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Der Dichter und der Neonazi (eBook)

Erich Fried und Michael Kühnen - eine deutsche Freundschaft
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
176 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12039-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Dichter und der Neonazi -  Thomas Wagner
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21. Januar 1983: Eine unwahrscheinliche Begegnung bahnt sich an. Michael Kühnen - Wortführer der Neonazi-Szene - und Erich Fried - jüdischer Dichter und glühender Antifaschist - sollten sich in einer Fernsehtalkshow begegnen. Doch kurzfristig wurde Kühnen ausgeladen. Die Überraschung war groß, als gerade Fried erklärte, dies sei ein Fehler gewesen. Es war der Beginn einer unglaublichen, ja verstörenden Freundschaft. Thomas Wagner erzählt die verblüffende Geschichte, wie aus einer unerwarteten Wendung ein über Jahre andauernder Austausch entstand. Die ungleiche Beziehung zwischen dem verurteilten Neonazi und besessenen Hitlerverehrer und dem Dichter, dessen Großmutter in Auschwitz ermordet worden war. Wagner nähert sich dabei einer der zentralen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit an: Wie soll man umgehen mit dem Wiedererstarken des Faschismus in Deutschland, Europa und der Welt? Zudem lernen wir zu seinem 100. Geburtstag Erich Fried neu kennen: als einen Linken, der unverbrüchlich an die Möglichkeit des politischen Austauschs zwischen Links und Rechts glaubte. Als den Verfechter einer offenen Streitkultur, die auch dort nicht zurückschreckt, wo radikale, teils schwer zu ertragende Positionen aufeinandertreffen.

 Thomas Wagner, geboren 1967 in Rheinberg, ist Kultursoziologe. Als freier Autor schrieb er unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt,der Freitag, Junge Welt und das ND. Zuletzt veröffentlichte er die Sachbücher »Der Dichter und der Neonazi« (2021) und »Fahnenflucht in die Freiheit« (2022). 

 Thomas Wagner, geboren 1967 in Rheinberg, ist Kultursoziologe. Als freier Autor schrieb er unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt,der Freitag, Junge Welt und das ND. Zuletzt veröffentlichte er die Sachbücher »Der Dichter und der Neonazi« (2021) und »Fahnenflucht in die Freiheit« (2022). 

Jugend in Wien


»Telegraf, Telegraf am Mittag, 10 Groschen«, erklang die alte, schrille Stimme der Zeitungsverkäuferin.[1] Jeden Werktag stand sie hier vor den Glasfenstern des Café Thury im neunten Wiener Bezirk, genannt: am Alsergrund. Bis 1850 befand sich hier der Vorort Thury. Der Name erinnert an den Ziegelbrenner und Hofbediensteten Johann Thury, der sich zur Mitte des 17. Jahrhunderts als Erster wieder hier niederließ, nachdem die türkische Belagerungsarmee das verwüstete Gebiet verlassen hatte. An den Bach, der sich hier einst seinen Weg gebahnt hatte, erinnerte jetzt nur noch ein Straßenschild: Alserbachstraße. Man hatte ihn im 19. Jahrhundert eingewölbt, um der Rattenplage und der Cholera Herr zu werden.[2] Hier, in Nummer 11, Ecke Pfluggasse kam Erich Fried am 6. Mai 1921 als das einzige Kind der Grafikerin Nellie Fried, geb. Stein, und Hugo Frieds in der Wohnung der Großmutter Malvine Stein zur Welt. Die jüdische Familie lebte bis zum Ende der dreißiger Jahre unter einem Dach. Erich verbrachte fast seine gesamte Kindheit und Jugend in diesem Haus.

Betrachtet man alte Fotos, so hat sich das unmittelbare Umfeld des Bürgerhauses seitdem äußerlich kaum verändert. Die Fassaden ähneln sich. Nach wie vor zieht die Tram der Linie 5, der Fünfer, auf der Alserbachstraße ihre Bahn durch die Nachbarschaft. Ein Metallgatter trennt den Gehweg von der etwas tiefer liegenden Straße. Die darauf befestigten Blumenkästen sind leer. Ein Kaugummiautomat. Das Spezialitätenrestaurant Tiflis preist die georgische Küche an. Kleingewerbe, kleine Lädchen. Ein Tapeziergeschäft, die Räumlichkeiten der Kindergruppe »Kükennest«. Ein Porzellanladen und ein Solarium. Mehrere Geschäftsräume stehen leer. Ein Hofladen wirbt mit echt österreichischem Bienenhonig. Auf dem Türschild steht: »Aufgrund der unerträglichen Hitze haben wir vom 8.8.–18.8. geschlossen!« Dort, wo man einst einen Blick in die Fenster des Café Thury hatte werfen können, residiert im August 2018 eine Filiale der »Büchereien Wien« – daneben ein Fitnessstudio. An der Fassade des Hauses mit der Nummer 11 ist eine Plakette für den 1981 oder 1982 von Friedensreich Hundertwasser gepflanzten sogenannten Baummieter angebracht. Die bei Renovierungsarbeiten zu Schaden gekommene Robinie, die der damals sehr populäre Künstler aus einem Fenster über der zu dieser Zeit dort befindlichen Filiale der Zentralsparkasse wachsen ließ, wurde durch eine Hainbuche ersetzt. Der Visionär wollte die städtische Atemluft durch die Bepflanzung von Wohnhäusern verbessern. Angesichts der stickigen Hitze, welche die Wiener seit endlosen Wochen quält, mag das heute manchem wieder sehr plausibel erscheinen.

Wer seinerzeit die Wohnung der Familie Fried im vierten Stock betrat, kam zunächst in ein großes Vorzimmer, dem rechts ein langer Flur folgte. Auf der linken Seite befanden sich Salon, Speiseraum und das Schlafzimmer der Eltern.[3] Auf der rechten Seite des Flurs waren die Fenster zum Hinterhof, Bad und Toilette, eine Kohlenkammer, die Kammer des Hausmädchens und die Küche, dahinter, mit Blick in den Hof, das Zimmer, in dem der kleine Erich mit nicht nachlassender Energie seine Ideen spann. Nach wie vor lädt die etwas oberhalb gelegene Markthalle, die Erich von der Wohnung aus sehen konnte, ihre Kunden zum Einkauf ein. Nur dass sich heute ein Supermarkt hinter ihren Mauern verbirgt. Im Winter stellten sich hier Schlangen von Erwerbslosen zum Schneeschaufeln an und in den Kolonialkübeln schräg gegenüber suchten Menschen nach essbarem Abfall.[4] Auch heute nähren sich die Mittellosen wieder von dem, was andere weggeworfen haben.

Es gehörte zu den lebenslangen Eigenarten Erich Frieds, dass auch er ständig in Mülltonnen zwar nicht nach Nahrung, aber doch nach sonst irgendwie Verwertbarem suchte. Nach Gerätschaften, die sich vielleicht noch gebrauchen und – falls beschädigt – von ihm reparieren lassen würden: Lampen, Stecker, Regale oder Staubsauger. Als er in London für den BBC World Service arbeitete, fischte er beispielsweise Karteikarten und Schreibpapier aus dem Container vor dem Bush House, in dem viele, immer wieder wechselnde Firmen und Büros ihren Sitz hatten.[5]

Wunderkind mit Handicap


Kaputte Gegenstände wiederherzurichten, gehörte zu seinen lebenslangen Leidenschaften. Er war nicht, wie man Dichtern leicht unterstellt, abgehoben und vergeistigt, sondern hatte zuweilen einen ausgeprägten Sinn für das Praktische. Schon der Sechzehnjährige betätigte sich als Erfinder – mit einigem Erfolg: Er brachte ein Verfahren zur Glühlampenherstellung bis zur Patentreife. In seinen späten Jahren muss der mit ungelenken Bewegungen im Müll wühlende Dichter auf Passanten zuweilen wie ein Clochard gewirkt haben. Aufgrund einer angeborenen Muskelerkrankung, der Friedreich-Ataxie, konnte der kleine Erich nicht wie die anderen Kinder herumtollen.[6] Er entwickelte weniger bewegungsintensive Vorlieben, um sich zu vergnügen, und besondere Fähigkeiten, um am Geschehen in seiner Umgebung teilzunehmen und Aufmerksamkeit zu erregen.

Trude Mandel, eine Cousine zweiten Grades, erinnert sich, dass er und sie beim sonntäglichen Abendessen bei ihrer Großmutter immer am Katzentisch sitzen mussten. Erich pflegte hierbei die Gespräche der Erwachsenen genau zu verfolgen und besonders bei politischen Themen mit sehr lauter Stimme dazwischenzureden, wenn er anderer Meinung war. Er stand dann auf und fing an, lange Vorträge zu halten. »Zu altklug für sein Alter«, befanden die Erwachsenen in der Verwandtschaft: »Der Bub war schon wieder vorlaut, weiß immer alles besser.« Andererseits sei man genau deswegen auch irgendwie ein bisschen stolz auf ihn gewesen, so Mandel. Besonders viel Aufsehen erregten die Auseinandersetzungen, die schon der Fünfjährige, der zu diesem Zeitpunkt bereits lesen und schreiben konnte, mit seinem Vater Hugo hatte. Als ihm dieser einmal das Nasenbohren verbot, widersprach der Knirps entschieden: »Papa, ich werde immer in der Nase bohren. Mein ganzes Leben lang werde ich in der Nase bohren.«[7]

Etwa zur selben Zeit, im Jahr 1926, begann seine Karriere als Darsteller einer Kinderschauspieltruppe auf mehreren Bühnen in Wien und in der Umgebung. Erich wurde als Darsteller für die Renaissance-Bühne von dem Regisseur Hans Wachsmann entdeckt, nachdem er seine Spielkameraden im nahe seines Zuhauses gelegenen Liechtensteinpark zunächst mit selbst ausgedachten Geschichten gefesselt hatte und sie dann dazu brachte, kleine, von ihm ausgedachte Stücke zu inszenieren, bei denen er selbst mitspielte. Schnell wurde das ungewöhnlich redegewandte Vorschulkind, das zu den Kleinsten der Kinderdarsteller gehörte, zu einem in den Artikeln der Wiener Presse gefeierten Star der Truppe. »Erich Fried«, hieß es in einer Theaterkritik, »noch nicht fünfjährig, war als Azur und Bettler nicht nur ein sehr guter Sprecher, sondern ein Schauspieler mit geradezu dämonischer Wirkung.«[8]

Derselbe Knirps, der sich von seinem Vater immer wieder hatte anhören müssen, »ein Krüppel und nicht lebensfähig zu sein«,[9] zog nun die Aufmerksamkeit eines begeisterten Publikums auf sich. »Bei Pressekonferenzen vor den Theateraufführungen«, schreibt Fried in seinen Erinnerungen, »musste ich immer dabei sein, um mit den Journalisten zu sprechen.«[10] Sein Rezitationsstil war so packend, dass der Regisseur Max Reinhard auf ihn aufmerksam wurde. »Dieser war durch die berühmte Volksschauspielerin Hansi Niese auf den begabten Knaben hingewiesen worden und hatte sich auch bereiterklärt, die Kosten seiner weiteren Ausbildung zu übernehmen, wenn Erich Fried seinem Ensemble beitreten würde.«[11] Doch daraus wurde nichts. Denn die von Fried im Nachhinein als »Wunderkinderzeit« bezeichnete Phase seines Lebens endete abrupt, als er eingeschult wurde. Der Vater verbot ihm, mit seinen Auftritten fortzufahren. Er habe, erinnert sich Erich Fried im Gespräch mit dem Journalisten Hanjo Kesting, unterdessen »mit fünfeinhalb, sechs Jahren zu schreiben angefangen, ganz schlechte Gedichte mit einem ungeheuer großen Wortschatz, wobei ich die veralteten Worte von denen, die noch gängig waren, nicht trennen konnte. Ich habe auch versucht, auf Zeitereignisse, zum Beispiel auf die Schießerei am blutigen Freitag zu reagieren.«[12]

Der erste politische Auftritt


An der Hand seiner Mutter hatte der kleine Erich am 15. Juli 1927 mit eigenen Augen gesehen, wie auf der Kolingasse Menschen mit...

Erscheint lt. Verlag 16.1.2021
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Faschismus • Freundschaft • Neonazi-Szene
ISBN-10 3-608-12039-4 / 3608120394
ISBN-13 978-3-608-12039-4 / 9783608120394
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