Nichts tun (eBook)
296 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76832-3 (ISBN)
Wir leben inmitten einer kapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie, die unsere Sinne und unser politisches Bewusstsein verkümmern lässt. 'Nichts tun' ist der wohlüberlegte Aufruf, unser Leben fernab von Effizienzdenken und Selbstoptimierung zurückzuerobern. Ein provokatives, zeitgemäßes und glänzend geschriebenes Buch, das die Leser*innen aufrütteln wird.
Unsere Aufmerksamkeit stellt die wertvollste Ressource dar, über die wir verfügen. Im Effektgewitter kommerzieller Internetplattformen wie Facebook, Twitter, Instagram oder TikTok wird sie jedoch permanent überspannt. Jenny Odell plädiert in ihrem Buch auf eindrückliche Weise für ein radikales Innehalten, statt unsere kostbare Freizeit weiter an die kurzfristigen Verlockungen der Aufmerksamkeitsökonomie zu verschwenden. Nur über bewusste Formen des Nichtstuns finden wir heute noch zu uns selbst: etwa wenn wir uns phasenweise wieder in unsere natürliche Umgebung zurückziehen lernen, die Kunst der Naturbeobachtung kultivieren und authentische Begegnungen mit anderen zulassen. Odell versteht ihre Anleitung zum Nichtstun gleichsam als Akt des politischen Widerstandes, um der notorischen Selbst- und Naturzerstörung im Kapitalismus etwas entgegenzusetzen und die Forderung nach demokratischer Partizipation und Solidarität mit Leben zu erfüllen.
- Eine fulminante Kritik an unserem Umgang mit sozialen Medien
- Wir wir uns leichtfertig von Twitter, Instagram und Co. instrumentalisieren lassen
- Auf der Liste von Barack Obamas 'Favorite Books of 2019'
- THE NEW YORK TIMES-Bestseller
Jenny Odell ist Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lehrt an der Stanford University und war als Artist-in-Residence bei Facebook, dem Internet-Archiv und der Planungsabteilung der Stadt San Francisco tätig. Ihre Arbeiten erschienen u.a. in der New York Times, dem New York Magazine, The Atlantic, The Believer, The Paris Review und McSweeney's. Sie lebt in Oakland, Kalifornien.
EINLEITUNG
DAS NÜTZLICHSEIN ÜBERLEBEN
Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.
WALTER BENJAMIN[1]
Nichts ist schwerer als das Nichtstun. In einer Welt, in der unser Wert an unserer Produktivität gemessen wird, erleben viele von uns, dass jede einzelne unserer Minuten erfasst, optimiert oder durch die Technologien, die wir täglich nutzen, als finanzielle Ressource in Dienst genommen wird. Wir unterwerfen unsere Freizeit numerischen Evaluationen, interagieren mit algorithmischen Versionen voneinander, bauen Personenmarken auf und pflegen sie. Einigen mag diese Rationalisierung und Vernetzung unserer gesamten gelebten Erfahrung so etwas wie die Befriedigung eines Ingenieurs verschaffen. Und doch bleibt eine Art nervöses Gefühl der Überreizung und der Unfähigkeit, einen Gedankengang zu Ende zu führen. Auch wenn es vielleicht schwierig ist, dieses Gefühl zu fassen, bevor es hinter dem Schleier der Ablenkung verschwindet, ist es doch tatsächlich drängend. Wir begreifen noch immer, dass vieles, was dem eigenen Leben Bedeutung verleiht, durch Zufälle, Unterbrechungen und unverhoffte Begegnungen zustande kommt: durch die «Auszeit», die unsere heutige mechanistische Auffassung von Erleben immer mehr zu eliminieren droht.
Bereits 1877 betrachtete Robert Louis Stevenson «extreme Emsigkeit» als «Zeichen für mangelnde Lebenskraft» und beschrieb «ein paar lebendig-tote, abgediente Leute, die sich kaum ihres Lebens bewußt sind, außer in der Ausübung einer konventionellen Beschäftigung».[2] Und dabei leben wir doch nur einmal. In «Von der Kürze des Lebens» beschreibt Seneca das Grauen, zurückzublicken und zu begreifen, dass einem das Leben zwischen den Fingern zerronnen ist. Das klingt tatsächlich ganz so, als würde jemand aus dem Stupor einer auf Facebook vertanen Stunde wieder erwachen:
Wohlan, überschlage dein Leben und gib Rechenschaft davon …; frage dich … wieviel dir von deinem Leben durch andere weggenommen worden, ohne daß du den Verlust gewahr wurdest, wieviel dir vergebliche Trauer, törichte Freude, unersättliche Begierde, der Reiz der Geselligkeit Zeit geraubt, wie wenig dir von dem Deinigen geblieben – und du wirst einsehen, daß du stirbst ehe du reif bist.[3]
Auf kollektiver Ebene steht mehr auf dem Spiel. Wir wissen, dass wir in komplexen Zeiten leben, die komplexe Gedanken und Gespräche erfordern – und diese wiederum benötigen genau die Zeit und den Raum, die man nicht hat. Die Bequemlichkeit der grenzenlosen Konnektivität hat die Nuancen der persönlichen Konversation fein säuberlich zugepflastert und dabei allzu viel Information und Kontext amputiert. In einem unaufhörlichen Kreislauf, in dem die Kommunikation verkümmert und Zeit Geld ist, sind die Momente, in denen man sich davonstehlen kann, rar, und die Möglichkeiten, zueinander zu finden, noch rarer.
In Anbetracht dessen, wie jämmerlich Kunst in einem System überlebt, das nur den Profit wertschätzt, steht auch die Kultur auf dem Spiel. Was die Anschauung des neoliberal-technokratischen Manifest Destiny und die Kultur Trumps gemeinsam haben, ist die Unduldsamkeit gegenüber allem Differenzierten, Poetischen oder weniger Offensichtlichen. Solche Formen von «Nichts» können nicht toleriert werden, da man sie sich weder zu Nutze machen noch aneignen kann, und sie keine Leistung erbringen. (In diesem Kontext betrachtet, kommt es wenig überraschend, dass Trump dem National Endowment for the Arts die Finanzierung entziehen will.) Im frühen 20. Jahrhundert sah der surrealistische Maler Giorgio de Chirico bereits voraus, dass sich der Horizont für solch «unproduktive» Aktivitäten wie das Beobachten verengen würde. Er schrieb:
Angesichts der zunehmend materialistischen und pragmatischen Orientierung unseres Zeitalters … ist es nicht abwegig, künftig einen gesellschaftlichen Status ins Auge zu fassen, wo der Mensch, der einzig um geistiger Freuden willen lebt, kein Recht mehr haben wird, seinen Platz an der Sonne zu beanspruchen. Der Schriftsteller, der Denker, der Träumer, der Dichter, der Metaphysiker, der Beobachter …, wer Rätsel befragt, wertet, wird zur anachronistischen Figur, die bestimmt ist, wie Ichthyosaurus und Mammut vom Erdboden zu verschwinden.[4]
In diesem Buch geht es darum, wie man diesen Platz an der Sonne weiter erhalten kann. Es ist eine praktische Anleitung zum Nichtstun als Akt des politischen Widerstands gegen die Aufmerksamkeitsökonomie, mit all der Unnachgiebigkeit eines chinesischen «Nagelhauses», das eine Hauptverkehrsstraße blockiert. Es ist nicht nur für Künstler und Schriftsteller gedacht, sondern für jeden, der das Leben für mehr als nur ein Werkzeug erachtet und deshalb als etwas begreift, das nicht optimierbar ist. Eine einfache Weigerung motiviert meinen Standpunkt: die Weigerung zu glauben, dass unsere gegenwärtige Zeit und die Welt, in der wir leben, irgendwie nicht genug sind. Plattformen wie Facebook und Instagram funktionieren wie Staudämme, die sich unser natürliches Interesse an anderen und das zeitlose Bedürfnis nach Gemeinschaft zunutze machen, unsere ureigensten Sehnsüchte kapern, hintertreiben und aus ihnen Kapital schlagen. Zurückgezogenheit, Beobachtung und einfache Geselligkeit sollten nicht nur als Zweck an und für sich begriffen werden, sondern als unverzichtbare Rechte, die jedem zustehen, der das Glück hat, am Leben zu sein.
DIE TATSACHE, DASS das «Nichts», um das es mir geht, nur vom Standpunkt kapitalistischer Produktivität aus gesehen nichts ist, erklärt die Ironie, dass ein Buch mit dem Titel Nichts tun in gewisser Weise auch ein Aktionsplan ist. Ich möchte eine Reihe von Bewegungen nachzeichnen: 1.) einen Ausstieg, nicht unähnlich dem «Ausstieg» der 60er Jahre; 2.) einen Schritt zur Seite, raus zu den Dingen und Menschen, die uns umgeben; und 3.) eine Bewegung nach unten, zurück an Ort und Stelle, auf den Boden, auf dem wir stehen. Wenn wir nicht wachsam sind, dann wird uns das gegenwärtige Design unserer Technologie bei jedem Schritt unseres Weges blockieren, indem es bewusst falsche Ziele im Hinblick auf Selbstreflexion, Neugierde und das Verlangen, einer Gemeinschaft anzugehören, kreiert. Wenn Menschen sich nach einer Art Ausstieg sehnen, dann stellt sich die Frage: Was würde «zurück aufs Land» bedeuten, wenn wir Land als den Ort verstehen, an dem wir uns gerade befinden? Könnte «augmented reality» einfach bedeuten, dein Smartphone auszuschalten? Und was (oder wen) hast du dann vor dir, wenn du es endlich tust?
Inmitten der öden Landschaft des neoliberalen Determinismus sucht dieses Buch nach verborgenen Quellen von Mehrdeutigkeit und Ineffizienz. Das ist ein Vier-Gänge-Menü im Zeitalter von Soylent. Aber während ich hoffe, dass Sie durch die Einladung, einfach innezuhalten oder zu entschleunigen, eine Art von Befreiung erfahren, möchte ich dies hier nicht als Wochenend-Retreat oder einfach als Traktat über Kreativität verstanden wissen … Das Wesentliche am Nichtstun, so wie ich es definiere, ist nicht etwa, erfrischt und bereit zu gesteigerter Produktivität an die Arbeit zurückzukehren, sondern vielmehr zu hinterfragen, was wir derzeit als produktiv wahrnehmen. Meine Position ist natürlich antikapitalistisch, vor allem was Technologien anbetrifft, die einer kapitalistischen Wahrnehmung von Zeit, Ort, Selbst und Gemeinschaft Vorschub leisten. Sie ist außerdem ökologisch und historisch: Ich möchte darlegen, dass das Umlenken und die Konzentration der eigenen Aufmerksamkeit auf Ort und Stelle wahrscheinlich zum Bewusstsein der eigenen Teilnahme an der Geschichte und an einer mehr-als-menschlichen Gemeinschaft führen werden. Sowohl aus sozialer als auch aus ökologischer Perspektive besteht das ultimative Ziel des «Nichtstuns» darin, unseren Fokus der Aufmerksamkeitsökonomie zu entreißen und ihn im öffentlichen, physischen Raum neu zu verankern.
Ich bin nicht gegen Technologie. Schließlich gibt es Formen von Technologie – von Instrumenten, die es uns erlauben, die Natur zu beobachten, bis hin zu dezentralen, nichtkommerziellen sozialen Netzwerken –, die uns stärker in der Gegenwart verorten könnten. Viel eher bin ich gegen die Art und Weise, in der Unternehmensplattformen unsere Aufmerksamkeit kaufen und verkaufen, und ebenso gegen Technologiedesign und -gebrauch, die eine beschränkte Definition von Produktivität festschreiben und die lokalen Gegebenheiten, Körperlichkeit und Poesie ignorieren. Ich bin beunruhigt aufgrund der Auswirkungen, die die heutigen sozialen Medien auf unsere Ausdrucksformen – einschließlich das Recht,...
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2021 |
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Übersetzer | Annabel Zettel |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Partnerschaft / Sexualität | |
Sachbuch/Ratgeber ► Sport | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aktionsplan • Alltag • Aufmerksamkeitsökonomie • Freizeit • Glück • Kapitalismus • Kritik • Leben • Natur • Philosophie • Privatleben • Ruhe • Sachbuch • Social-Media • sozialromantik • Technik • Verwertungsinteressen |
ISBN-10 | 3-406-76832-6 / 3406768326 |
ISBN-13 | 978-3-406-76832-3 / 9783406768323 |
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