnen-Genome ausgebaut, aber auch mit der Analyse der DNA von Denisovanern. Diese Urmenschenform spaltete sich sehr früh von der Linie des Neandertalers ab und lebte, teils zusammen mit Neandertalern und modernen Menschen, bis vor etwa 50 000 Jahren in Asien. Auch die Denisovaner hinterließen genetische Spuren in heutigen Menschen, nämlich in den Ureinwohnern der Philippinen, Papua-Neuguineas und Australiens, die im Schnitt etwa fünf Prozent Denisovaner-DNA in ihren Genomen tragen. Den entscheidenden Hinweis auf diese bis dahin unbekannte Urmenschenform gab ein rund 70 000 Jahre alter Fingerknochen aus dem russischen Altaigebirge, dessen DNA 2010 am Leipziger MPI entschlüsselt wurde. Bis heute kennen wir keinen Schädel des Denisovaners, geschweige denn ein Skelett – nur die DNA aus kleinsten Knochenteilen, von denen seitdem immer wieder neue in der Denisova-Höhe im Altai auftauchen.
Weit mehr Knochenfunde – sehr viele gut erhaltene Schädel und gelegentlich auch große Teile von Skeletten – gibt es von den Neandertalern: Ihr Genom ist, neben unserem, das am besten erforschte einer Urmenschenform. Dass heute in Leipzig Hirn-Zellen und sogar kleine Organe im Urmenschen-Zustand gezüchtet werden können, fußt auf diesen umfassenden Sequenzierarbeiten und der großen Nähe zum Bauplan des modernen Menschen: Die Unterschiede machen nicht einmal den Bruchteil eines Promilles des ansonsten identischen Genoms aus. Auch von unseren nächsten nicht-menschlichen Verwandten, den Schimpansen und den Bonobos, unterscheiden wir uns im Genom nur zu etwas mehr als einem Prozent – den letzten gemeinsamen Vorfahren hatten diese drei Menschenaffen vor etwa sieben Millionen Jahren.
Die Linien von Neandertalern und Denisovanern auf der einen und die des modernen Menschen auf der anderen Seite trennten sich erst vor rund 600 000 Jahren. Die genetischen Differenzen sind marginal, sorgen aber doch dafür, dass wir einen Neandertaler in seiner Physiognomie und dem Körperbau ganz deutlich von modernen Menschen abgrenzen können. Auf 30 000 Positionen unterscheidet sich die DNA moderner Menschen von jener der Neandertalerinnen, die an diesen Stellen ihres Genoms aussehen wie Schimpansen. Allerdings liegen die meisten dieser Differenzen nicht in den Genen, denn diese machen nur ungefähr zwei Prozent der menschlichen DNA aus. Letztlich sind es lediglich 90 genetische Differenzen, die in den Genomen von Neandertalern und modernen Menschen auch tatsächlich verschiedene Proteine codieren, also für potenziell voneinander abweichende körperliche Merkmale sorgen.
Seit ein paar Jahren ermöglichen es gentechnische Methoden, eine menschliche Zelle an einigen Positionen ihres Genoms in den »Urzustand« zurückzuversetzen, in dem sie sich vor der Aufspaltung von modernen Menschen und Neandertalern befand. Anders gesagt: Im Genom des modernen Menschen werden die evolutionären Schritte rückgängig gemacht, die dieser ging, nachdem er sich von der Linie abspaltete, die zu den Neandertalern führte. Wenn man so will, werden diese Positionen »neandertalisiert«. Das Verfahren ist äußerst mühsam und kleinteilig: Nötig ist dafür eine menschliche Zelle, in deren Erbinformation einige der Gendifferenzen zu den Neandertalerinnen eingearbeitet werden. Ist dieses Werk erst einmal vollbracht, kann die so bearbeitete Zelle in einer Kultur zu einem kleinen Klumpen aus, zum Beispiel, Gehirnzellen anwachsen. Solche Hybridzellen und Zellklumpen kann man derzeit im Leipziger Labor schon besichtigen. Es könnte, so die Hoffnung, der nächste Schritt in der Wissenschaft der evolutionären Genetik sein: DNA-Unterschiede zwischen Ur- und heute lebenden Menschen nicht mehr nur aus alten Knochen auszulesen, sondern an reproduzierten Zellen direkt zu beobachten. Zum Beispiel also zu erkennen, welche Genvarianten uns zum modernen Menschen machen – und den Neandertalern fehlten. Nicht alle Körperzellen taugen als Grundlage für zu neandertalisierende menschliche Zellen. Dafür braucht es Stammzellen, die inzwischen aber problemlos im Labor hergestellt werden können.2 Im Leipziger MPI nutzt man dafür heute menschliche Blutzellen, die anschließend mit dem »Genscherenverfahren« CRISPR/Cas9 genetisch verändert werden.3
Vom Machbaren und dem Unmöglichen
Geht es um die Manipulation menschlicher DNA und die Herstellung hybrider Zellstrukturen, sind die moralischen Implikationen offensichtlich, aber bei Weitem noch nicht zu überblicken, auch nicht für die Wissenschaft. Als ob er den Beweis antreten wollte, dass es auch eine dunkle Seite der Macht über die Gene gibt, verkündete der mittlerweile von der akademischen Bildfläche verschwundene chinesische Wissenschaftler He Jiankui 2018, die Genschere an Embryonen angewendet zu haben. Er begründete diesen molekularbiologischen Eingriff mit dem Ziel, die dabei entstandenen Kinder durch ein modifiziertes Gen gegen eine HIV-Infektion schützen zu wollen. Allerdings publizierte He Jiankui nie eine Studie zu dem Eingriff. Alles, was die großteils entsetzte Wissenschafts-Community sah, war ein öffentlichkeitswirksamer Auftritt auf einem internationalen Kongress. Ein Jahr später kündigte dann der russische Biologe Denis Rebrikov in der Fachzeitschrift Nature an, die Gene von Embryonen editieren zu wollen, um bei den später geborenen Kindern eine angeborene Taubheit zu verhindern. Rebrikov betonte aber, dies nur mit behördlicher Zustimmung zu tun. Von dem geplanten Experiment war seitdem nichts mehr zu hören.
Fälle wie diese zeigen, auf welch schmalem Grat die genetische Forschung derzeit wandelt: Denn selbstverständlich wäre es auch denkbar, mit der Genschere einen menschlichen Embryo zu »neandertalisieren«: Spätestens in zehn Jahren wird die Forschung so weit sein, zahlreiche Stellen im Genom gleichzeitig verändern zu können, auch ohne hochgerüstetes Labor. Forschende ohne Skrupel bräuchten also nicht einmal besonders viel Fantasie, um einen wissenschaftlichen Durchbruch äußerst zweifelhafter Art zu erzielen.
1 Eine aus Gehirnzellen »gezüchtete« Zellkultur. In dieser finden schon biochemische Prozesse statt, die im Labor beobachtet werden können. Von echten Organen sind solche Zellhaufen aber noch weit entfernt.
Am Leipziger MPI wird das Genscheren-Verfahren genutzt, um Zellen zu neandertalisieren – aber eben keine Embryonen. Es geht nicht um die Züchtung von Neandertalern oder Urmenschen, nicht einmal um komplette Organe, sondern nur um Zellhaufen. Denn auch an diesen lassen sich biologische Prozesse beobachten, zum Beispiel die Kontraktionen eines Herzmuskels oder das Wachstum von Hirnzellen sowie deren Interaktionen.
Inzwischen konnten am Leipziger MPI acht Genunterschiede zwischen Menschen und Neandertalerinnen in die gezüchteten Zellkulturen eingebaut werden. Bis zum Bau einer Zellkultur mit allen 90 Genvarianten des Neandertalers wird es aber noch ein paar Jahre dauern. Doch auch hier dürfte sich die exponentielle Beschleunigung, wie wir sie in der Genetik und damit auch der Archäogenetik seit der Jahrtausendwende erlebt haben, fortsetzen. Bis Ende der Zwanzigerjahre sollte es also problemlos möglich sein, nicht nur die 90 genetischen Unterschiede in eine menschliche Zelle einzubauen. Sondern alle 30 000 Positionen, auf denen sich die Neandertaler von uns unterschieden. Das wären dann auch jene Basen im Genom, die keine Proteine codieren – aber trotzdem eine Funktion erfüllen könnten.4
Das Frankenstein-Genom
Die 90 genetischen Unterschiede sind wohlgemerkt nicht die einzigen zwischen Menschen und Neandertalern – sehr wohl aber die einzigen zwischen allen Menschen und allen Neandertalern. Das heißt: Keines der Millionen entschlüsselter Genome heutiger Menschen sieht auf einer der 90 Positionen aus wie das einer Neandertalerin. Sie entwickelten sich also offenbar erst beim modernen Menschen und setzten sich auch durch, als es später wieder zu einer Vermischung unserer Vorfahren mit den Neandertalern kam – offenbar also brauchen wir diese Varianten, oder zumindest einen Teil davon, zum Menschsein. Gleichwohl gibt es aber andere Abschnitte des Neandertalerinnen-Genoms, die die Menschheit bis heute in sich trägt: Im Schnitt weist jeder Mensch außerhalb Afrikas zwei Prozent Neandertaler-DNA auf.5 Bei dem einen...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2021 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Geisteswissenschaften ► Archäologie | |
Sozialwissenschaften | |
Schlagworte | Archäogentik • Denisova-Mensch • Eroberung • Gene • Klimawandel • Kriege und Krisen • Menschheitsgeschichte • Neanderthaler • Pandemie • Pest • Sprachen • Treppe • Wanderungsbewegungen |
ISBN-10 | 3-8437-2593-4 / 3843725934 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2593-4 / 9783843725934 |
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