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Deutschland im Notstand? (eBook)

Politik und Recht während der Corona-Krise
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
260 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44687-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Deutschland im Notstand? -  Matthias Lemke
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Einschränkungen von Grundrechten, Versammlungsverbote und Kontaktverfolgungen, Schließung von Schulen und Geschäften - im Januar 2020 hätte kaum jemand in Deutschland derart massive Eingriffe in das Alltagsleben für möglich gehalten. Doch Bund, Länder und Kommunen setzten in der seuchenrechtlichen Notfallsituation der Corona-Pandemie genau diese Maßnahmen ab März 2020 um. Matthias Lemke ordnet das Ringen mit dem Virus vor dem historischen, rechtlichen und politischen Hintergrund der deutschen Regelungen zum Ausnahmezustand ein. Er macht dabei drei Phasen des Krisenmanagements sichtbar, die über die Ereignisse des Jahres 2020 hinausweisen. Denn regieren in Krisensituationen, das zeigt sein Blick zurück, kann demokratiegefährdend sein, gerade wenn Rufe nach dem »starken Mann« oder der »starken Frau« lauter werden. Am Ende diskutiert dieses Buch anhand von sieben Thesen, wie ein demokratieverträgliches Krisenmanagement funktionieren kann. Denn die nächste Katastrophe wird kommen, ob wir wollen oder nicht.

Matthias Lemke, PD Dr., ist Politikwissenschaftler; er lehrt und forscht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, in Lübeck.

Matthias Lemke, PD Dr., ist Politikwissenschaftler; er lehrt und forscht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, in Lübeck.

Auf Sicht fahren


Der einzig demokratieverträgliche Ausnahmezustand ist der, zu dessen Ausrufung es nicht kommt. Denn in der Katastrophe, die dem Ausnahmezustand vorausgeht, manifestiert sich Unverfügbarkeit auf ganz radikale Art und Weise. Beispiele hierfür sind leicht bei der Hand: Eine Sturmflut lässt sich nicht einfach eindämmen, ein Waldbrand nicht einfach löschen, ein Erdbeben kaum vorhersagen und noch weniger verhindern. All diesen Ereignissen und ihren Folgen ist ausgeliefert, wer sich nicht rechtzeitig zu retten vermag.

Als ebenso unverfügbar wie diese Naturkatastrophen erweist sich auch der Komet am Himmel über der südspanischen Stadt Cadíz, den Albert Camus als Urkatastrophe seines Stückes Der Belagerungszustand inszeniert hat.1 Im Angesicht des Kometen über Andalusien scheint lediglich sicher, dass nichts mehr sicher ist. In der Folge ist ganz Cadíz in Schockstarre verfallen, Angst greift um sich. Handelt es sich um den Kometen des Verderbens? Das unerwartete Naturereignis bedeute Unheil, verkündet ein selbsternannter Prophet: »Ich teile euch mit, dass wir fällig sind.« Von dieser Deutung des Ereignisses verängstigt, befolgen die Bewohner der Stadt fortan alle ihnen auferlegten Einschränkungen – von der Ausgangssperre über Versammlungsverbote bis zur Trennung der Geschlechter. Im Auftrag des Gouverneurs ergreift die Bürokratie die Macht und exekutiert das Notwendige. Die Menschen fügen sich der Regierung, die mit dem Recht identisch geworden ist. Vereinzelt gibt es Widerstand, doch der scheitert. Schließlich reißt der korrupte und autoritäre Gouverneur alle Macht an sich und errichtet ein totalitäres Regime: »Es wird schon alles wieder gut«, verspricht er.

Eben diese Hoffnung, dass schon alles wieder gut werden möge, gilt nicht nur im Falle von Naturkatastrophen. Sie gilt nicht minder stark auch angesichts menschengemachter Desaster. Ein Terroranschlag lässt sich genauso wenig ungeschehen machen wie die unkontrollierte Kernschmelze in einem Atomkraftwerk. Die jeweiligen Folgen solcher Ereignisse werden lange nachwirken. Was − neben den ganz konkreten, materiellen Nachwirkungen − den Schrecken von Katastrophen noch steigert, ist die eine Gewissheit, die sie begleitet: Sie werden passieren. Die jederzeitige, eben nicht gänzlich kalkulierbare Möglichkeit von Angst, Unglück, Zerstörung, von Leid und Tod sowie das Nichtwissen über deren Eintreten ist die Schattenseite menschlicher Existenz schlechthin, sei es nun individuell oder in Gesellschaft.

Eine solche Gefühlslage lässt sich auch im Rahmen der Corona-Pandemie feststellen. Für das Nicht-Kalkulierbare der Katastrophe hat sich dabei im öffentlichen Diskurs, mit Blick auf Wege ihrer Bewältigung, der Ausdruck des »Auf-Sicht-Fahrens« etabliert. Hierin spiegelt sich das von der Pandemie ausgehende Dilemma: Einerseits gilt es zu handeln, andererseits ist zum Zeitpunkt der Handlung weder klar, ob die Handlung den gewünschten Erfolg zeitigen wird, noch wann. So wird aus der Unverfügbarkeit der Katastrophe eine doppelte Unverfügbarkeit: Die Katastrophe fordert den Staat heraus. Indem dieser sein Sicherheitsversprechen einzulösen versucht, gerät in der Folge seine Sicherheitsdividende unter Druck. Aus Sicht der Bürger*innen wird die bis gerade noch verfassungsrechtlich gesicherte Freiheit nun ebenfalls prekär. Die doppelte Unverfügbarkeit in der Katastrophe − also das Leben angesichts der Katastrophe selbst und die in der Katastrophenabwehr unter Druck geratende Freiheit − manifestieren sich politisch wie rechtlich im Ausnahmezustand. Sein Ringen um Sicherheit geht immer einher mit der Befürchtung, zu wenig zu spät getan zu haben, was in der Folge noch weiterreichende Maßnahmen wahrscheinlich macht.

Diese Befürchtung, die sich in der doppelten Unverfügbarkeit der Katastrophe bemerkbar macht und die sich in einer maßnahmenorientierten Politik2 des ›Auf-Sicht-Fahrens‹ einen Ausgleich sucht, hat ihren Ursprung in der Konzeption moderner Staatlichkeit.

Freiheit und Sicherheit − Freiheit oder Sicherheit?


Der moderne Staat war zu allererst mit dem Versprechen von Sicherheit angetreten. Ohne ihn gibt es, der sogenannten realistischen Schule der Politikwissenschaft zu Folge, nur vorstaatliches Chaos. Die angelsächsische Frühaufklärung entwirft hierzu den sogenannten Naturzustand, der im Vergleich zum Staatszustand als defizitär, in letzter Konsequenz gar als lebensgefährlich beschrieben wird. Die Abwesenheit des Staates mündet in die überaus reale Bedrohung, jederzeit getötet werden zu können. Aus den Bedingungen permanenter Ressourcenknappheit resultiert eine an Feindschaft grenzenden Konkurrenz der Bewohner des Naturzustandes untereinander, wie sie idealtypisch Thomas Hobbes3 entworfen hat. Hobbes setzt dieser Feindschaft das Machtmonopol des modernen Staates entgegen. Dieses beruht auf der freien Abstimmung der Menschen im Naturzustand: auf dem Gesellschaftsvertrag. Wenn nur eine einzige Person über sämtliche, über die höchste Macht verfüge, so die Annahme, vermöge diese der permanenten Angst im Krieg aller gegen alle ein Ende zu setzen.

Der moderne Staat ermöglicht somit einen sicheren Lebensraum für die Menschen, die vorher, im Naturzustand, also in Abwesenheit staatlicher Sicherheitsgarantie, ständiger Unsicherheit ausgesetzt waren. Unsicherheit − und das scheint mir gerade während der Pandemie wichtig zu betonen − manifestiert sich in ganz unterschiedlicher Art und Weise. Sie ist die Bedrohung der individuellen Gesundheit ebenso, wie die drohende Erosion der bestehenden Wohlstands- und Wirtschaftsordnung. Dem Staat, und hier im engeren Sinne die Regierung, obliegt die permanente Aufgabe der Gestaltung der Lebensverhältnisse der Bürger*innen.4 Das ist sein Daseinszweck. Im Kern steht dabei die Forderung nach Sicherheit, sei es in Form von Gesundheit oder Wohlstand. Vermag der Staat dieser Kernforderung nicht nachzukommen, ist er gescheitert. Die Menschen kehren zurück in den Naturzustand, in dem alles prekär ist. Gelingt es ihm aber, Sicherheit herzustellen, dann profitieren die Menschen von der Sicherheitsdividende, also von der neu gewonnenen Freiheit. Die Ressourcen, die sie nun nicht mehr für die individuelle Herstellung von Sicherheit aufwenden müssen, können fortan in die selbstbestimmte Zwecksetzung eines jeden Menschen fließen. Freiheit als Folge von Sicherheit entspricht damit keineswegs der naiven Vorstellung, alles tun zu können, was man oder frau will. Stattdessen geht es um die individuelle, selbstbestimmte Zwecksetzung in Gemeinschaft, wie sie beispielsweise das Grundgesetz im Begriff der Menschenwürde unverrückbar festschreibt. Die Freiheitsgrundrechte als Konkretisierungen der Menschenwürde garantieren diese Sicherheitsdividende im und im Zweifelsfall auch gegen den Staat.

Kollidieren die Unverfügbarkeit der Katastrophe und der staatliche Gestaltungsanspruch miteinander, geraten Sicherheit und Sicherheitsdividende gleichermaßen unter akuten Druck. Der Staat, mit einer existenziellen Krise konfrontiert, läuft Gefahr, seiner Kernaufgabe − der Herstellung von Sicherheit und der Ermöglichung von Freiheit gleichermaßen − nicht mehr nachkommen zu können. Der Ausnahmezustand kann hier durch eine Konzentration der staatlichen Ressourcen zur Krisenreaktion Abhilfe schaffen. Er ist das Versprechen der Politik, der Unverfügbarkeit etwas entgegenzusetzen.5 Was ihn aber gleichsam für demokratisch verfasste Rechtsstaaten in der Handhabung so schwierig macht ist, das ist, dass er das gegenüber legitimen, kollektiven Sicherheitsansprüchen so fein austarierte, nicht minder legitime Gefüge von Freiheitsrechten zu Lasten der Letzteren verschiebt.6 Diese Verschiebung, man könnte auch sagen: dieses an den Rand Drängen von Freiheitsrechten, wiegt umso schwerer, weil es in der Regel unter Zeitdruck geschieht, zumeist ohne hinreichend kontroversen öffentlichen Diskurs auskommen muss − und weil, Stichwort: auf Sicht fahren, das Ergebnis einer solchen Maßnahme höchst ungewiss ist. Im schlechtesten Fall, wenn sich das autoritäre Moment der Krise durchsetzt, würde sich der Ausnahmezustand dauerhaft etablieren. Nehmen Angst und Ungewissheit überhand, dann droht die Sicherheit über die Freiheit zu siegen.

Warum? Und wozu?


Bevor es jedoch beim Versuch, während der Krise vor die Lage zu kommen, so weit kommen muss, ist es hilfreich, kurz innezuhalten...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte Angela Merkel • Ausnahmezustand • Behörden • Bundesregierung • Corona • Covid 19 • Demokratie • Deutschland • Exekutive • Geschichte • Grundgesetz • Impfen • Impfung • Jens Spahn • Landesregierung • Landesverfassung • lockdown • Notfall • Notstand • Pandemie • Querdenker • Seuche • Verordnung • Versagen • Verwaltung • Weimarer Reichsverfassung
ISBN-10 3-593-44687-1 / 3593446871
ISBN-13 978-3-593-44687-5 / 9783593446875
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