Doom (eBook)
592 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28230-1 (ISBN)
Katastrophen lassen sich nicht vorhersagen. Und dennoch: Wenn das Unheil zuschlägt, sollten wir besser gerüstet sein als die Römer beim Ausbruch des Vesuv, die Menschen im Mittelalter bei der rasenden Verbreitung der Pest in ganz Europa oder die Russen bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Aber sind wir das? Haben wir nicht gerade in der Corona-Pandemie alles erlebt an imperialer Überheblichkeit, bürokratischer Erstarrung und tiefer Spaltung? »Doom« schaut mit dem Blick des Historikers und Ökonomen auf die unterschiedlichsten Desaster in der Menschheitsgeschichte. Wir müssen unsere Lektionen aus diesen historischen Beispielen lernen, damit künftige Katastrophen uns nicht in den Untergang führen. Mit einem aktuellen Vorwort des Autors für die deutsche Ausgabe.
Niall Ferguson, geboren 1964, ist einer der bekanntesten und renommiertesten Historiker unserer Zeit. Er war Professor für Geschichte an der Harvard University und an der Harvard Business School und lehrte u.a. an der Oxford University, an der Stanford University und der London School of Economics and Political Science. Er ist Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University und Fakultätsmitglied am Belfer Center for Science and International Affairs in Harvard. Er gilt als Spezialist für Finanz- und Wirtschafts- und europäische Geschichte. Ferguson ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Der falsche Krieg« (DVA 1999). Zuletzt ist von ihm erschienen »Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft« (DVA 2021).
Vorwort zur deutschen Ausgabe
»An dieser Stelle möchte ich unterbrechen. Ich lege das Skript weg und will über mein wiederkehrendes Untergangsgefühl reflektieren… Im Moment habe ich wirklich Angst.«
Rochelle Walensky, CBS News, 30. März 2021
»Happy Days Are Here Again.«
Lied von Milton Ager und Jack Yellen,
verwendet in Franklin D. Roosevelts Wahlkampf 1932
Es war eines der denkwürdigsten Missverständnisse des Kalten Krieges. Als der chinesische Premierminister Zhou Enlai 1971 von Henry Kissinger um seine Meinung zu den Auswirkungen der Französischen Revolution gefragt wurde, erwiderte er, es sei »noch zu früh, um ein Urteil abzugeben«. Das klang nach tiefer chinesischer Weisheit und Weitsicht, die in Jahrhunderten dachte und nicht in Wochen, wie westliche Politiker. Doch wie der amerikanische Diplomat Chas Freeman 2011 verriet, glaubte Zhou damals, Kissinger habe die Studentenunruhen von 1968 gemeint und nicht die Revolution von 1789.
Es wäre müßig, diesem Buch vorwerfen zu wollen, es sei zu früh geschrieben worden – zu einem Zeitpunkt, als noch gar nicht absehbar war, welche Dimension die Corona-Pandemie annehmen und welche Folgen sie haben würde. Da sich nur drei der elf Kapitel mit der Pandemie von 2020/21 beschäftigen, wäre der Vorwurf angebrachter, dass es zu spät kommt und dass es von größerem Nutzen gewesen wäre, wenn es schon 2019 vorgelegen hätte. Aber zu früh? Es wäre absurd, von einem Buch die Aktualität einer Tageszeitung zu erwarten, doch genauso falsch wäre es, von einem Historiker zu verlangen, er solle das Ende eines Ereignisses abwarten, bevor er darüber schreibt. Denn wann ist eine Pandemie vorüber? In diesem Buch vertrete ich unter anderem die These, dass nicht alle Katastrophen eigenständige, feinsäuberlich abgrenzbare Ereignisse sind. Die Beulenpest suchte London zwischen 1348 und 1665 immer wieder heim. Die Grippe war der Serienmörder des 20. Jahrhunderts und ist im Grunde bis heute nicht vorbei. Gleiches gilt auch für politische Katastrophen. Jules Michelet veröffentlichte seine Geschichte der Französischen Revolution zwischen 1847 – am Vorabend einer weiteren Revolution – und 1853 – dem Jahr nach der Krönung Napoleons III. Doch seine Darstellung findet heute weit weniger Leser als Edmund Burkes Betrachtungen über die Revolution in Frankreich, die auf verblüffende Weise vorhersahen, dass der Angriff auf die traditionellen Institutionen in einer »bösartigen und unwürdigen Oligarchie« und letztlich in einer Militärdiktatur enden würde. Burke prophezeite, wohin die Utopien der französischen Intellektuellen führen würden: »Am Ende jeder Straße ein Galgen.« Diese Worte veröffentlichte er im November 1790, mehr als ein halbes Jahr vor der Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes und mehr als zwei Jahre vor dessen Hinrichtung. Würde man Burke vorwerfen, sein Buch zu früh veröffentlicht zu haben?
Wenn man in einem Buch über Katastrophen auch auf eine nicht abgeschlossene Katastrophe eingeht, dann deshalb, weil man nie zu früh aus Fehlern lernen kann. Mag sein, dass wir die Nase voll haben von der Corona-Pandemie und uns nach der Rückkehr zum »normalen Leben« sehnen, wie Kinder auf dem Rücksitz, die schon kurz nach Beginn der Fahrt quengeln: »Sind wir bald da?« Aber es ist durchaus wahrscheinlich, dass uns SARS-CoV-2 noch lange erhalten bleibt und dass unser Gesundheitswesen noch auf Jahre hinaus eine Art Topfschlagen oder Blinde Kuh mit immer neuen Varianten des Virus spielen wird. In diesem Fall müssen wir schon heute darüber sprechen, was in der ersten großen Phase der Pandemie schiefgegangen ist.
Die allgemeine Theorie der Katastrophen, die ich in diesem Buch aufstelle, lässt sich wie folgt vereinfachen: Erstens sind Katastrophen qua Definition unvorhersehbar und gehören ins Reich des Ungewissen. Jeder Versuch, sie vorherzusagen, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn hin und wieder eine Kassandra einen Glückstreffer erzielt. Zweitens lassen sich natürliche und von Menschen gemachte Katastrophen nicht so eindeutig unterscheiden, wie man meinen möchte: Die Übersterblichkeit ist fast immer eine Folge menschlichen Handelns, weshalb die »Katastrophenpolitik« die beste Erklärung dafür ist, warum das Virus je nach Land ganz unterschiedliche Auswirkungen hatte. Drittens befindet sich bei den meisten Katastrophen der entscheidende Schwachpunkt nicht an der Spitze, sondern weiter unten in der Hierarchie (bei Richard Feynmans nie erreichbarem NASA-Bürokraten »Mr. Kingsbury«), auch wenn eine unfähige Führung immer in der Lage ist, aus einer schlimmen Situation eine noch viel schlimmere zu machen. Viertens werden von physischen Krankheitserregern verursachte Epidemien oft noch durch geistige Epidemien verstärkt, so wie Kriege nicht nur durch Armeen, sondern auch durch die Moral der Truppe entschieden werden. Und schließlich lässt es die Unvorhersehbarkeit von Katastrophen ratsamer erscheinen, allgemein paranoid zu sein, als den Apparat auf den falschen Notfall vorzubereiten. Eine schnelle Reaktion auf erste Warnungen ist entscheidend für die Widerstandsfähigkeit und Antifragilität, auch wenn man durch Selbstgefälligkeit leicht zum Opfer des eigenen Erfolgs werden kann (siehe den rapiden Anstieg der Infektionszahlen in Taiwan im Mai 2021).
Warum scheiterten so viele westliche Länder 2020 an der Eindämmung des neuartigen Coronavirus, und warum erlebten sie in der Folge die höchste Übersterblichkeit seit den 1950er Jahren? In diesem Buch behaupte ich, dass es falsch wäre, die Schuld bei populistischen Politikern zu suchen, auch wenn diese mit ihrer Unberechenbarkeit sicherlich einen Beitrag zu den hohen Opferzahlen geleistet haben. Ursache war vielmehr das Versagen der Gesundheitsbehörden, das auch in Ländern ohne populistische Führung zu beobachten war. Es gab zwar Pläne für den Pandemiefall, doch die griffen nicht. Testkapazitäten wurden zu langsam aufgebaut, die Kontaktverfolgung blieb im Ansatz stecken, Quarantänen wurden nicht durchgesetzt, die vulnerablen Gruppen der Bevölkerung (vor allem in Seniorenheimen) wurden nicht geschützt und noch zusätzlich in Gefahr gebracht. Diese Fehler kosteten die meisten Menschenleben, und es wäre unseriös, Donald Trump und Boris Johnson persönlich dafür haftbar machen zu wollen. In seinem Buch The Premonition kam Michael Lewis auf anderem Weg zu seiner ganz ähnlichen Schlussfolgerung. Wie eine seiner Kassandras sagt: »Trump war eine Begleiterkrankung.« Genau wie Johnson, wenn man Dominic Cummings’ Darstellung des britischen Regierungsversagens Glauben schenkt. Die entscheidende Aussage in Cummings’ Stellungnahmen vom Mai 2021 war nicht, dass der Premierminister »für sein Amt ungeeignet ist«, sondern, dass der gesamte Apparat versagte: Nicht nur die gewählten Politiker, sondern auch Beamte und Gesundheitsexperten »blieben in katastrophaler Weise hinter den Maßstäben zurück, wie sie die Öffentlichkeit zu Recht erwarten darf«.
Es wäre daher ein großer Irrtum zu glauben, dass die Übersterblichkeit unter anderen Präsidenten oder Premierministern viel niedriger ausgefallen wäre. Joe Bidens Stabschef Ron Klain gestand, wenn die Schweinegrippe des Jahres 2009 so tödlich gewesen wäre wie das Coronavirus, dann hätte die Regierung von Präsident Barack Obama ähnlich versagt: »Wir haben alles falsch gemacht. Damals haben sich 60 Millionen Amerikaner mit H1N1 infiziert. Es war reines Glück, dass daraus nicht eines der tödlichsten Ereignisse in der amerikanischen Geschichte wurde. Es hatte nichts damit zu tun, dass wir richtig gehandelt hätten. Wir hatten einfach Glück.«
Die englische Ausgabe von Doom ging Ende Oktober 2020 in den Satz, danach konnte ich nur noch kleinere Korrekturen in den Fahnen vornehmen. Seither haben sich viele neue Entwicklungen ergeben, die ich teils korrekt vorhersehen konnte, teils aber auch nicht. Ich war zu Recht zuversichtlich, was die Impfstoffentwicklung anging, auch wenn ich selbst in meinen optimistischsten Momenten nicht gewagt hätte, eine Wirksamkeit von über 90 Prozent vorherzusehen, wie sie die Vakzine von BioNTech/Pfizer und Moderna erreichen. Genauso wenig konnte ich absehen, wie effektiv Regierungen, die bei der Eindämmung des Virus versagt hatten, diese Impfstoffe einkaufen und einsetzen würden. In dieser Hinsicht war ich zu pessimistisch.
Andererseits war ich zu optimistisch in meiner Einschätzung, dass die Letalität der Corona-Pandemie in etwa derjenigen der Asiatischen Grippe von 1957/58 entsprechen würde, der rund 0,04 Prozent der Weltbevölkerung zum Opfer fielen. Die tatsächlichen Opferzahlen könnten deutlich höher liegen – je nach Schätzung zwischen 0,095 bis 0,17 Prozent der Weltbevölkerung, die mangelnde Erfassung der Corona-Toten in Entwicklungsländern eingerechnet. Damit bleibt die Corona-Pandemie allerdings weit hinter der Spanischen Grippe von 1918/19 zurück, der geschätzte 1,7 Prozent der Weltbevölkerung zum Opfer fielen. Doch wenn man das Altersprofil der Opfer und damit die Zahl der verlorenen Lebensjahre zugrunde legt, bleibt die Corona-Pandemie tatsächlich deutlich näher an der Asiatischen als an der Spanischen Grippe. Allerdings habe ich die Probleme mit neuen Mutationen des Virus unterschätzt, die bereits genesene Patienten ein weiteres Mal infizieren und die Wirksamkeit der Impfstoffe verringern können, und damit auch das Ausmaß weiterer Wellen in und um Brasilien, Indien und Südafrika.
Wie geht es nun weiter? In seinem Buch Apollo’s Arrow fragte mein Freund Nicholas Christakis, ob wir nach der...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2021 |
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Übersetzer | Jürgen Neubauer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Doom: The Politics of Catastrophe |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | aus der Geschichte lernen • Bürokratie • challenger • Corona-Pandemie • eBooks • Endemie • Flugzeugabsturz • Geschichte • Jüngstes Gericht • Kassandra • Kriege • Krisenbewältigung • Menschheitsgeschichte • Naturkatastophen • Omikron • Pest • Reaktorunglück • Risikomanagement • Seuchen • Strafe Gottes • Tschernobyl • Unfälle • unglückliche Zufälle • Unglücksfälle • Verschwörungstheorie • Vulkanausbruch • Zeppelin |
ISBN-10 | 3-641-28230-6 / 3641282306 |
ISBN-13 | 978-3-641-28230-1 / 9783641282301 |
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