Sex and Crime (eBook)
384 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46068-9 (ISBN)
Thomas Fischer, Jahrgang 1953, war bis April 2017 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, die Beck?schen Kurzkommentare, gilt als die Bibel des Strafrechts. Mit seinen Kolumnen für ZEIT-ONLINE und den SPIEGEL wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, zudem ist er Teil des SWR 2-Podcasts 'Sprechen wir über Mord?!'. Bei Droemer erschienen bisher seine Bücher Über das Strafen, Sex and Crime und Im Recht.
Thomas Fischer, Jahrgang 1953, war bis April 2017 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, die Beckʼschen Kurzkommentare, gilt als die Bibel des Strafrechts. Mit seinen Kolumnen für ZEIT-ONLINE und den SPIEGEL wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, zudem ist er Teil des SWR 2-Podcasts "Sprechen wir über Mord?!". Bei Droemer erschienen bisher seine Bücher Über das Strafen, Sex and Crime und Im Recht.
Einleitung
Über einige Regeln der Rechtssprache
Über Sexualität ist unendlich viel geschrieben worden, und dasselbe gilt für Verbrechen. Die Genre-Bezeichnung scheint mit dem Titel »Sex and Crime« inhaltlich einigermaßen klar. Tatsächlich sind aber weder »die Sexualität« noch »das Verbrechen« ohne Weiteres verständliche Begriffe, und ihre scheinbar intuitive Evidenz täuscht. Das bemerkt man, sobald man sich einem der Begriffe mit der schlichten Frage annähert, was er eigentlich inhaltlich bedeute. Denn Sexualität kann etwa sowohl eine menschliche Eigenschaft, Fähigkeit und seelisch-körperliche Struktur bezeichnen als auch deren lebenspraktische Verwirklichung. Sie kann explizit und plakativ, aber auch verborgen und sozusagen sublimiert erscheinen. Und Verbrechen ist nicht allein ein rechtstechnischer Begriff für bestimmte Arten von gesetzlich mit Strafe bedrohten Handlungen, sondern auch eine im Alltagsumfeld angesiedelte, auf moralische und ethische Annahmen gestützte inhaltliche Qualifizierung.
Die große Faszination, die beide Lebensbereiche und vor allem auch ihre Kombination bestimmt, rührt zum einen aus ihrer Außeralltäglichkeit, zum anderen aus der untrennbaren Verbindung mit der individuellen und kollektiven Moral und daher mit den bewussten unbewussten Grundlagen jeder menschlichen Gesellschaft. Jedenfalls für die Sexualität kommt hinzu, dass sie in einem im Prinzip offenkundigen, aber vielfach vermittelten, unklaren und sich wandelnden Verhältnis zur Natur des Menschen als Säugetier, also namentlich zur arterhaltenden Fortpflanzung steht, von der sie zugleich auf vielfältige Weise entkoppelt ist. Die Verbindung von Natur, Gesellschaft, Moral, Konformität und Sanktionierung von Abweichungen macht daher die besondere Bedeutung und den besonderen thematischen Reiz von »Sex and Crime« aus.
Es gibt zahllose Fachpublikationen über Sexualität, Sexualverhalten, sexuelle Störungen, ihre Ursachen und Therapie. Und es gibt viele Fachpublikationen über das geltende Sexualstrafrecht, namentlich seine materiellrechtliche Dogmatik sowie die Besonderheiten, die für das Strafverfahren gelten. Zwischen dieser fachspezifischen Literatur und der gleichermaßen auf Sensationalität ausgerichteten belletristischen und Sachliteratur aus der Lebenswelt sexuell motivierter und sexualisierter Straftaten besteht eine Lücke. Sie mag dazu beitragen, dass trotz einer teilweise geradezu obsessiv anmutenden medialen Aufmerksamkeit für Themen sexuell auffälligen, abweichenden oder als strafwürdig angesehenen Verhaltens in weiten Teilen der Bevölkerung ein erstaunlich geringes Kenntnisniveau besteht. Hierauf beruht die Idee, eine nicht für Fachleute bestimmte Darstellung des in Deutschland aktuell geltenden Sexualstrafrechts, seiner Grundlagen, Geschichte, Entwicklungen und Probleme zu schreiben.
Gesprochen wird ständig über Sexualität – über ihre Bedeutung für das soziale Leben, die moralischen, informellen und formellen Grenzen ihrer Betätigung und über Notwendigkeit und Voraussetzungen, Ziele und Folgen ihrer Regulierung durch Strafe. Dies geschieht in vielerlei Formen auf allen Ebenen der Gesellschaft und häufig mit hoher emotionaler Beteiligung. In den letzten Jahrzehnten konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Bedeutung des Sexualstrafrechts, also einer formellen Verfolgung von abweichendem, verbotenem sexuell motivierten Verhalten, in der Gesellschaft deutlich zugenommen hat, während umgekehrt die Kommunikation über Sexualität und Sexualverhalten eher an öffentlicher Bedeutung verloren und sich auf eher allgemeine Themen des Verhältnisses von »Geschlecht« und »Gender« verschoben hat. Beides mag miteinander zusammenhängen.
Über strafrechtliche Regelungen kann man nur vernünftig sprechen, wenn man ihren Inhalt kennt und versteht. Was für Juristen selbstverständlich erscheint, stellt sich für viele Menschen, die weder Strafrecht gelernt haben noch einen juristischen Beruf ausüben, als erhebliche Hürde dar. Das hat mehrere Gründe, die zum Teil naheliegen und der Natur der Sache, also dem Recht an sich, geschuldet sind, zum Teil Kritik herausfordern. Der offensichtlichste Grund sind die Ungewohntheit, Sperrigkeit und geringe Alltäglichkeit der juristischen Fachsprache, insbesondere auch der Gesetzessprache. Wer probeweise einmal einen Blick in den Text des § 177 StGB wirft (s. Anhang), kann spontan verzweifeln. Die verschachtelten, in Absätze, Sätze, Ziffern und Varianten differenzierten Handlungsbeschreibungen, die Konstruktionen mit »und« und »oder«, die Verweisungen und Strafrahmen sind beim bloßen Durchlesen schon von erfahrenen Juristen kaum entwirrbar und für Laien vollkommen unverständlich. Sie sind zwar in deutscher Sprache verfasst, ihr Sinn erschließt sich aber auch dem Gutwilligen und Sprachkundigen nur mühsam.
Die Probe aufs Exempel kann man machen, indem man Juristen mit jahrelanger Leseroutine bittet, den Gesetzestext zu lesen und sodann anzugeben, wie viele unterschiedliche Tatvarianten schwerer Straftaten die Vorschrift eigentlich enthält. Die Antworten, die man hierauf erhält, variieren erfahrungsgemäß zwischen 10 und 50 und sind mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit durchweg falsch. Die Erwartung, die potenziell von den Strafdrohungen Betroffenen, also alle strafmündigen Bürger, könnten die ins Extrem gesteigerte Ansammlung von Schachtelsätzen verstehen, für sich übersetzen und auf dieser Grundlage sämtliche Regeln befolgen, erscheint annähernd absurd. Gleichwohl haben Beschuldigte, die sich auf einen sogenannten Verbotsirrtum (§ 17 StGB) berufen, also behaupten, sie hätten bei der Tatbegehung die Strafbarkeit ihres Handelns nicht gekannt, kaum eine Chance. Die Schuld ist beim Verbotsirrtum nämlich nur ausgeschlossen, wenn dieser »nicht vermeidbar« ist. Und die Rechtsprechung der Strafgerichte ist sich durchweg einig, dass praktisch jeder Irrtum vermeidbar wäre, wenn der Täter sich bei einer rechtsgelehrten Person erkundigt hätte.
Hier treffen sich also zwei ungünstige Bedingungen, einerseits eine Verselbstständigung professioneller Sprachformen, andererseits eine verbreitete Scheu und Abwehr weiter Teile der Bevölkerung gegen »Juristensprache«. Das Letztere liegt nur teilweise an der Sprache selbst. So sind andere Fachterminologien viel schwieriger, werden aber nicht abgelehnt, man denke etwa an die Sprache der Medizin und der Ingenieurwissenschaften, der Kunst oder Psychologie. Deren Benutzung gilt vielfach sogar als Demonstration einer sozial gehobenen Stellung und als erstrebenswerter Nachweis von Allgemeinbildung.
Die verbreitete Abneigung gegen die Juristensprache stammt aus der Sache selbst, um die es geht. Verbindliche, letztlich mit staatlicher Macht und Gewalt durchsetzbare Regeln müssen, um Anforderungen der Verfassung, aber auch der Lebenswirklichkeit zu genügen, meist sehr abstrakt gefasst sein. Die Denkstruktur, die ihnen zugrunde liegt, ist überwiegend deduktiv, das heißt, sie führt vom Allgemeinen ins Spezielle. Es gibt also eine möglichst klare Hierarchie von Ober- und Unterbegriffen und eine möglichst zwingende Systematik der Regelungsebenen. Ein Beispiel: In der Strafvorschrift gegen Diebstahl (§ 242 StGB) heißt es nicht: »Wer einem anderen einen Geldschein wegnimmt«, sondern: »Wer eine fremde bewegliche Sache wegnimmt«. In dieser kurzen Formulierung finden sich gleich vier Begriffe (nämlich »fremd«, »beweglich«, »Sache« und »wegnehmen«), über deren Bedeutung man nachdenken und lange diskutieren kann.
Die Lebenswirklichkeit ist unendlich vielgestaltig und kann sprachlich nicht einfach abgebildet, sondern muss in begrifflichen Abstraktionen beschrieben werden. Die Menschen, die in konkreten Situationen leben und betroffen sind, wollen aber keine Abstraktionen, sondern jeweils hochspezifische konkrete Auskünfte oder Anweisungen. Sie möchten nicht darüber nachdenken, ob ihr Dackel eine Sache ist oder ob »Wegnehmen« auch gegeben ist, wenn heimlich ein 20-Euro-Schein gegen zwei Zehner ausgetauscht wird. Wenn auf solche Fragen dann Juristen antworten, es »komme darauf an«, fühlen sich die meisten Laien in der Annahme bestätigt, dass man mit Menschen, die Jura studiert haben, nicht vernünftig reden kann. Sie vermuten oft, dass Juristen auch in ihrem privaten Lebensbereich ständig so sprechen und denken. Das stimmt ebenso wenig wie die Annahme, Zahnärzte würden beim Abendessen stets über das Kariesrisiko referieren, genauso wenig therapieren Psychologen zum Glück nicht rund um die Uhr ihre soziale Umgebung.
Leser, die strafrechtliche Fälle vor allem aus fiktiven oder medialen Darstellungen kennen, sich aber mit rechtlichen, speziell strafrechtlichen Fragen noch nicht näher befasst haben, müssen daher eine gewisse Schwelle überwinden, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen. So gilt es, sowohl die Intuition, also die spontane, gefühlsgestützte Beurteilung, als auch die Sensation, also das emotionale Erlebnis spektakulärer, bedrückender, jedenfalls ganz konkreter Geschehnisse, beiseitezulassen, um zu einer distanzierteren und analytischen Betrachtung der Fälle zu kommen. Zugleich versuche ich, mich so »unjuristisch« und lebensnah auszudrücken, wie es geht, ohne dabei die notwendige begriffliche Schärfe zu vernachlässigen, die die Sache und mein Anliegen erfordern. Es kann also weder auf Fachbegriffe noch auf die Erläuterung systematischer Zusammenhänge verzichtet werden, auf denen die Gesetze und ihre Anwendung beruhen. Wenn man den Unterschied zwischen einem Motor und einem Getriebe, einer Kurbelwelle und einer Starrachse weder kennt noch kennenlernen möchte,...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | § 218 • § 219 • Abtreibung • Bundesgerichtshof • Deutschland Politik Kultur Gesellschaft • Dunkelfeld • Feminismus • Gender • Gender-Diskurs • genderfragen • Geschichte des Strafrechts 1871- heute • Gesellschaftskritik • Gesellschaftskritische Bücher • Krankheit • Medien • Missbrauch • Pädophilie • Sachbuch Gesellschaft • Schuld • Sex • Sexualität • Sexualmoral • Sexualstrafrecht • Sexualstraftaten • Sexualverbrechen • Sexueller Missbrauch • Sexuelle Selbstbestimmung • Sittlichkeit • Spiegel-Kolumnist • Strafrecht • Vergewaltigung • Vergewaltigung in der Ehe • Vorsitzender Richter • Zwang |
ISBN-10 | 3-426-46068-8 / 3426460688 |
ISBN-13 | 978-3-426-46068-9 / 9783426460689 |
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Größe: 859 KB
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