Krise und Kritik (eBook)
419 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76356-8 (ISBN)
Alle »klassischen« Soziologen des 19. und 20. Jahrhunderts versuchten, die große Transformation von der vormodernen zur modernen Gesellschaft zu verstehen und zu erklären. Sie beschritten dazu neue theoretische wie methodische Wege und legten paradigmatische Analysen vor, die in zündenden Zeitdiagnosen gipfelten. Ihre Stichworte lauten: Demokratie (Tocqueville), Kapitalismus (Marx), Moral (Durkheim), Kultur (Simmel) und Rationalisierung (Weber). Krise und Kritik stellt die Deutungsversuche dieser Klassiker in fünf Porträts vor, bettet sie in allgemeine Überlegungen zur Moderne ein und zeigt, dass ihre Problemlagen noch immer die unseren sind.
<p>Hans-Peter Müller ist Professor em. für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen:<em> Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung</em> (stw 2110) und <em>Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität</em> (stw 2251, hg. mit Tilman Reitz)</p>
111. Soziologie und Moderne
1.1 Die Entstehung der Soziologie und der Moderne
Die Soziologie als Wissenschaft entsteht nicht im luftleeren Raum. Vielmehr ist sie selbst das Produkt jener »Großen Transformation«, in der jener Gesellschaftstyp sich allmählich herauskristallisieren sollte, den wir heute kurzerhand die Moderne nennen. Deshalb gilt die Soziologie, die sich akademisch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Universitäten durchzusetzen beginnt, nach wie vor als eine relativ junge Wissenschaft. Natürlich hat sie einen außeruniversitären Vorlauf und setzt als eigenständige Denkform in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Henri de Saint-Simon (1760-1825), August Comte (1798-1857) und Alexis de Tocqueville (1805-1859) in Frankreich, Karl Marx (1818-1883) in Deutschland und im englischen Exil sowie der Brite Herbert Spencer (1820-1903) haben Soziologie betrieben, aber eben nicht als Professoren an einer Universität. Saint-Simon war Ingenieur und Lebenskünstler, Comte erst sein Sekretär, dann als Privatgelehrter selbständig, Alexis de Tocqueville war Aristokrat, Politiker und Privatier, Karl Marx war Journalist und Revolutionär, Herbert Spencer war Eisenbahningenieur und Mitbegründer des Economist. Erst mit der Generation von 1890-1920 sollte die Soziologie langsam Eingang in die Universität finden: Émile Durkheim erhält an der Universität von Bordeaux als erster Franzose eine soziologische Stelle, Georg Simmel müht sich als Philosoph redlich an der Berliner Universität, bleibt aber 38 Jahre Privatdozent ohne Bezüge und muss einen Kurs in der ungeliebten Soziologie unterrichten. Max Weber ist Jurist und Nationalökonom und als solcher an den Universitäten Berlin, Freiburg, Heidelberg, Wien und München tätig – bezeichnenderweise aber erst einmal nicht als Soziologe, sondern als Nationalökonom, der erst in seiner letzten Tätigkeit in München neben den Denominationen Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte Soziologie unter dem Titel Gesellschaftslehre aufnehmen ließ, obwohl gerade er neben Karl Marx das soziologisch bekannteste Werk hinterlassen haben dürfte.
Wenngleich die Institutionalisierung der Soziologie als Fach an der Universität schleppend und diskontinuierlich vorangeht, 12ist diese neue Wissenschaft doch von Anfang darauf gerichtet, die »Große Transformation« zu studieren. Der soziale Wandel wird auf diese Weise durch die Soziologie als Begleitforschung beobachtet und nolens volens tragen die Sozialwissenschaften ihrerseits zu dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften bei, die sie als Gegenstand untersuchen.[1] Gesellschaftstheorie, -analyse und -kritik, vor allem soziologische Zeitdiagnosen, sickern als Aufklärungs-, Orientierungs- und Sinngeber in die Kultur und den Sprachgebrauch der Gesellschaft ein und erlangen auf diese Weise Bedeutung. Das ist natürlich ein schleichender Prozess, sozial unauffällig – keiner merkt’s – und allmählich – also alles andere als spektakulär oder revolutionär. Nur weil der Einfluss der Sozialwissenschaften unterhalb der gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsschwelle verbleibt, heißt das jedoch keineswegs, dass dieser folgenlos oder gar unbedeutend gewesen wäre. Im Gegenteil: Die Sozialwissenschaften drücken zum einen aus, was in der Gesellschaft vor sich geht; sie prägen neue Begriffe und entwickeln neue Theoreme. Zum anderen drücken sie damit aber auch den Gesellschaften ihren Stempel auf und formen so ihr Selbstverständnis und damit das Gesellschaftsbild gleich mit. Die Soziologie ist ein Träger der Historizität, wie Alain Touraine das Phänomen nennt, dass moderne Gesellschaften große Anstrengungen unternehmen, sich selbst zu verstehen und ihren voraussichtlichen Gang in die Zukunft zu bestimmen.[2] Die Soziologie ist der Spiegel der Gesellschaft.
Man mache die Nagelprobe und sehe sich Begriffe an, die unser Verständnis und Selbstverständnis noch heute prägen. Man wird feststellen, dass die Sozialwissenschaften in der einen oder anderen Weise oft an ihrer Kreation mitgewirkt haben. Eine kleine Auswahl mag diesen Zusammenhang illustrieren: Industriegesellschaft nennt Saint-Simon die modernen Gesellschaften; Kapitalismus, nicht der Begriff, der auf Werner Sombart zurückgeht,[3] aber die Sache und ihre Theorie, wurde von Marx analysiert, und unter dem Kapitalismus leben wir noch heute; Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform, sondern prägt auch eine moderne Gesellschafts- und Lebensform, wie uns Alexis de Tocqueville gelehrt hat. Er konzeptualisiert auch den Begriff des Individualismus, dessen Wertgehalt 13das moralische Selbstverständnis der Moderne noch heute informiert; Rationalisierung ist wohl der Motor der Modernisierung und ein Mechanismus sozialen Wandels, den Max Weber zum Kern seiner Theorie der Moderne gemacht hat; Solidarität gilt zwar als ein Kampfbegriff der Arbeiterbewegung, aber in Gestalt der von Émile Durkheim analysierten »organischen Solidarität« verweist sie auf die Integrationsprobleme moderner Gesellschaften, angesichts von wachsender Arbeitsteilung, technischem Fortschritt und beruflicher Spezialisierung noch so etwas wie gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherzustellen. Industriegesellschaft und Kapitalismus, Demokratie und Individualismus, Rationalisierung und Solidarität sind heute längst Alltagsbegriffe geworden, ja Allerweltsvokabeln, die jeder im Munde führt, ohne sich noch groß Gedanken um deren Herkunft zu machen. Begriff und Sinngehalt stammen aber häufig aus der Soziologie und sind dort im Kontext einer Gesellschaftstheorie, Gesellschafsanalyse und Gesellschaftskritik entwickelt worden.
Das wird sich zeigen, wenn wir uns den soziologischen Klassikern zuwenden. Denn dann wird die Wechselwirkung zwischen Soziologie und Moderne vollends deutlich werden. Wer vom Rathaus kommt, ist bekanntlich schlauer. Von heutiger Warte, so scheint es, lassen sich die soziologischen Klassiker alle auf einen gemeinsamen, wenn auch hoch abstrakten Nenner bringen: das Projekt der Moderne.[4] So unterschiedlich die soziologischen Zeitdiagnosen im Einzelnen ausfallen mögen, so teilen sie doch den thematischen Bezugspunkt: »Die Moderne verstehen«.[5] Bevor jedoch die Gemein14samkeiten wie die Unterschiede der Ansätze zutage treten und damit das Verständnis der Klassiker rekonstruiert wird, sind jedoch drei weitere Schritte vonnöten.
Im ersten Schritt gilt es zu verstehen, was modern eigentlich heißt und welche Grundpfeiler der Modernität sich soziologisch ausmachen lassen. In gebotener Kürze ist deshalb zunächst ein knapper, begriffsgeschichtlicher Rückblick notwendig, um die verschiedenen Bedeutungs- und Verwendungsweisen von modern, Moderne und Modernität kennenzulernen. In einem zweiten Schritt gilt es sodann, die wesentlichen Modernisierungserfahrungen, auf die die klassischen Soziologen reagieren, in Grundzügen zu skizzieren. Mit der notwendigen Abstraktion und dem Mut zur Vereinfachung lässt sich daraus ein formaler Bezugsrahmen ableiten, der die nachfolgenden Kapitel systematisch anleiten soll. Im dritten und letzten Schritt werden die soziologische Zeitdiagnostik und ihr Handwerkszeug unter die Lupe genommen. Da die vorliegende Rekonstruktion der soziologischen Klassik an ihren Gesell15schafts-, Kultur- und Zeitdiagnosen ansetzt, muss genauer überlegt werden, wie man eigentlich Zeitdiagnosen stellt. Wie verfährt die Soziologie, um die »Zeichen der Zeit« zu verstehen?
1.2 Der Begriff der Moderne
Der Begriff »modern« ist interessanterweise keineswegs neu.[6] Erstmals 494 nach Christus nachgewiesen, taucht er in verschiedenen Bedeutungen in Spätantike und Mittelalter auf, wobei die wichtigste die Distinktion »antiqui/moderni« ausmacht. Meist geht es um die »Verteilung von Lob und Tadel«,[7] mit...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Schlagworte | Einführung • Klassiker • Marx • Simmel • Soziologie • STW 2299 • STW2299 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2299 • Weber |
ISBN-10 | 3-518-76356-3 / 3518763563 |
ISBN-13 | 978-3-518-76356-8 / 9783518763568 |
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