Fentanyl (eBook)
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2853-0 (ISBN)
Ben Westhoff ist ein Investigativ-Journalist, der über Kultur, Drogen und Armut schreibt, unter anderem für den Rolling Stone, den Guardian, Vice und das Wall Street Journal. Sein erstes Buch »Original Gangstas« ist eines der meistverkauften Bücher über den Hip-Hop. »Eine umfassende Geschichte der Entwicklung und des Aufstiegs eines Arzneimittels im Zentrum der Opioidkrise. Wo das Buch wirklich glänzt, liegt dies an Westhoffs Fähigkeit, in das Leben seiner Charaktere einzudringen. Eine Leistung, über ein wichtiges Thema zu berichten [und] an einem wichtigen Punkt in der Opioidkrise anzukommen.« New York Journal of Books »Best Books of the Year« BuzzFeed »50 Best Books of the Year« Daily Telegraph
Eins
Menschen haben schon immer Opiate genommen.[27] Während des längsten Teils der Menschheitsgeschichte waren sie eine der wenigen verfügbaren Arzneien, die Babys mit Koliken, Sterbenden und allen anderen dazwischen gegeben wurden. Missbrauch war in früheren Jahrhunderten möglicherweise verbreiteter als heute, und das Problem verschärfte sich besonders mit dem amerikanischen Bürgerkrieg, als man verwundeten Soldaten Morphium gegen ihre Schmerzen gab – ihrer Abhängigkeit von dem Opiat gab man die Bezeichnung Soldatenkrankheit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man in den USA Opium im Sears-Katalog bestellen, und die Abhängigkeit davon war so verbreitet, dass Präsident Theodor Roosevelt 1908 schließlich einen Opiumbeauftragten ernannte. Während der industriellen Revolution erreichte das Problem auch Großbritannien, und das Land versuchte, sein Handelsdefizit auszugleichen, indem es die Britische Ostindien-Kompanie benutzte, um enorme Mengen Opium nach China einzuschleusen, was zu zwei Kriegen führte.
Doch noch nie hat ein Opiat – oder irgendeine andere Droge – jährlich so viele Menschen umgebracht wie Fentanyl. Was wir aktuell erleben, ist die nächste Phase der Opioidkrise. Sie setzte mit einer übermäßigen Verschreibung opioidhaltiger Schmerzmittel ein, angeheizt durch einen 1980 im »New England Journal of Medicine« veröffentlichten Beitrag. Deren Verfasser waren der Arzt Hershel Jick und seine Doktorandin Jane Porter. Sie hatten Tausende von Fällen untersucht, in denen Krankenhauspatienten Narkotika erhalten hatten. Nur vier davon seien süchtig geworden, hatten sie herausgefunden, und nur ein Fall davon sei wirklich problematisch. »Wir schließen daraus, dass es trotz der weitverbreiteten Verwendung von Narkotika in Krankenhäusern bei Patienten, die keine entsprechende Vorgeschichte haben, nur selten zur Entwicklung einer Abhängigkeit kommt.«
Der Satz war einer von lediglich fünf, aus denen der kurze Beitrag von Jick und Porter bestand, und weit entfernt davon, Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben: Die von ihnen untersuchten Patienten hatten nur geringe Dosen unter strenger Beaufsichtigung ihrer Ärzte erhalten. Trotzdem hatten die wenigen Zeilen großen Einfluss, wurden von anderen Forschern in über 600 Studien zitiert, und Ärzte und Pharmaunternehmen nutzten sie bedenkenlos, um für entsprechende Produkte zu werben.
In den 1990er-Jahren kam es zu einem größeren Paradigmenwechsel in der Medizin in den USA: Patienten sollten »humaner« behandelt werden. Traditionell orientierten sich Ärzte bei der Behandlung auf die vier »Lebenszeichen« Körpertemperatur, Atmung, Blutdruck und Puls. Mitte der 1990er-Jahre führte die American Pain Spociety ein, dass als fünftes Lebenszeichen auch Schmerz zu beachten sei. »Es war nicht nur in Ordnung, sondern es war unsere heilige Pflicht, die Welt vom Schmerz zu befreien, indem wir den Menschen klarmachen, dass Opiate sicher sind«, so beschrieb der Bostoner Schmerzspezialist Dr. Nathaniel Katz gegenüber dem Journalisten Sam Quinones bei einem Interview für sein Buch »Dreamland: The True Tale Of America’s Opiate Epidemic« die gängige Meinung. »All die Gerüchte über Abhängigkeit waren unbegründet … Der Leiter meines Forschungsprojekts sagte sogar zu mir: ›Wenn du Schmerzen hast, kannst du gar nicht abhängig von Opiaten werden, denn der Schmerz frisst die Euphorie auf.‹«[28]
Die Familie Sackler, Eigentümerin des Unternehmens, das Oxycontin herstellt, verdiente dadurch ein Milliardenvermögen. Lange vor der Entwicklung des Medikaments war Arthur Sackler, von Haus aus Mediziner, ein Pionier auf dem Gebiet der Werbung für pharmazeutische Produkte. 1952 kauften Arthur und seine Brüder Raymond und Mortimer die spätere Firma Purdue Pharma. In einem Interessenkonflikt zwischen Werbung und Pharmazeutika hin- und hergerissen, brachte Purdue 1996 Oxycontin auf den Markt – unter deutlicher Anpreisung seiner Vorteile: Die relativ hohen Dosen des Opioids Oxycodon würden verzögert freigesetzt – contin bedeutet »continuous« (kontinuierlich). Und da die Tabletten zwölf Stunden lang wirken würden, bräuchten Patienten auch nur zwei am Tag, also weniger als bei vergleichbaren Medikamenten. Abhängigkeit, so das Versprechen weiter, komme äußerst selten vor.
Purdue startete eine Marketingkampagne mit Hunderten Verkäufern, um Ärzte zu beeinflussen und Werbeartikel zu verteilen, darunter Schrittzähler, Kopfbedeckungen und sogar eine Oxycontin-Musik-CD mit dem Titel »Swing Is Alive«, auf dessen Cover zwei ältere Menschen tanzten. Purdue lud Ärzte an erholsame Orte zu Schmerzmanagement-Seminaren ein – woraufhin diejenigen, die an diesen Veranstaltungen teilgenommen hatten, mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit Oxycontin verschrieben als andere.[29] Ursprünglich war Oxycontin nur für den Einsatz bei Krebspatienten beworben worden, doch nach internen Berichten des Unternehmens wurde der Markt dafür als zu klein eingeschätzt, mit Jahresumsätzen bis höchstens 260 Millionen Dollar. Würde das Mittel jedoch auch an Patienten mit allen möglichen chronischen Schmerzzuständen verkauft, könnte der jährliche Umsatz eher 1,3 Milliarden Dollar betragen. Und so stiegen die Verkäufe von knapp unter 50 Millionen Dollar im Jahr 1996 auf über eine Milliarde Dollar im Jahr 2000 – Oxycodon wurde der meistverschriebene Wirkstoff in den Vereinigten Staaten.
Doch bei vielen Patienten wirkte die Dosis nicht wie versprochen zwölf Stunden, und sie stellten Entzugserscheinungen fest. Während die Vertriebsmitarbeiter von Purdue den Ärzten erzählten, dass weniger als ein Prozent der Patienten, die Oxycontin nahmen, abhängig würden, kam eine unternehmensinterne Studie 1999 auf eine Quote von 13 Prozent.[30] Damit gerieten nicht wenige Patienten, die Oxycontin nach Anweisung nach Operationen oder wegen chronischer Schmerzen einnahmen, in Bedrängnis: Wenn das Rezept aufgebraucht war, waren sie abhängig. Viele versuchten, durch Ärzte-Hopping weitere Tabletten zu bekommen. Wer das aber nicht konnte oder sich die Tabletten nicht mehr leisten konnte, ging zu Heroin über, da es günstiger war – mancherorts nur fünf Dollar pro Dosis –, um ihre Opioidsucht zu befriedigen. Und ehe sie sichs versahen, gingen diese Menschen regelmäßig in gefährliche Stadtteile, um Heroindealer zu treffen.
Der Missbrauch griff um sich. Viele zerkleinerten die Tabletten, die auch als Hillbilly-Heroin bekannt waren, zu Puder, um es zu schnupfen oder um eine Injektionslösung herzustellen, die schneller high machte. Andere wurden zu Drogendealern und verkauften das Mittel weiter. Der übliche Preis auf der Straße für Oxycontin lag bei einem Dollar pro Milligramm, eine Acht-Milligramm-Tablette kostete acht Dollar.
Das Problem ist komplex: Die große Mehrheit der legitimen Konsumenten von Oxycontin und anderen Opioiden profitiert von der beabsichtigten Wirkung dieser Medikamente. Diejenigen, die an Überdosen sterben, haben die Tabletten zum größten Teil vom Schwarzmarkt bezogen und nicht über ihren Arzt. Trotzdem trägt Purdue den Hauptteil der Verantwortung für die Opioidkrise in Amerika, so Andrew Kolodny, Co-Direktor der Opioid Policy Research Collaborative an der Brandeis University: »Wenn man sich die Trends bei den Verschreibungen der verschiedenen Opioide ansieht, dann gehen die Verschreibungen 1996 richtig in die Höhe.[31] Das ist kein Zufall: Das war das Jahr, in dem Purdue eine große Kampagne startete, die die medizinische Fachwelt über die Risiken täuschte.« Das Unternehmen wurde später von einem Gericht schuldig gesprochen, das Abhängigkeitspotenzial heruntergespielt zu haben, und musste 2007 eine Geldstrafe von 600 Millionen Dollar zahlen. Verglichen mit den Milliarden, die es bis dahin verdient hatte und weiterhin noch verdienen würde, handelte es sich um ein Taschengeld. Kein Manager des Unternehmens wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, was US-Senator Arlen Specter aus Pennsylvania zu der Aussage veranlasste: »Ich erlebe häufig, dass Geldstrafen verhängt werden, und bin der Ansicht, dass es nur teure Lizenzen für kriminelles Verhalten sind. Ich weiß nicht, ob das in diesem Fall zutrifft, aber eine Gefängnisstrafe schreckt ab, eine Geldstrafe nicht.«[32]
2010 brachte Purdue eine neue Version von Oxycontin auf den Markt, die nicht zerkleinert und injiziert werden konnte, was nach Überzeugung des Unternehmens Missbrauch verhindern würde. Die US-Lebens- und Arzneimittelbehörde (FDA) stimmte zu. Diese neue Version des Medikaments könnte die Opioidkrise sogar noch verschlimmert haben. Psychiater der Washington University in St. Louis interviewten 2015 für eine Studie 244 Menschen, die wegen Abhängigkeit von der neuen Version des Mittels in Behandlung waren.[33] Sie zeigten, dass viele es schafften, clean zu werden, doch ein Drittel stieg auf andere Drogen um. Sieben von zehn Personen aus dieser Gruppe begannen, Heroin zu nehmen. Außerdem waren verschreibungspflichtige Narkotika Anfang der 2010er-Jahre zunehmend schwer erhältlich. Hinzu kam, dass Heroin knapp war. Beides führte schließlich dazu, dass der Fentanyl-Konsum in den Vereinigten Staaten anstieg, was 2018 eine Studie der University of California in San Francisco belegte.[34] Darin stellten die Forscher fest, dass Fentanyl ein merkwürdiger Fall ist: Der Grund für seinen Aufstieg ist nicht, dass Menschen den Wirkstoff unbedingt wollen – sie fürchteten Entzugserscheinungen und hatten keinen Zugang zu anderen Opioiden. Ein weiterer Hinweis darauf ist auch, dass Fentanyl keinen Spitznamen hat – anders als viele Drogen, die »Straßennamen« bekamen wie Smack, Gras, Molly.[35]
Vorwürfe wurden auch...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2021 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Fentanyl |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Fentanyl • Gesundheit • Mafia • Medikamentenmissbrauch • Medizin • Opoidkrise • Schmerzmittel • USA |
ISBN-10 | 3-7776-2853-0 / 3777628530 |
ISBN-13 | 978-3-7776-2853-0 / 9783777628530 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich