Mit Leidenschaft und Augenmaß (eBook)
281 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44649-3 (ISBN)
Andrea Maurer ist Professorin für Soziologie an der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Wirtschaftssoziologie und Neuer Institutionalismus.
Andrea Maurer ist Professorin für Soziologie an der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Wirtschaftssoziologie und Neuer Institutionalismus.
Zur Aktualität von Max Weber
Andrea Maurer
Am 14. Juni 1920 verstarb Max Weber in München, wo er noch für kurze Zeit Vorlesungen und Vorträge gehalten, tagespolitische Beiträge zum Neuaufbau des politischen Systems Deutschlands verfasst und auch die ersten Kapitel zu Wirtschaft und Gesellschaft fertiggestellt hatte. München 1920 steht nicht nur für einen politischen Neuaufbruch in Deutschland, sondern auch für einen im privaten Leben Max Webers. Er entschied sich trotz der Angebote aus Bonn und Wien aus persönlichen Gründen für die Annahme des Rufs an die Ludwig-Maximilians-Universität und einen Umzug von Heidelberg nach München. Wer nur den Max Weber kennt, der in Paragrafen und präzisen Definitionen schrieb, wie besessen arbeitete und ein unglaublich umfangreiches und breites Werk verfasste, wird überrascht sein, in dieser kurzen Münchner Phase in Max Weber einen engagierten Hochschullehrer kennenzulernen, der sich aktiv und ohne zu zögern vor jüdische Studierende stellte, als diese von nationalistisch gesinnten Korpsstudenten angegriffen wurden und der sich dafür großen Ärger einhandelte. Als Hochschullehrer gewann er schnell eine wachsende Zahl an Hörer*innen (unter ihnen etwa Arnold Bergstraesser, Elise Hirschman, Max Horkheimer, Helmuth Plessner, Wilhelm Stichweh) und wurde im akademischen Betrieb als ein wichtiger und attraktiver, wenngleich auch umstrittener, Kopf wahrgenommen (vgl. Graf und Hanke 2020: 43 ff.).
Es ist dieser Max Weber, der vehement eintrat für den Aufbau der parlamentarischen Demokratie und der seinerzeit zwei, eine enorme Wirkung entfaltende, Vorträge hielt: Politik als Beruf (1992 [1920]) und Wissenschaft als Beruf (1988 [1919]). Dort formulierte er eine engagierte und von seinen wissenschaftlichen Arbeiten getragene Botschaft an die nachfolgenden Generationen: das Credo Politik und Wissenschaft mit Leidenschaft und Augenmaß zu betreiben. Das umspannte damals – und tut das auch heute noch – die beiden Pole, denen sich Politiker*innen und Wissenschaftler*innen gegenübersehen: das sachliche Urteil und das durch Werte motivierte leidenschaftliche Eintreten für eine Sache so zu verbinden, dass es nicht Ideologie wird, sondern zu einer von geprüftem Wissen gestützten Gestaltung der sozialen Welt beiträgt.
In dieser kurzen Phase in München sind aber nicht nur wissenschaftliche und politische Texte entstanden, sondern auch selbstkritische Reflexionen, die Zweifel an der eigenen wissenschaftlichen Arbeitswut und Leistung offenbaren und in privaten Briefen einen beredten Niederschlag fanden. Der folgende Auszug aus einem sehr persönlichen und heute noch tief berührenden Brief von 1919 an Else Jaffé-Richthofen zeigt Weber als einen empfindsamen Menschen und Wissenschaftler, der den Gewinn aber auch die Kosten wissenschaftlicher Arbeit sehr wohl mit persönlichen Beziehungen und Interessen abzuwägen weiß und der das weitverbreitete Bild vom protestantisch-asketischen Bürgerlichen doch zumindest etwas revidiert und den privaten Menschen erkennen lässt. Es beleuchtet den Max Weber, der den Monte Verità und die Alternativszene der damaligen Zeit besucht hatte, die Musik liebte, gern reiste und politisch engagiert für die freie Meinungsäußerung und die Etablierung der parlamentarischen Demokratie eintrat.
»Wenn ich denke, wie es ist, sein könnte, wenn nach der Arbeit, vor der Arbeit, zwischen der Arbeit – was weiß ich wann? – in diesem Sommer zuweilen so eine kleine und doch vom Leben durchgeformte Hand mir über die Schulter griffe und dann die Augen zuhielte – wie Du alsmal tust – und die mattierte Stimme sagte so etwas woraus ich sehe: die nimmt weder diese Bücher noch vollends diesen ganzen ›Schauspieler‹ (oder was er sonst geworden ist) sehr ernst und tragisch, sondern will einfach jetzt eine lächelnd heitre Stunde haben! Denkst Du, 10, 15, 20 Jahre ›Bücher‹ wären diese Minuten wert?« (Max Weber Gesamtausgabe II/10, 1: 467; Brief an Else Jaffé vom 21.2.1919; ohne Hervorh. im Orig.)
Es gehört zu den Zufälligkeiten, die nach Max Weber die gesellschaftliche Entwicklung durchaus zu prägen vermögen, dass am Ende des II. Weltkrieges in Deutschland und Europa nicht nur politische und gesellschaftliche Umbrüche das Leben erschwerten, sondern dass damals schon mit der sogenannten Spanischen Grippe, eine durch Viren hervorgerufene Pandemie das öffentliche und private Leben schwer traf, in deren Folge Viele, unter ihnen auch Max Weber mit 56 Jahren, unverhofft verstarben.
Es ist nicht nur die Krisenerfahrung und das 100-jährige Todesjahr, die Max Weber in das Scheinwerferlicht rücken, es sind vielmehr die nach wie vor große Attraktivität und die breite Anschlussfähigkeit seines Werkes, die im Jahr 2020 dazu aufrufen, die Wirkung von Webers Arbeiten kritisch zu reflektieren und deren Beitrag zu aktuellen Themen und Debatten auszuloten. War der Gedächtniskongress 1964 zum 100. Geburtstag in Heidelberg noch vor allem darauf ausgerichtet, Max Webers Arbeiten von politischen Interpretationen und Vorwürfen freizulegen, die Spuren der US-Amerikanischen Interpretation der 1930er und 1940er Jahren zu erkennen und ihn als Begründer der Soziologie zu setzen, steht Max Weber heute längst als Klassiker der Soziologie, und im weiteren Sinne auch der Sozialwissenschaften, außer Frage.
Damit war die Leitfrage für die Planung der Weber-Arbeitstagung im Jahr 2020 gesetzt: Wie weit tragen Max Webers Ideen, Begriffe und Thesen heute noch für die Analyse zentraler Probleme moderner Gesellschaften? Das spricht unser Verständnis von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur und Recht ebenso an wie die Aufgaben, den Zuschnitt und die Zukunft der Sozialwissenschaften. Die hier vorgelegten Beiträge markieren zwei große Schwerpunkte: Anschlüsse an Max Weber als Wissenschaftstheoretiker und -politiker und an seine Soziologie. Der erste Bereich Wissenschaftstheorie und -politik wird durch die key note von Renate Mayntz eingeführt und gerahmt. Dort findet sich auf bestechend klare Weise dargestellt, dass und wie sich über Max Weber ein äußerst wirkungsvoller sozialwissenschaftlicher Denkstil ausgebildet hat, der bis heute die Grundlage für das wissenschaftliche Arbeiten von Vielen von uns bildet. Die nachhaltige Wirkung Webers besteht demzufolge darin, eine Arbeits- und Herangehensweise vorgestellt zu haben, die durch klare methodologische Prinzipien und Werkzeuge geleitet ist und so eine deutliche Aufgabe der Soziologie konturiert, die an vielen Stellen weitergeführt wird. Max Weber als Wissenschaftstheoretiker und -politiker aufzubereiten ist entsprechend das Thema mehrerer Folgebeiträge. Gerhard Wagner, Nina Zahner, Reinhard Zintl und Johannes Weiß stellen die besonderen erkenntnis- sowie handlungs- und sozialtheoretischen Anschlüsse im Werk Max Webers für gegenwärtige Debatten heraus und zeichnen Anschlusslinien. Da ist einerseits die von Weber begründete und inspirierte Arbeit mit Handlungsmodellen (Wagner) und da ist andererseits die Diskussion um die Verwendung von normativen Prinzipien (Zintl) und damit nicht zuletzt immer auch um den Auftrag und den Zuschnitt der Sozialwissenschaften respektive der Soziologie (Zahner) und deren Verhältnis insbesondere zur ökonomischen Theorie (Weiß). Das umspannt zentrale Bezugs- und Ausgangspunkte, die nach wie vor eine kritische Selbstvergewisserung der Sozialwissenschaften und der Soziologie in Gang setzen und zum Nachdenken darüber anhalten, was die Soziologie kann, welche Aufgaben sie hat und wie sie sich im Kontext der Sozialwissenschaften positioniert.
Eine zweite Lesart und Fortführung von Webers Schriften stellt auf den Zusammenhang von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ab und entdeckt Max Weber als einen Soziologen der Wirtschaft. Damit verbindet sich das Anliegen gesellschaftliche Entwicklungstendenzen aus einer übergreifenden Analyseperspektive (Schluchter, Becher) unter besonderer Berücksichtigung des modernen rationalen Kapitalismus (Cheng und Huang, Ebner, Maurer) zu erschließen. Stand bislang vor allem Webers These von der Entstehung des modernen Kapitalismus im Kontext religiöser Motive im Zentrum, treten nunmehr soziologische Analysen in den Mittelpunkt, die zentrale Institutionen in Wirtschaft aber auch in Politik und Recht untersuchen und darüber ausdrücklich die Verbindung zu gesellschaftlichen Tendenzen und Transformationen herstellen, für die heute vor allem Digitalisierung und Internationalisierung stehen. Diese Sichtweise verbindet die Beiträge im zweiten Teil, die mit und nach Webers Analysen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik anregen und darüber auch übergreifende Entwicklungen in historischer und systematischer...
Erscheint lt. Verlag | 19.5.2021 |
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Co-Autor | Matthias Becher, Cheng Tsuo-Yu, Alexander Ebner, Huang Xinye, Andrea Maurer, Renate Mayntz, Gerhard Wagner, Wolfgang Schluchter, Johannes Weiß, Reinhard Zintl, Nina Tessa Zahner |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Schlagworte | Gesellschaftstheorie • Herrschaft • Herrschaftssoziologie • Kapitalismus • Klassiker • Max Weber • Nationalökonomie • Okzidentaler Rationalismus • Protestantische Ethik • Rationalisierung • Religionssoziologie • Rezeption • Sozialtheorie • Sozialwissenschaften • Soziologie • Theorie • Wirtschaftsssoziologie |
ISBN-10 | 3-593-44649-9 / 3593446499 |
ISBN-13 | 978-3-593-44649-3 / 9783593446493 |
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Größe: 3,3 MB
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