Recht auf Demenz (eBook)
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2971-1 (ISBN)
Es gibt nicht die Pille gegen Demenz und es wird sie wohl auch nicht geben. Auch mit unserer Lebensführung haben wir nur begrenzt Einfluss darauf, Demenz als 'Weg aus dem Leben' vermeiden zu können. Wenn wir Demenz nicht heilen können, müssen wir mit Demenz leben lernen. Das gilt individuell, das gilt in Familien, Nachbarschaften und Kommunen, das gilt für die ganze Gesellschaft. Es ist eine im Wesentlichen kulturelle Leistung, zur Lebensform Demenz eine andere und neue Haltung zu entwickeln. Es ist eine politische Aufgabe, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Menschen mit Demenz aber auch ihre An- und Zugehörigen zu einem guten Leben mit Demenz befähigt werden. Und es gibt Anlass dazu, ein menschenrechtlich fundiertes Verständnis von Demenz zu formulieren: Ob daheim oder im Heim, ob im Krankenhaus oder in der Öffentlichkeit - die Rechte von Menschen mit Demenz, sie werden alltäglich verletzt. Wir brauchen zugleich Bilder und Geschichten, die zeigen, dass auch unter Bedingung von Demenz ein gutes Leben im Sinne von Martha Nussbaum möglich ist. In dem neuen Buch von Thomas Klie geht es darum, in zehn Kapiteln Betroffene und eine interessierte Öffentlichkeit für ein ethisch und rechtlich ausgerichtetes Verständnis von Demenz einzuladen. Dabei werden aktuelle Forschungen aus der Arbeit des Autors aufbereitet: etwa Bevölkerungsumfragen zum Thema Demenz, Praxisprojekte in Landkreisen, in Stadtteilen und Dörfern vorgestellt, auf neue Wohnformen verwiesen. Konsequent werden die zehn Dimensionen guten Lebens von Martha Nussbaum auf Menschen mit Demenz bezogen und eine Art gesellschaftlicher Knigge für den Umgang mit Menschen mit Demenz formuliert.
Geboren 1955 in Hamburg. Hochschullehrer, Autor, Sozialexperte. Er lehrte bis 2021 an der Evangelischen Hochschule Freiburg, leitet die Forschungsinstitute AGP Sozialforschung und das Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung in Freiburg und Berlin, arbeitet als Rechtsanwalt und ist Justitiar der Vereinigung der Pflegenden in Bayern, München.
Demenz – ein Thema mit symbolischer Bedeutung für unsere Gesellschaft
Die Coronakrise hat die Verletzlichkeit von Menschen mit Demenzen in aller Deutlichkeit zutage treten lassen: Hochbetagte Menschen gehörten und gehören zur Hochrisikogruppe, und dies in doppelter Hinsicht. Sie sind in besonderer Weise durch Infektionen gefährdet, aber auch in ihren Menschenrechten. In der vom Deutschen Ethikrat geführten Debatte, wie die knappen Ressourcen der Intensivmedizin fair verteilt werden können, gehörten die Menschen mit Demenz zu den Verlierern der Triage (Klie, 2020b). Auch wenn es heißt, Menschenwürde ist unteilbar: Bei der Notwendigkeit der Rationierung knapper Güter muss entschieden werden, muss selektiert werden. Und die Menschen mit Demenz gehörten in der Coronapandemie auch in der Ethikdebatte in Deutschland, wenn schon nicht explizit, so implizit zu denjenigen, die von Beatmungsgeräten ausgeschlossen werden konnten.
Die Medizinethikerin van Baarsen ist vor einigen Jahren zurückgetreten. Sie gehörte einem regionalen Kontrollkomitee in den Niederlanden an, das die Tötung von Demenzpatienten durch Injektionen überwacht. Sie könne den »deutlichen Wandel« in der Auslegung des Sterbehilfegesetzes nicht mehr mittragen. Die Zahl der jährlichen Tötungen in dieser Patientengruppe habe sich in den letzten fünf Jahren vervierfacht.
Wir stehen vor einem moralischen Dilemma: Die heimliche oder offene Zustimmung zum »Abschalten« von Menschen mit fortgeschrittener Demenz ist auch in Deutschland da. Und wer sich fragt, ob ein Leben unter den Vorzeichen einer schweren Demenz und grundlegender Abhängigkeit von der Unterstützung anderer erträglich sei, dem werden viele Menschen sagen: »Nein. Nicht für mich. Nicht für meine Angehörigen.« Wir wissen allerdings: Menschen mit Demenz – so sprechen wir seit Jahren von »Dementen« – müssen ihr Leben nicht als unerträglich erleben, sie können Glück und Zufriedenheit ebenso erfahren wie wir –, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Trotzdem ist wache Aufmerksamkeit gefragt: Gehen die Niederlande auf dem Weg voran, den wir in Deutschland früher oder später auch einschlagen werden? Der kirchlich begründete Widerstand gegen die aktive Sterbehilfe hält noch ein Fähnlein hoch, über das binnen Kurzem die Realität hinwegstampfen könnte. Eine Realität, die sich als postchristlich versteht und die aus der Leistungsgesellschaft und der Ökonomisierung und Kommerzialisierung aller Verhältnisse geboren ist. Warum soll denn eigentlich der Effizienzsturm, der durch unsere Gesellschaft braust, die Menschen mit Demenz in fortgeschrittenem Stadium verschonen, die doch allen geltenden Prinzipien widersprechen? Sie leisten nichts, sie kosten nur. Und zwar viel. Sie binden Arbeitskräfte, die woanders dringend benötigt werden. Sie sind an der Aufgabe der Selbstoptimierung gescheitert, sie stellen der Gesellschaft keine Ressourcen zur Verfügung, stattdessen verschlingen sie Ressourcen. Wird die durch Corona ausgelöste große ökonomische Krise – es gibt gute Gründe sie zu erwarten – auch durch die ambulanten und stationären Institutionen der Versorgung von Menschen mit Demenz fegen? Die mit Demenz verbundenen Kosten im Gesundheitswesen gehören zu den höchsten überhaupt. Können und wollen wir uns das leisten? An dieser »Demenzblase« verdienen zwar viele, so wird es heißen, aber die Gesellschaft verliert in der Konzentration auf das Verkrustete, das Alte, das Unbrauchbare ihre jugendliche Kraft. Und das Spitzenargument wird sein: Sie wollen es doch selber nicht. Her also mit der niederländischen Gesetzgebung. Die Bischöfe werden murren, einige Fundamentalisten werden protestieren. Und dann kann’s losgehen? Tatsächlich wurde bereits die Tür zum assistierten Suizid nach Demenzdiagnose in Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht aufgeschlossen.
Eines ist ganz klar: Das moralische Dilemma, vor das uns die Menschen mit Demenz stellen, bildet unzählige moralische Dilemmata in der Gesellschaft und besonders im Gesundheitsbereich ab. Leben verlängern um jeden Preis? Ein neues Herz für einen 90-Jährigen? Eine exzessiv teure Krebstherapie für einen Todkranken, die sein Leben und Leiden um einige Wochen verlängert? Künstliche Ernährung für jemanden, der sterben will? Die Grenzen sind fließend. Aber die Menschen mit Demenz bringen es für uns, die noch nicht »dement« sind, auf den Begriff: Wird Moral von der Ökonomie endgültig ausgehebelt werden? Die Zukunft unserer Gesellschaft wird sich, so muss man sagen, an ihrem Umgang mit den »Verrückten« entscheiden: eine wärmende Gesellschaft oder eine radikalisierte Leistungsgesellschaft, die alles zurückschneidet, was nicht nützlich ist.
1,7 Millionen Menschen mit Demenz leben aktuell in Deutschland, es werden 2050 etwa 3 Millionen sein. 5,7 Millionen Menschen sind heute in sozialen Berufen tätig. Wir können uns das nur so lange leisten, wie Deutschland durch Exporte der produzierenden Industrie viel Geld verdient. Nur solange die Konkurrenz mit einem durchsetzungskräftigen China die Voraussetzungen für den Wohlfahrtsstaat schafft, wird die Versorgung der Menschen mit Demenz so bleiben können, wie sie heute (bei aller Klage) ist. Corona stellt diese günstigen Bedingungen für die deutsche Volkswirtschaft und seinen Sozialstaat infrage.
In den letzten zehn Jahren ist das Thema Demenz aus der Schmuddelecke der Gesellschaft in die Öffentlichkeit geraten. Das Thema war in Bewegung und hat die Gesellschaft bewegt. Zivilgesellschaftliche Initiativen schossen aus dem Boden. Es wurde getanzt, Wohngemeinschaften wurden gegründet, demenzfreundliche Städte und Dörfer entstanden. Es sah so aus, als wenn diese Gesellschaft sich unter dem Eindruck der Demenz und in der Begegnung mit der Demenz reformieren könnte. Weg von Kälte, hin zur Empathie. Weg von der Gier, hin zur Solidarität. Insofern hatte und hat das Thema Demenz eine symbolische Bedeutung für diese Gesellschaft. Die Leitkultur misst sich an der Behandlung des Themas Demenz.
Wir stehen jetzt an einer Wende. Der Gesundheitsminister verkündete zusammen mit der Familienministerin im Sommer 2018, die Regierung werde eine Demenzstrategie entwickeln. Stimmt das hoffnungsvoll oder muss man misstrauisch werden? Setzt der Gesundheitsminister den Deckel auf den zivilgesellschaftlichen Aufbruch und übergibt das Thema Demenz versorgenden Institutionen, die – effektiv, gleichschaltend und vor allem knapp kalkulierend – agieren werden? Die Sorge für die Menschen mit Demenz wird gewissermaßen verstaatlicht und verdienstleistet. Und weiß man das, dann weiß man auch, dass es in der Folge um Standards, Kontrolle, Zentralisierung und um die Verteilung von Geldern gehen wird.
Dies gilt es zu begreifen und zu akzeptieren: Inmitten der Gesellschaft der Rationalität, der Algorithmen, der Planung, der Autonomie, bricht eine gesellschaftliche Wunde auf, die das alles konterkariert, ins Lächerliche zieht. Mitten in der kühlen Rationalität der Ausbruch von Gefühl, von Aggressivität, von Kreativität. Mitten in der konsumistischen Moderne eine wachsende Zahl von Menschen, die gar nicht mehr wissen, was Konsum ist. Mitten im geordneten Alltag der Leistungsgesellschaft Menschen, die sich wie Anarchisten benehmen. Da bleibt eigentlich gar nichts anderes als der Versuch, sie durch Versorgung ruhigzustellen und unsichtbar zu machen. Muss die Demenz zum Schweigen gebracht werden? Gefährdet sie den Schein öffentlicher Ordnung? Dabei könnten Menschen mit Demenz auch als die Boten einer anderen Realität verstanden werden, die an unseren Perspektiven rütteln. So wie die alten Frauen mit Demenz, die hinter einer Glastür sitzen und malen. Draußen eilen die Pflegekräfte vorbei. Frau Schmidt fragt Frau Meier: »Was machen die denn da?« Frau Meier: »Ich weiß es nicht.« Frau Schulz mischt sich ein und sagt: »Na, die tun was für ihre Fitness.« Das ist der Beitrag der Menschen mit Demenz: Sie drehen die Perspektive um.
Aus all diesen Gründen: Weil die Menschen mit Demenz gefährdet sind. Weil die Menschen mit Demenz uns stören. Weil die Menschen mit Demenz uns beunruhigen. Weil es nicht darum geht, sie zum Schweigen zu bringen: Darum sprechen wir vom »Recht auf Demenz«.
Es gibt nicht die Pille gegen Demenz – sie wird wohl auch nicht kommen. Auch mit unserer Lebensführung haben wir nur begrenzt Einfluss darauf, Demenz als »Weg aus dem Leben« vermeiden zu können. Wenn wir Demenz nicht heilen können, müssen wir mit Demenz leben lernen. Das gilt individuell, das gilt in Familien, Nachbarschaften und Kommunen, das gilt für die ganze Gesellschaft. Es ist eine im Wesentlichen kulturelle Leistung, zur Lebensform Demenz eine andere und neue Haltung zu entwickeln, die niederländischen Szenarien Bilder entgegensetzt, die Demenz als Herausforderung und gesellschaftliches Lern- und Reifungsfeld annimmt. Und es ist eine politische Aufgabe, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Menschen mit Demenz, aber auch ihre An- und Zugehörigen, zu einem guten Leben mit Demenz befähigt werden. Gerade in Zeiten von Corona gibt es Anlass dazu, ein menschenrechtlich fundiertes Verständnis von Demenz zu formulieren: Ob daheim oder im Heim, ob im Krankenhaus oder in der Öffentlichkeit – die Rechte von Menschen mit Demenz, sie werden alltäglich verletzt.
Nicht das Versprechen der Durchsetzung von formalen Standards, der strengen Qualitätssicherung in Heimen, kein pflegepolitisches Marketing, das euphemistisch davon spricht, der Mensch stünde im Mittelpunkt und der an Demenzerkrankte würde zum König Kunde, führt uns weiter. Im Gegenteil: Das ist die Sprache der Ökonomie. Wir brauchen Bilder und Geschichten, die zeigen, dass auch unter der Bedingung von Demenz ein gutes Leben im Sinne...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Demenz • Menschenwürde • Qualitätssicherung |
ISBN-10 | 3-7776-2971-5 / 3777629715 |
ISBN-13 | 978-3-7776-2971-1 / 9783777629711 |
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Größe: 12,3 MB
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