Wer sterben will, muss sterben dürfen (eBook)
224 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-27262-3 (ISBN)
Sollen Menschen, die sterben wollen, unter ärztlicher Begleitung auch sterben dürfen? Michael de Ridder, Internist, Mitgründer eines Hospizes und Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin, ist einer der wenigen Mediziner, die sich öffentlich dazu bekennen, unter bestimmten Bedingungen Sterbehilfe zu leisten. Er hat deshalb auch vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen den Strafrechtsparagraphen 217 geklagt, der die geschäftsmäßige Suizidhilfe 2015 unter Strafe gestellt hatte.
In seinem neuen Buch legt er die Positionen der Unterstützer wie Gegner der Suizidhilfe dar und zeigt die Schwachstellen in unserem Gesundheitssystem, die es Schwerstkranken vielfach unmöglich machen, angemessene Hilfe zu erhalten, wenn alle anderen Optionen erschöpft sind. Am eindrücklichsten ist de Ridders Buch dort, wo er von seinen Erfahrungen in der Begleitung sterbewilliger Patienten spricht und erklärt, in welchen Fällen er bereit ist, schwer kranken Menschen zu helfen, ihr Leben selbst zu beenden.
Michael de Ridder ist seit mehr als dreißig Jahren im ärztlichen Beruf tätig, zuletzt als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses und als Geschäftsführer des von ihm mitbegründeten Vivantes Hospiz. Als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin befasst er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin und Fragen der Gesundheitspolitik und erörtert dies immer wieder in den Medien, unter anderem in Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Cicero. Für sein Wirken wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt von der Stiftung Gesundheit für sein publizistisches Lebenswerk.
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Prolog: Sigmund Freud und Franz Kafka – ihre Krankheiten, ihr Leiden und Sterben
In Rückschau auf den rauschhaften Glückszustand, in dem Kafka in nur einer Nacht seine Erzählung »Das Urteil« niederschrieb, notierte er am 23. September 1912 in sein Tagebuch: »Gedanken an Freud natürlich.« In der Tat offenbart Kafka mit seiner Bemerkung eine – wie auch immer geartete – Auseinandersetzung mit Freud und dessen Psychoanalyse. Aber zwischen dem Schriftsteller Franz Kafka (1883–1924) und dem Neurologen und Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939) gibt es noch eine weitere Verbindung: Sie teilten das Schicksal einer schweren chronisch verlaufenden, zur damaligen Zeit ursächlich nicht behandelbaren Erkrankung, der sie schmerzvoll über viele Jahre standhielten. Kafka litt an Lungen- und Kehlkopftuberkulose, Freud an einem bösartigen Tumor des Kiefers und Gaumens. Ihrem Schicksal gemeinsam ist nicht nur die Kreativität und Zähigkeit, mit der sie trotz körperlicher Schwächung und Schmerzen ihre Werke vorantrieben, nicht allein der Wille zur Selbstbehauptung, die Tapferkeit und Klaglosigkeit, mit der sie Krankheit und Sterben durchlebten und hinnahmen. Sie verbindet auch, dass sie von Ärzten begleitet und behandelt wurden, die ihren Wunsch nach Schmerzlinderung erfüllten, mehr noch ihre nachhaltige Bitte um Beendigung ihres letztlich unerträglich gewordenen Leidens: Ihre Ärzte leisteten nicht allein Hilfe im Sterben, sie leisteten auch Hilfe zum Sterben (zu den Formen der Sterbehilfe siehe Exkurs 1). Wie es hierzu kam und unter welchen Umständen sich Kafkas und Freuds Sterben und ihre letzten Lebensstunden vollzogen, will ich auf den folgenden Seiten darstellen.
»Klopstock – töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder«
Das dichterische Werk Franz Kafkas sucht in der Weltliteratur seinesgleichen. Kafka – ein Beladener, ein Rätselhafter, eine zerrissene und gequälte Existenz, die sich in all seinen Romanen und Erzählungen spiegelt. In ihnen ergründet Kafka wie kaum jemand vor und nach ihm die Unvollkommenheit und Undurchdringlichkeit menschlichen Lebens, wie sein Freund und Biograph Max Brod schrieb.
Kafkas Werk ist eng mit seiner persönlichen Krankengeschichte verwoben. Zeitlebens übt er sich an einer »hypochondrischen« Selbstbeobachtung seiner gesundheitlichen Verfassung, physisch wie psychisch. Fortwährend registriert er selbst geringste Unregelmäßigkeiten seines körperlichen Befindens. Immer wieder erwähnt er in Briefen und Tagebüchern nervöse Symptome (damals »Neurasthenie« genannt), spricht von seiner Magerkeit, von fiebrigen Zuständen, von Schlaflosigkeit und quälenden Kopfschmerzattacken.
Kafka – Zeit seines Lebens ein Leidender. Indes litt er nicht allein an seiner Physis; früh schon litt er am Leben, an seiner Existenz, wie aus einer schon 1916 verfassten Notiz hervorgeht: »Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: ›Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir!‹« 1
Erste Anzeichen der Erkrankung, die sieben Jahre später seinen Tod zur Folge haben sollte, bemerkt er im Sommer 1917: Anhaltend rötlicher Speichel, den er indes ignoriert und verdrängt. Schließlich hustet er Blut, in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1917 erleidet Kafka einen Blutsturz. Zunächst stellt der befreundete Arzt Dr. Mühlstein einen harmlosen Bronchialkatarrh fest. Er verordnet eine gesunde Lebensweise und Stärkungsmittel, was Kafka entgegenkommt, steht er doch der Schulmedizin und den sie vertretenden Ärzten seit jeher kritisch gegenüber. Auf Drängen von Max Brod stellt sich Kafka wenige Wochen später dem Lungenspezialisten Professor Pick vor, der anhand einer Speicheluntersuchung und eines Röntgenbildes eine floride Lungentuberkulose diagnostiziert. Pick empfiehlt einen Sanatoriumsaufenthalt (dem viele weitere folgen sollten) und zudem das damals als Stärkungsmittel geltende Arsen. Beides verwirft Kafka, stattdessen zieht er drei Monate zu seiner auf dem Land lebenden Lieblingsschwester Ottla.
Ungewöhnlich ist Kafkas Wahrnehmung und Umgang mit seiner Krankheit; ihre Ernsthaftigkeit und Bedrohlichkeit erschließt sich ihm erst allmählich. Anfänglich widmet er ihrer Erklärung mehr Interesse als ihrer fachkundigen Behandlung. Er sucht ihr Bedeutung und Sinn zu verleihen, in ihr ein Zeichen zu lesen; überfrachtet sie gar mit einer moralischen Dimension. Gegenüber Ottla nennt er die Tuberkulose eine »geistige Krankheit«, eine »endgültige Niederlage«. In Gesprächen mit Brod bezeichnet er sie als »Strafe« für sein schuldhaftes Verhalten gegenüber seiner Verlobten Felice Bauer (von der er sich noch 1917 trennt). So erfährt er eine gewisse Entlastung, die so weit geht, dass er in einem Brief an den Literatenfreund Felix Weltsch von einer »verliehenen Krankheit« spricht, aus der er einen sekundären Krankheitsgewinn zieht. 2
Im Herbst 1918 – Kafkas tuberkulöser Lungenspitzenkatarrh ist weitgehend abgeklungen – trifft ihn die Spanische Grippe, eine damals den gesamten Erdball umfassende Pandemie, die mehr als zwanzig Millionen Opfer fordert. Eine schwere wiederum mit Bluthusten und hohem Fieber einhergehende Lungenentzündung ergreift ihn und fesselt ihn wochenlang ans Bett, gepflegt und behütet von seiner Familie. Obwohl keine wirksamen Medikamente existierten, bessert sich sein Zustand; indes hat ihm das neuerliche Lungenleiden einen Schlag versetzt, von dem er sich nicht mehr erholen sollte.
Im Dezember 1920 sucht er ein Lungensanatorium in Matliary auf, einem Kurort in der Hohen Tatra. Dort lernt er einen Mitpatienten kennen, ein Jude wie er selbst, den wesentlich jüngeren angehenden Arzt Robert Klopstock (»der Mediciner«). Wie Kafka laboriert auch er an einer Lungentuberkulose. Wechselseitig sind sie voneinander fasziniert, es entsteht eine enge und vertrauensvolle Freundschaft zwischen beiden. Klopstock umsorgt ihn in einer Weise, die Kafka bisher nur von seiner Schwester Ottla kannte. Klopstock seinerseits unter einer unerwiderten Liebe sowie unter den eigenen unerfüllten literarischen Ambitionen leidend, fühlt sich von Kafka väterlich beraten und ermutigt. Über ihre Freundschaft hinaus wird Klopstock in der Folgezeit zu Kafkas Arzt, der er bis zu seinem Tod bleibt. An seine Eltern schreibt Kafka wenige Wochen vor seinem Tod: »Ich weiß aus Erfahrung, dass man bei Klopstock aufgehoben ist wie in den Armen des Schutzengels.« 3
Während des Sanatoriumaufenthaltes in Matliary hat Kafka ein einschneidendes Erlebnis: Der Besuch bei einem schwerst an Kehlkopf- und Lungentuberkulose erkrankten Mitpatienten schockiert ihn derart, dass er einer Ohnmacht nahe ist. In einem Brief an Brod wenige Stunden nach diesem Besuch verfasst, heißt es: »Was man dort in dem Bette sieht, ist ja viel schlimmer als eine Hinrichtung, ja selbst als eine Folterung … dieses ganze elende Leben im Bett, das Fiebern, die Atemnot, das Medicineinnehmen … hat keinen anderen Zweck als durch Verlangsamung des Wachsens der Geschwüre, an denen er schließlich ersticken muss, eben dieses elende Leben, das Fiebern u. s.w. möglichst lange fortsetzen zu können. Und die Verwandten und die Ärzte und die Besucher haben sich förmlich über diesem nicht brennenden, aber langsam glühenden Scheiterhaufen Gerüste gebaut, um ohne Gefahr der Ansteckung den Gefolterten besuchen, abkühlen, trösten, zu weiterem Elend aufmuntern zu können.« 4
Durch diesen Vorfall zum ersten Mal mit der Ernsthaftigkeit und Bedrohlichkeit seiner Krankheit konfrontiert und mit einer Ahnung dessen versehen, was auch ihm bevorstehen könnte, verlässt Kafka, keineswegs auskuriert, vorzeitig das Sanatorium, nicht ohne zuvor »dem Mediciner« (Klopstock) das Versprechen abgenommen zu haben, ihm eher eine Morphiumspritze zu verabreichen als eine derartige Folter in die Länge zu ziehen. In der Tat suizidiert sich der schwerstkranke Mitpatient nur wenige Tage später: Er stürzt sich zwischen zwei Waggons aus einem fahrenden Zug.
Nach zahllosen weiteren Kuren und Aufenthalten in Lungenheilstätten – die Tuberkulose hatte 1923 auch seinen Kehlkopf erfasst – begibt sich Kafka Ende April des gleichen Jahres in das nahe Wien gelegene Privatsanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg. Seine letzte Geliebte, Dora Diamant, und Robert Klopstock sind bei ihm, umsorgen und pflegen ihn. Essen und trinken kann Kafka jetzt nur noch in allerkleinsten Portionen, Schlucken ist nahezu unmöglich, Atmen und Sprechen verursachen äußerste Qualen, er kommuniziert über kleine Zettel. Auf Ottlas Drängen werden noch einmal hochrangige Spezialisten, unter ihnen der »König der Wiener Lungenärzte«, Professor Heinrich Neumann, zu Rate gezogen. Allein der Hals-Nasen-Ohren-Facharzt Dr. Beck zieht ein ungeschminktes Fazit: »Dr. Kafka befindet sich sowohl an der Lunge als auch im Kehlkopf in einem Zustand, in dem kein Spezialist mehr Hilfe bringen und man nur durch Pantopon oder Morphium die Schmerzen lindern kann.« 5
Heroisch – bereits ein Moribunder und nur noch 45 Kilo schwer – duldet Kafka alle ärztlichen Maßnahmen: In immer kürzeren Abständen versucht man mittels Kampferinjektionen sein Atemzentrum...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Beihilfe zum Suizid • Bundesverfassungsgericht • Ethik • Gesundheitssystem • Paragraf 217 • Schwerstkranke • selbstbestimmtes Lebensende • Sterbebegleitung & Sterbehilfe • Sterbenwollen • Tötung auf Verlangen |
ISBN-10 | 3-641-27262-9 / 3641272629 |
ISBN-13 | 978-3-641-27262-3 / 9783641272623 |
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