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Mehr sein, weniger brauchen -  Thomas Bruhn,  Jessica Böhme

Mehr sein, weniger brauchen (eBook)

Was Nachhaltigkeit mit unseren Beziehungen zu tun hat
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86639-4 (ISBN)
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Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass wir nachhaltiger leben müssen: Müll reduzieren, regional einkaufen, uns bewusst ernähren. Dennoch fällt es uns schwer, dieses Wissen im Alltag anzuwenden, denn wir fühlen uns angesichts der globalen Klimakrise oft ohnmächtig und hilflos. Selbst wenn wir auf das Auto verzichten, klimafreundlich reisen und plastikfrei einkaufen, erscheint uns unser eigener Beitrag mikroskopisch klein. Die gute Nachricht ist: unsere eigenen, alltäglichen Handlungen sind keineswegs unbedeutend. Unser Handeln erzeugt Resonanz in unseren Beziehungen und kann so größere, tiefgreifende Veränderungsprozesse in Gang setzen. Eine nachhaltigere Lebensweise kann nur dann entstehen, wenn wir uns über das Beziehungsgeflecht bewusst werden, von dem wir Teil sind. Und das ist viel größer, als wir denken. Dieses Buch macht Mut, das Thema Nachhaltigkeit aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Es erinnert uns daran, dass eine nachhaltige Lebensweise tief in der menschlichen Natur verwurzelt ist und nicht nur unsere Beziehung zum Planeten Erde und zu unseren Mitmenschen stärkt, sondern auch die zu uns selbst.

Dr. Thomas Bruhn ist Physiker und leitet am IASS Potsdam die Forschungsgruppe »Mindsets für das Anthropozän«. Seine Leidenschaft ist es, Menschen darin zu begleiten, das Gute in sich zu entdecken und ihre Bestimmung zu leben. Er ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft Club of Rome und der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler.

1

Die Herausforderungen unserer Zeit


Werfen wir gemeinsam einen Blick auf den Zustand unserer Welt, und zwar sowohl auf den Zustand unserer persönlichen Lebenswelt als auch auf die Situation der Erde im Großen und Ganzen.

Die Wirklichkeit, die wir vorfinden


Wir leben in unsicheren, beispiellosen Zeiten. Unsere Welt ist in Bewegung, scheinbar überall zugleich. Ökologische, soziale und wirtschaftliche Krisen scheinen sich immer mehr zuzuspitzen, und wir sehen uns mit einer Zukunft konfrontiert, die uns auf verschiedenste Weise düster und bedrohlich erscheint.

Neuerdings scheint sich alles in unserer Welt wie im Zeitraffer zu verändern. Alles bewegt sich gleichzeitig und die Zukunft scheint ungewisser als je zuvor. Wir erleben Hungersnöte, Naturkatastrophen und Pandemien. Der Fremdenhass nimmt zu, Flüchtlinge erfahren Gewalt und Verzweiflung, die Gesellschaft spaltet sich zunehmend. Im beschaulichen Hanau erschießt ein Mann aus verwirrtem Fremdenhass elf Menschen, und in weiten Teilen Deutschlands erhält eine politische Partei Zuspruch, die keinen Hehl daraus macht, mit der Gesinnung der Nationalsozialisten zu sympathisieren. An der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei werden Menschen gewaltsam aufgehalten, die aus Verzweiflung vor Gewalt und Krieg aus ihren Heimatländern geflüchtet sind. Die Regenwälder im Amazonasbecken brennen monatelang, Feuer in Australien töten mehr als eine Milliarde Tiere. In Ostafrika und Pakistan fressen Heuschreckenschwärme die Nahrung für viele hunderttausend Menschen weg. In der Antarktis waren es kürzlich fast 20 Grad Celsius und damit so warm wie zeitgleich in Los Angeles. Und auch in Deutschland ging kürzlich ein Winter zu Ende, der eigentlich keiner war, mit einem Januar, der 3 Grad wärmer war als der Durchschnitt.

An die Nachrichten über die globale Erwärmung und weltweites Artensterben haben wir uns mittlerweile schon fast gewöhnt. Die Bilder von Plastikmüllteppichen im Meer und das Video eines Wals, der vor lauter Plastiktüten in seinem Magen am Strand verendet, haben wir alle gesehen. Wir spüren Unbehagen und Angst, begleitet von einem Gefühl der Dringlichkeit, Sorge und Verzweiflung. Die vehementen Proteste der Fridays-for-Future-Bewegung bringen die Ängste zum Ausdruck, die viele Menschen heute angesichts der vielfältigen Krisen empfinden.

Wir haben Bücher gelesen und engagiert über die Probleme dieser Welt diskutiert. Wir haben uns nach Kräften bemüht, unser eigenes Verhalten umzustellen, aber gleichzeitig fühlen wir uns seltsam unbeweglich und festgefahren. Das Erstaunliche ist: Wir kennen niemanden, der wirklich gegen Nachhaltigkeit ist. Niemand will, dass die Erde zerstört wird, und niemand findet es gut, dass Kinder in Bangladesh unsere Kleidung zusammennähen. Alle scheinen sich einig zu sein, dass der Konsumzwang unserer Kultur pervers ist und zur Ausbeutung der Umwelt führt. Und trotzdem scheint sich nichts zu ändern.

Die Fragen, die sich uns aufdrängen, sind tiefer als die nach dem müllfreien, veganen, emissionsarmen Leben. Es sind Fragen nach unserer Identität in dieser Zeit: Wer bin ich? Wer will ich sein? Und Fragen nach unserem Platz auf dieser Welt: Welche Rolle spiele ich auf dieser Erde? Welche Bedeutung hat mein Handeln? Mache ich überhaupt einen Unterschied?

Unsere nichtnachhaltige Lebensweise ist ein unmittelbares Abbild unserer Beziehungen – zu uns selbst, zu anderen und zur Erde. Die ungesunde Beziehung zu uns selbst äußert sich in steigenden Raten von Burn-out, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Wir sind chronisch gestresst, unter Zeit- oder Leistungsdruck und bemühen uns, mit vermeintlich immer effizienterer Selbstoptimierung den inneren Kollaps zu verhindern. Die Beziehungskrise unseres Miteinanders manifestiert sich in der Vereinsamung und Anonymisierung unserer Lebenswelt, aber auch in einer schwindenden Solidarität, gesellschaftlicher Spaltung und politischer Radikalisierung. Die häufig separat betrachtete Krise unserer Beziehung zur Natur und nichtmenschlichen Mitwelt manifestiert sich in zahlreichen ökologischen Krisen, vom Verlust der Artenvielfalt bis hin zur globalen Erwärmung und den damit verbundenen Extremwetterereignissen rund um den Globus. Wir leben in einer Welt, in der wir unseren Platz verloren haben.

Merksatz

Ein veränderter Blick auf uns selbst und auf unsere Beziehungen
führt dazu, dass wir mühelos nachhaltig leben können, in lebendiger Beziehung zu uns selbst, anderen und der Erde.

Unter mühelos verstehen wir nicht, dass jegliche physische und kognitive Anstrengung ausbleibt, sondern dass wir keine emotionale Anstrengung wie Erschöpfung, Stress oder Druck empfinden. Da wir Menschen eben auch Lebewesen sind, liegt es glücklicherweise in unserer Natur, intuitiv zu wissen, was lebendige Beziehungen sind. Es ist erstaunlich genug, dass wir als Zivilisationen so viele unlebendige Beziehungen und Strukturen geschaffen haben und so viel Lebendigkeit um uns herum zerstören. Dabei tragen wir alle die Bedeutung von Lebendigkeit als uralte Erinnerung in unserer DNA. Diese Erinnerung gilt es freizulegen und als Leitlinie für ein stimmiges menschliches Leben auf und mit der Erde in unser alltägliches Leben aufzunehmen.

Das Anthropozän


Die Welt insgesamt, in der wir Menschen leben, befindet sich in einem fundamental anderen Zustand als noch vor 200 Jahren. Wir leben im sogenannten Anthropozän. Der Begriff des Anthropozäns stammt ursprünglich aus der Erdsystemforschung und hat in den letzten 15 Jahren unser Verständnis über den Zustand unserer Erde und die Rolle der Menschheit wesentlich verändert.

Rund um das Jahr 2000 trafen sich Erdwissenschaftler eines bedeutenden internationalen Netzwerks, um ihre Beobachtungen zu diskutieren. Mithilfe verschiedenster natürlicher und kultureller Parameter konnten sie die Dynamik des gesamten Erdsystems beschreiben und modellieren. Die Indikatoren, die sie dafür verwendeten, reichten vom pH-Wert der Ozeane über die Ozonkonzentration in der Stratosphäre bis hin zur Anzahl der Menschen oder der Fast-Food-Restaurants weltweit. Die Anzahl von Telefonen diente als Maß für die globale Kommunikationsdichte, die Ausgaben für Tourismus als Maß für globale Mobilität und noch vieles mehr.

Beim Vergleich ihrer Daten stellten die Wissenschaftler fest, dass nach mehreren tausend Jahren weitgehend stabiler Werte spätestens seit den 1950er-Jahren massive und beschleunigte Veränderungen in allen diesen Parametern zu beobachten sind. Dieser Kurvenverlauf war bei allen Parametern so ähnlich, dass man ihn als die »große Beschleunigung« bezeichnete oder auch bildlich als »Hockeyschlägerkurve«, inspiriert von der Form eines Eishockeyschlägers. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass sie erstens allesamt auf das Wirken der Menschen zurückzuführen sind, und zweitens, dass all diese Veränderungen größer sind als die natürlichen Schwankungen des Erdsystems. Diese beiden Beobachtungen haben es in sich! Denn es bedeutet, dass die Menschheit den Gesamtzustand der Erde entscheidend prägt. Dies brachte einige prominente Erdsystemwissenschaftler wie den Nobelpreisträger Paul Crutzen dazu, vorzuschlagen, dass wir uns mittlerweile in einem neuen Abschnitt der Erdgeschichte befinden, nämlich nicht mehr im Holozän (also dem Zeitalter der letzten ca. 10 000 Jahre), sondern im Anthropozän (wörtlich »das menschlich Neue« vom griechischen Wort Anthropos, der Mensch).

Heute klingt das in unseren Ohren vielleicht gar nicht mehr spektakulär, aber man muss sich klarmachen, was das bedeutet: Im Jahre 1990 sprachen Medien erstmals von Globalisierung. Und nur zehn Jahre später sieht sich die Menschheit damit konfrontiert, dass sie die prägende Kraft für das gesamte Erdsystem darstellt. Diese Erkenntnisse haben weitreichende Konsequenzen, und wohl selten hat ein Begriff aus der Erdsystemwissenschaft solche Beachtung erfahren wie das Anthropozän. Innerhalb kurzer Zeit wurde er in unterschiedlichsten wissenschaftlichen und kulturellen Kontexten aufgegriffen, denn er führt uns auf eindringliche Weise vor Augen, wie sich die Rolle und das Selbstverständnis der Menschheit auf der Erde grundlegend verändern....

Erscheint lt. Verlag 10.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-407-86639-9 / 3407866399
ISBN-13 978-3-407-86639-4 / 9783407866394
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