Der glücklichste Mensch der Welt (eBook)
220 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46224-9 (ISBN)
Eddie Jaku, vor über hundert Jahren in Leipzig geboren, wurde 1938 als Jude nach Buchenwald und später Auschwitz deportiert. Während seine Eltern ermordet wurden, überlebte er den Holocaust. In den 1950er Jahren wanderte er nach Australien aus. Er verstarb 2021 im Kreis seiner Familie.
Eddie Jaku, vor über hundert Jahren in Leipzig geboren, wurde 1938 als Jude nach Buchenwald und später Auschwitz deportiert. Während seine Eltern ermordet wurden, überlebte er den Holocaust. In den 1950er Jahren wanderte er nach Australien aus. Er verstarb 2021 im Kreis seiner Familie. Ulrike Strerath-Bolz übersetzt seit mehr als 30 Jahren Sachbücher und Romane aus dem Englischen, Französischen und den skandinavischen Sprachen. Zu Autor*innen gehören u. a. Richard Rohr, Terry Eagleton und Mike Wiking, aber auch Barbara Erskine und Mary Higgins Clark.
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Ich wurde im Jahr 1920 geboren, in einer Stadt namens Leipzig im Osten Deutschlands. Mein Name war Abraham Salomon Jakubowicz, aber meine Freunde nannten mich kurz Adi. Im Englischen wurde später Eddie daraus. Du darfst mich also gern Eddie nennen.
Wir waren eine liebevolle Familie. Eine große Familie. Mein Vater Isidor hatte noch vier Brüder und drei Schwestern, und meine Mutter Lina war eins von dreizehn Kindern. Stell dir nur vor, was für eine starke Frau meine Großmutter gewesen sein muss, die so viele Kinder großzog! Einen Sohn hatte sie im Ersten Weltkrieg verloren – ein Jude, der sein Leben für Deutschland opferte. Und auch ihr Mann, mein Großvater, kam nicht aus dem Krieg zurück. Er war Militärgeistlicher gewesen.
Mein Vater war ein ausgesprochen stolzer deutscher Staatsbürger. Er war aus Polen gekommen und hatte sich in Deutschland niedergelassen. Damals war er Feinmechanikerlehrling bei der Schreibmaschinenfirma Remington gewesen. Weil er gut Deutsch sprach, bekam er eine Stelle auf einem deutschen Handelsschiff und fuhr bis nach Amerika.
Dort ging es ihm wirtschaftlich sehr gut, doch er vermisste seine Familie und beschloss, zurück nach Europa zu reisen, um sie zu besuchen. So fuhr er mit einem anderen Handelsschiff wieder über den Ozean – und geriet in den Ersten Weltkrieg. Da er mit polnischem Pass reiste, wurde er als feindlicher Ausländer von den Deutschen interniert. Doch als man in der Haft feststellte, dass er ein qualifizierter Mechaniker war, wurde er entlassen und in einer Fabrik in Leipzig angestellt, in der schwere Kriegswaffen gebaut wurden.
In dieser Zeit verliebte er sich in meine Mutter Lina und in Deutschland, sodass er nach dem Ende des Krieges dort blieb. Er gründete eine Fabrik in Leipzig, heiratete meine Mutter, und kurz darauf wurde ich geboren. Zwei Jahre später konnten wir meine kleine Schwester Johanna auf dieser Welt willkommen heißen. Wir nannten sie Henni.
Nichts konnte den Patriotismus meines Vaters und seinen Stolz auf Deutschland erschüttern. Wir betrachteten uns in erster Linie als Deutsche, dann noch einmal als Deutsche und erst dann als Juden. Unsere Religion war uns nicht so wichtig, wir wollten vor allem gute Leipziger Bürger sein. Wir hielten uns an unsere Traditionen und Feiertage, aber unsere Treue und Liebe gehörten Deutschland. Ich war stolz auf meine Heimatstadt Leipzig, die seit achthundert Jahren ein Zentrum der Kunst und Kultur war. Die Stadt beherbergte eines der ältesten Symphonieorchester der Welt, hatte Johann Sebastian Bach, Clara Schumann, Felix Mendelssohn und viele andere inspiriert: Schriftsteller, Dichter und Philosophen wie Goethe, Leibniz und Nietzsche.
Seit Jahrhunderten waren die Juden aus der Leipziger Stadtgesellschaft nicht wegzudenken. Schon seit dem Mittelalter fand der große Wochenmarkt am Freitag statt, damit die jüdischen Händler daran teilnehmen konnten. Wir dürfen ja am Samstag, dem jüdischen Sabbat, nicht arbeiten. Bekannte jüdische Bürger und Wohltäter trugen zum Gemeinwohl bei, ebenso die jüdische Gemeinde, die einige der schönsten Synagogen Europas errichten ließ.
Es war ein harmonisches Leben. Und ein sehr gutes Leben für ein Kind. Der Zoo, weltberühmt für seine Sammlungen und seine einzigartigen Zuchterfolge bei Löwen, lag nur fünf Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt. Kannst du dir vorstellen, wie aufregend das für einen kleinen Jungen war? Zwei Mal im Jahr gab es eine riesige Handelsmesse, die ich mit meinem Vater besuchte. Diese Messe hatte Leipzig zu einer der kultiviertesten und reichsten Städte in Europa gemacht. Die Lage und die Bedeutung als Handelsstadt sorgten dafür, dass sich von hier aus neue Technologien und Ideen verbreiteten. Außerdem beherbergte die Stadt die zweitälteste Universität Deutschlands, die 1409 gegründet worden war. 1650 war in Leipzig die erste Tageszeitung der Welt erschienen. Es war eine Stadt der Bücher, der Musik, der Oper. Als Junge war ich fest davon überzeugt, ich sei Teil der aufgeklärtesten, kultiviertesten und höchstentwickelten, auf jeden Fall aber der gebildetsten Gesellschaft der Welt. Was für ein Irrtum!
Ich war zwar nicht sehr religiös, aber wir gingen regelmäßig in die Synagoge. Meiner Mutter zuliebe hielten wir auch die Speisegebote ein. Sie wollte gern so traditionell wie möglich leben, um ihrer eigenen Mutter einen Gefallen zu tun, meiner Großmutter, die bei uns lebte und sehr religiös war. Am Freitagabend trafen wir uns immer zum Schabbes-Essen, beteten und aßen die traditionellen Speisen, die meine Großmutter liebevoll für uns zubereitete. Sie kochte auf dem riesigen Holzofen, der auch das ganze Haus heizte. Ein geniales Netz von Rohrleitungen durchzog unser Haus, sodass kein bisschen Wärme verschwendet wurde und der Rauch sicher nach draußen gelangte. Wenn wir durchgefroren von draußen hereinkamen, saßen wir auf Kissen an diesem Herd, um uns aufzuwärmen. Ich hatte einen Hund, eine kleine Dackelhündin namens Lulu, die sich an kalten Abenden auf meinem Schoß zusammenrollte. Ich liebte diese Abende!
Mein Vater arbeitete schwer, um für uns zu sorgen, und es fehlte uns an nichts. Dennoch ließ er uns immer wieder wissen, dass es um mehr geht im Leben als um materiellen Besitz. Jeden Freitag buk unsere Mutter drei oder vier Laibe Challah fürs Abendessen, das besondere, köstliche Feiertagsbrot mit Eiern und Weizenmehl, das wir nur zu besonderen Gelegenheiten bekamen. Als ich sechs Jahre alt war, fragte ich meinen Vater, warum sie so viele Brote buk, obwohl wir doch nur vier Personen waren, und er erklärte mir, die übrigen Brote würde er in die Synagoge bringen, wo sie an bedürftige Juden verteilt wurden. Er liebte seine Familie und seine Freunde. Ständig brachte er Freunde mit zum Abendessen. Meine Mutter protestierte immer wieder und sagte, mehr als fünf dürften es aber nicht sein, sonst würden wir nicht mehr alle um den Tisch passen.
»Wenn du das Glück hast, genug Geld und ein schönes Haus zu besitzen, kannst du es dir auch leisten, anderen zu helfen, die nicht so glücklich sind«, sagte er immer wieder zu mir. »Darum geht es im Leben, dein Glück mit anderen zu teilen.« Er betonte oft, dass im Geben viel mehr Freude läge als im Nehmen und dass die wichtigen Dinge im Leben – Freunde, Familie, Freundlichkeit – viel kostbarer seien als Geld. »Der Wert eines Mannes bemisst sich nicht nach seinem Bankkonto.« Damals hielt ich ihn für ziemlich verrückt, aber heute, nach allem, was ich erlebt habe, weiß ich, er hatte recht.
Eddie (vorne rechts) im Kreise seiner Familie, 1932. Als einziger der hier Fotografierten überlebte er den Holocaust.
Doch unser Familienglück war von dunklen Wolken überschattet. Deutschland erlebte unruhige Zeiten. Der Erste Weltkrieg war verloren, die Wirtschaft lag am Boden. Die Siegermächte verlangten höhere Reparationszahlungen, als Deutschland jemals aufbringen konnte, und darunter litt das gesamte Volk von damals achtundsechzig Millionen Menschen. Lebensmittel und Brennmaterial waren knapp, und überall herrschte Armut, was die stolzen Deutschen empfindlich zu spüren bekamen.
Wir lebten als Mittelschichtfamilie zwar recht angenehm, doch selbst wenn man genug Geld hatte, waren manche Notwendigkeiten einfach nicht zu bekommen. Meine Mutter legte weite Wege zurück, um auf dem Schwarzmarkt Handtaschen und Kleidung aus besseren Tagen gegen Eier, Milch, Butter oder Brot einzutauschen.
Als mein Vater kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag wissen wollte, was ich mir wünschte, bat ich ihn um sechs Eier, einen Laib Weißbrot – das schwer zu bekommen war, weil die Deutschen meistens Roggenbrot aßen – und eine Ananas. Etwas Beeindruckenderes als sechs Eier konnte ich mir nicht vorstellen, und eine Ananas hatte ich noch nie gesehen. Tatsächlich trieb er eine auf.
Ich habe keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber so war mein Vater. Er machte das Unmögliche möglich, nur um mir eine Freude zu bereiten. Ich war so aufgeregt, dass ich an meinem Geburtstag alles sechs Eier und die Ananas auf einen Sitz verdrückte. So viel Reichhaltiges auf einmal hatte ich noch nie gegessen. Meine Mutter warnte mich und sagte, ich solle nicht so schlingen. Ob ich auf sie gehört habe? Natürlich nicht!
Besonders schlimm war die Inflation, die es unmöglich machte, länger haltbare Lebensmittel auf Vorrat zu kaufen oder Zukunftspläne zu machen. Wenn mein Vater abends nach Hause kam, hatte er einen Koffer mit Geld bei sich, das schon am nächsten Morgen nichts mehr wert sein würde. Er schickte mich damit zum Laden und sagte: »Kauf, was du kriegen kannst. Wenn sechs Brote da sind, kauf sie alle. Morgen gibt es nichts mehr dafür.« Selbst für wohlhabende Familien war es ein schwieriges Leben, und die Deutschen fühlten sich gedemütigt und waren sehr zornig. Viele waren so verzweifelt, dass sie jedem glaubten, der ihnen eine Lösung versprach. Die Nationalsozialisten und Hitler taten genau das: Sie versprachen den Deutschen eine Lösung ihrer Probleme. Und sie präsentierten den Menschen ein Feindbild.
Als Hitler 1933 an die Macht kam, segelte er auf einer Welle des Antisemitismus. Ich wurde gerade dreizehn Jahre alt und hätte meine Bar-Mizwa feiern sollen, die uralte religiöse Zeremonie, die den Übergang zum Erwachsenenalter markiert. Auf die Bar-Mizwa, was so viel bedeutet wie »Sohn des Gebots«, folgt normalerweise ein rauschendes Fest mit köstlichem Essen und Tanz. Zu anderen Zeiten hätten wir in der großen Leipziger Synagoge gefeiert, aber unter der Herrschaft der Nazis war...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2021 |
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Übersetzer | Dr. Ulrike Strerath-Bolz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 100 Jahre • 2. Weltkrieg Biografien • 2. Weltkrieg Erinnerungen • 9. November • Adolf Hitler • Alter • Antisemitismus • Auschwitz • Auschwitz Buch • Autobiografie • Buchenwald • Der Junge • Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte • Der Junge mit dem gestreiften Pyjama • der seinem Vater nach Auschwitz folgte • Der Tätowierer von Auschwitz • Eddie Jaku • Erfahrungen • Erfahrungen wahre Geschichten • Erfahrungsberichte 2. Weltkrieg • Erfahrungsberichte wahre Geschichten • Erfahrunsbericht • Erinnerung • Europa • Flucht • Fremdenfeindlichkeit • Geschichte • Gewalt • Ghetto • Glück • Glücklich leben • Glücklich sein • Heather Morris • historisch • Holocaust • Holocaust Biografien • Holocaust Buch • Holocaust-Überlebender • Hundertjähriger • Innere Kraft • Innerer Frieden • Innere Stärke • Jeremy Dronfield • Judenhass • Judenverfolgung • Judenverfolgung Bücher • Judenvernichtung • Konzentrationslager • KZ • KZ Überlebende • lebensfreude buch • Lebensgeschichten • Lebenshilfe • Nationalsozialismus • Nazi • NS • Optimismus • Pogrom • positive Einstellung • Positives Denken • Rassismus • Schoah • Schullektüre • Shoa • Tatsachenberichte • Vertreibung • Wahre GEschichte • Weisheit • Zeitgeschichte 2. Weltkrieg • Zeitzeuge • Zufriedenheit • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-46224-9 / 3426462249 |
ISBN-13 | 978-3-426-46224-9 / 9783426462249 |
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