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Europa versagt (eBook)

Eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
144 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491515-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europa versagt -  Gesine Schwan
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In einer leidenschaftlichen Streitschrift wenden Gesine Schwan und Malisa Zobel sich gegen das Versagen Europas: Die praktizierte Flüchtlingspolitik ist eine Schande. Europa schottet sich ab. An seinen Grenzen stranden Flüchtende, wenige gelangen hinein, viele sterben auf dem Weg. Doch die Staaten schauen weg und weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Angst vor Fremdenfeindlichkeit oder populistische Politik sind oft die Motive. Für einen Kontinent, der einst für Aufklärung und Menschrechte stand, ist das ein beschämender Zustand. Doch das muss nicht so sein. Es geht auch anders! Gesine Schwan und Malisa Zobel zeigen, was getan werden muss. Sie machen konkrete Vorschläge für eine Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene und unter Einbeziehung der Kommunen und widerlegen die gängigen Argumente und Ängste. Denn der Umgang mit Flüchtenden ist kein Randthema der EU, sondern zielt in ihr Herz: Hier zeigt sich, für welche Werte Europa steht.

Gesine Schwan mischt sich seit Jahrzehnten mit Herz und Verstand in die Politik ein. Sie ist Vorsitzende der Grundwertkommission der SPD und war Professorin für Politologie an der FU Berlin und Präsidentin der Europa-Universität in Frankfurt/Oder. Zweimal kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin und ist heute Präsidentin und Mitgründerin der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform GmbH.

Gesine Schwan mischt sich seit Jahrzehnten mit Herz und Verstand in die Politik ein. Sie ist Vorsitzende der Grundwertkommission der SPD und war Professorin für Politologie an der FU Berlin und Präsidentin der Europa-Universität in Frankfurt/Oder. Zweimal kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin und ist heute Präsidentin und Mitgründerin der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform GmbH. Malisa Zobel studierte Kultur- und Politikwissenschaft in Berlin, Potsdam und den USA. Vier Jahre war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Nach der Promotion an der Europa-Universität Viadrina ist sie nun Leiterin der Kommunalen Integrations- und Entwicklungsinitiative an der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform.

ein erhellendes Sachbuch

Wenn sie mit einem Titel wie »Europa versagt« auf den Tisch haut, sollte man schon hinhorchen

Stark ist Schwans Streitschrift immer dann, wenn sie wenig streitet. Wenn sie nicht anprangert, mahnt und predigt, sondern vorschlägt, erläutert und erklärt.

3 Der Versuch, die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik zu europäisieren


Seit den 1990er Jahren hat die Europäische Union versucht, sich auf eine gemeinsame Asylpolitik zu einigen – ohne Erfolg. Sie ist bis heute daran gescheitert, zwischen den Mitgliedstaaten ein faires »Verteilungs«-System für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Asylsuchenden sowie für die Prüfung des Schutzanspruchs zu vereinbaren. Dabei verrät das Wort »Verteilung« schon einen der Gründe für das Scheitern. Denn es suggeriert, dass Flüchtlinge wie Äpfel oder Birnen verteilt werden könnten und es bei der europäischen Flüchtlingspolitik im Wesentlichen nicht auf die Rechte, sondern auf die Interessen der Nationalstaaten ankäme.

Mit dem Wegfall der Binnengrenzen durch das Schengen-Abkommen und dem gleichzeitigen Anstieg der Zahl der Asylsuchenden durch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, insbesondere in Deutschland, trat 1997 das Dublin-Übereinkommen in Kraft. Das – in die Dublin-III-Verordnung überführte – Übereinkommen regelt bis heute, welches Land für die Prüfung eines Schutzanspruchs (Asylverfahren) zuständig ist. In der Regel ist das der Staat, in dem die EU zuerst betreten wurde. Diese Dublin-Regelung war vor allem ein Anliegen Deutschlands und bedeutete nach der Osterweiterung 2004, dass Asylsuchende mit dem Flugzeug oder über die Nordsee einreisen müssten, weil überall sonst andere EU-Länder zwischen Deutschland und den EU-Außengrenzen lagen. Dass dadurch der Zugang zu den Asylverfahren eigentlich nur in den EU-Außengrenzstaaten möglich ist, hatte theoretisch zur Folge, dass diese die gesamte Verantwortung für Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Asylsuchenden sowie die Prüfung des Schutzanspruchs allein tragen. Praktisch haben die Außenstaaten gegen diese Ungerechtigkeit die Flüchtlinge einfach ohne Registrierung nach Norden ziehen lassen.

Damit hatte sich Deutschland, unter der öffentlich vorherrschenden politischen Prämisse, dass Asylsuchende eine Belastung und möglichst zu vermeiden seien, gleichsam mit dem EU-Recht gegen Flüchtlinge »gesichert«. Erkennbares Zeichen für diese Prämisse ist, dass Innenminister ihre Erfolge in der Asyl- und Flüchtlingspolitik immer dadurch bekundeten und weiterhin bekunden, dass weniger Flüchtlinge ins Land gekommen bzw. mehr abgeschoben worden sind. Diese Grundhaltung hat sich in der deutschen Regierungspolitik und im Europäischen Rat, der für die europäische Asylpolitik letztlich entscheidend ist, über die Jahre nicht geändert, sondern eher verfestigt. Dies ist die Grundhaltung jedenfalls konservativer Regierungen, aber auch z.B. der dänischen sozialdemokratischen Regierungschefin, die seit Frühjahr 2021 sogar wieder Syrer*innen abschieben und vorerst in Abschiebelagern sammeln will (Vgl. Strittmatter, 2021). Sie ist verbunden mit der unausgesprochenen Annahme, dass Flucht und Migration Ausnahmesituationen beschreiben, dass man auf Lösungen für die EU verzichten und die Herausforderungen aussitzen kann und sollte.

Diese Perspektive steht im Widerspruch zu den von der EU proklamierten Werten. Sie folgte auch daraus, dass der Bedarf der EU nach einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik – anstelle nur einzelstaatlicher Regelungen – nicht aus humanitären Motiven, sondern aus dem Wunsch nach Grenzsicherung entstanden ist, der sich nach Schengen mit der Öffnung der innereuropäischen Grenzen auf die Außengrenzen verlegt hat. Infolgedessen ressortierte die Flüchtlingspolitik bei den Innenministern, und Asylsuchende wurden vornehmlich unter der Perspektive der Infragestellung oder Gefährdung der Grenzen und der äußeren Sicherheit sowie der staatlichen Souveränität wahrgenommen. Es lag daher nahe, dass Abwehr und das Bedürfnis nach Sicherheit bei der Formulierung der Asyl- und Flüchtlingspolitik im Vordergrund standen.

Dies zumal es seit Jahrhunderten neben dem traditionellen moralischen Wert des Asyls und der Gewährung von Schutz vor Verfolgung in den Bevölkerungen auch eine ebenso traditionelle Skepsis, ja Gegnerschaft gegen Fremde gab und gibt. Gegen diese Skepsis musste der Wert des Asyls eben gerade seit Jahrhunderten ethisch hochgehalten werden. Diese Auseinandersetzung, in der Wissenschaft ein vertrautes Thema, hat sich in der europäischen Öffentlichkeit seit dem starken Anstieg der ankommenden Asylsuchenden in den Jahren 2015 und 2016 noch verstärkt. In den Jahren zuvor haben zwar die Ankunftsstaaten Griechenland, Italien und auch Spanien immer wieder Solidarität von den europäischen Nachbarn wegen der hohen Zahl ankommender Asylsuchender eingefordert. Diese stellten sich aber taub, auch Deutschland unter Bundeskanzlerin Merkel. Erst als die südlichen Länder im Sommer 2015 die zu Hunderttausenden ankommenden Menschen nach Nordeuropa »durchwinkten«, nahmen diese die Herausforderung wahr. Die Asylsuchenden waren in großer Zahl vor dem Bürgerkrieg in Syrien und aus den Flüchtlingslagern im Libanon geflohen, in denen es kaum Perspektiven auf eine bessere Zukunft gab. Die ohnehin schon schlechte Perspektive in den Lagern wurde dann zusätzlich verschlechtert, weil die UNHCR-Zuwendungen um 50 % gekürzt werden mussten. Das geschah, weil die UN-Mitgliedsländer – auch Deutschland – ihre Zahlungen stark reduziert oder eingestellt hatten. Die Zahlungsreduktion zeigt, wie wenig die EU-Länder die politische Herausforderung der Flüchtlingspolitik als langfristige Aufgabe bis 2015 zur Kenntnis genommen hatten.

Als im September 2015 in Budapest eine immer größere Zahl von Asylsuchenden festsaß, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie gesagt, nach Rücksprache mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann zugesichert, dass die deutschen Grenzen geöffnet bleiben, wenn die Asylsuchenden aus Ungarn nach Österreich und Deutschland weiterreisen. Auf diesem Wege kamen 2015 insgesamt ca. 900000 Geflüchtete nach Deutschland, die zunächst auch nicht registriert wurden.

Diese Zeit wird von vielen Beobachtern als Wendepunkt in der europäischen und der deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik gesehen, weil die Außengrenzstaaten die Zahl der Ankommenden nicht bewältigen konnten und deshalb die Menschen nicht mehr registrierten. Damit war das bestehende Dublin-Übereinkommen mit der klaren Zuständigkeit der Außengrenzstaaten ganz offiziell in Frage gestellt. Zudem blieb die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und der Dublin-Verordnung, auf die das Europaparlament sich schon geeinigt hatte, im Europäischen Rat stecken. Im gegenwärtigen, schon Jahre anhaltenden Schwebezustand halten viele, wie die deutsche Bundeskanzlerin, das formal noch bestehende Dublin-Übereinkommen (Dublin-III-Verordnung) zwar für überholt und für nicht mehr praktikabel, weil Dublin-III weder die Solidarität mit den Hauptankunftsländern noch die »Verteilung« der Flüchtlinge wirksam regelt. Aber zu einer Einigung über eine neue Regelung des Zugangs zum Asyl ist es bisher nicht gekommen.

Auch der groß angekündigte neue Entwurf der Europäischen Kommission vom September 2020 macht keinen Vorschlag zur Sicherung des Zugangs zum Asylverfahren und zur Verteilung der Flüchtlinge. Dessen erkennbar dominierende Grundtendenz ist, die europäischen Außengrenzen noch dichter zu schließen, Asylsuchende möglichst schon außerhalb der EU abzuwehren und die afrikanischen Staaten entweder zu erpressen oder dafür zu kaufen, dass sie sich in der Abwehr bzw. der Rücknahme abzuschiebender Flüchtlinge in den Dienst der Interessen der Europäischen Union stellen. Das wird natürlich nicht so klar ausgesprochen, sondern mit humanitärem Vokabular bemäntelt. Die EU-Staaten werden zudem in dem neuen Kommissionsvorschlag von der bisherigen »Zumutung« einer solidarischen Aufnahme von Asylsuchenden befreit, ein alternativer Vorschlag für ein Anreizsystem für die Aufnahme von Asylsuchenden ist aber auch nicht erkennbar. Zugleich wird an der Fiktion einer gesamteuropäischen Asylpolitik festgehalten. Einen radikaleren faktischen Verzicht auf eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik als diesen Widerspruch zwischen Rhetorik und Praxis kann man sich nicht denken.

Im Ergebnis hat die Europäische Union es nicht geschafft, eine Asyl- und Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen und zu praktizieren, die ihren normativen Anforderungen auch nur annähernd entspricht. Im Gegenteil: Die EU setzt zunehmend auf die libysche Küstenwache, die flüchtende Menschen ertrinken lässt oder unerlaubt nach Libyen zurückbringt, und unterstützt damit faktisch Lager in Libyen, in denen die Menschenrechte durch Folter und Vergewaltigungen mit Füßen getreten werden. Mit ihrer praktischen Politik, mit den Lagern auf Lesbos, Chios, Lipa, mit Tausenden von Toten im Mittelmeer und neuerdings auch im Atlantik, mit immer erneuten völkerrechtswidrigen »Refoulements« auf dem Mittelmeer und auf der Balkanroute, mit ungezählten Toten, die in der Sahara verdursten, handelt die Europäische Union im unaufhörlichen Widerspruch zur ihren Beteuerungen über die Werte, die ihre Politik angeblich leiten. Und trotzdem ändert sich nichts.

Schon bevor das Lager Moria auf Lesbos abgebrannt war, besuchte UN-Flüchtlingskommissar Grandi das Lager und geißelte nach einem Bericht...

Erscheint lt. Verlag 25.8.2021
Mitarbeit Assistent: Malisa Zobel
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Asyl • Asylpolitik • Aufklärung • Bundestagswahl • Bürgerkrieg • EU • Europäische Werte • Europapolitik • Flüchtende • Flüchtlingskrise • Fremdenfeindlichkeit • Geflüchtete • Kommunalpolitik • Lesbos • Menschenrechte • Moria • Populismus • Streitschrift • Verfolgung
ISBN-10 3-10-491515-6 / 3104915156
ISBN-13 978-3-10-491515-9 / 9783104915159
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