Bodies (eBook)
176 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-133-5 (ISBN)
Susie Orbach, geboren 1946, ist Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin, Autorin und Sozialkritikerin.Sie therapierte u.a.Prinzessin Diana, ist Gründerin des Women's Therapy Centre of London und war Kolumnistin für den ?Guardian?, außerdem schrieb sie zahlreiche Sachbücher.Die ?New York Times? nannte Susie Orbach »die berühmteste Psychoanalytikerin, die nach Freud ihre Couch in Großbritannien aufstellte«.Orbach lebt in London und hält Vorträge auf der ganzen Welt.
Susie Orbach, geboren 1946, ist Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin, Autorin und Sozialkritikerin.Sie therapierte u.a.Prinzessin Diana, ist Gründerin des Women's Therapy Centre of London und war Kolumnistin für den ›Guardian‹, außerdem schrieb sie zahlreiche Sachbücher.Die ›New York Times‹ nannte Susie Orbach »die berühmteste Psychoanalytikerin, die nach Freud ihre Couch in Großbritannien aufstellte«.Orbach lebt in London und hält Vorträge auf der ganzen Welt. Cornelia Holfelder-von der Tann, geboren 1950, übersetzt seit 1976 Literatur aus dem Englischen und hat u. a. Marilyn French, Naomi Wolf und Philip Kerr ins Deutsche übertragen. Sie lebt in Freiburg.
Einleitung
Unser Körper ist Gegenstand eines Krieges. Es ist ein Krieg mit unerwarteten Kontrahent*innen und ungewissem Ausgang. Wie in jedem Krieg fallen Ressourcen mal dieser, mal jener Seite in die Hände. Wie in jedem Krieg hüllen die ins Feld geführten Ideologien die Gegner*innen und den Schauplatz in den Nebel des Ungefähren: Manchmal erkennen wir, dass etwas unseren Blick verstellt, ein andermal ist es Teil unseres Normalzustandes, wie die Schwerkraft, unsichtbar, aber unentrinnbar.
Das Terrain des Körpers verändert sich. Neue Entwicklungen und Erkenntnisse – #MeToo, Künstliche Intelligenz, Epigenetik, die Trans-Bewegung, das Einfrieren von Eizellen, Schönheits-OP-Apps für Sechsjährige, Selfies, Snapchat-Dysmorphie, die Kardashians, das Spiegelneuronensystem, Influencer*innen, Black Lives Matter, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Politik aus dem Bauch heraus, Leihmutterschaft, Implantate, Sexpuppen – erfordern neues Denken. Zwei Trends stoßen aufeinander: die Schwierigkeit, in unserem derzeitigen Körper mit seinen vielen Dilemmata zu leben, und die Verheißung einer problemlosen, nahezu körperlosen Existenz in einer Zukunft, die durch Algorithmen, KI-Chemie und synthetische Biologie bestimmt ist.[1] Und dann ist da noch die Dystopie, die die New York Times kürzlich in einem Editorial entworfen hat: die Wahrscheinlichkeit, dass ein konservativer Supreme Court die Rechte des Fötus über die der Mutter stellt. Jetzt, da einige Bundesstaaten mit ihrem Abtreibungsverbot diese Rechte umgewichtet haben, so argumentierte der Artikel, könnten womöglich auch Trinken und Rauchen während der Schwangerschaft strafrechtlich verfolgt werden. Eine Frau, die sich einer Brustkrebsoperation unterziehen musste, erfuhr beispielsweise, dass ihr, wäre sie schwanger, die Krebsbehandlung verweigert würde, da die Rechte des Fötus Vorrang hätten.[2]
Unseren Körper als einen biologischen Organismus mit entsprechenden Beschränkungen zu begreifen, ist nicht mehr hinreichend. Der Spätkapitalismus verändert Arbeitsbedingungen und Wesen der Arbeit, verändert Klima und Umwelt, die Konzepte von Regieren und Governance sowie die Definition derer, die dazugehören dürfen, und derer, die als »andere« gesehen werden und außen vor gehalten werden müssen. Soziale Medien bestimmen neu, was Interaktion heißt und was es bedeutet, gesehen und gehört zu werden. In solchen Zeiten wird auch der Körper zum Austragungsort von Kämpfen. Ihm werden ganz neue Formen der Selbstpräsentation und Identität abgerungen, während man uns gleichzeitig auf eine entmaterialisierte Existenz hin coacht, bei der fast alles, was wir unter Leben verstehen – Essen, Atmen, Bewegung, Fühlen, Beziehungen – im Geist stattfinden wird und nicht im physischen, irdischen Körper.
In Südkorea ist das Abtragen des Unterkieferknochens zur Erschaffung eines zierlichen Kinns eine so häufige Schönheitsoperation, dass bereits Kunstwerke ausgestellt werden, die aus dem entfernten Knochenmaterial bestehen. Noch beliebter sind Kontaktlinsen, die die Pupille so vergrößern, dass die Trägerin wie eine Puppe mit riesigen blauen, grauen, violetten, grünen, braunen, türkisen oder schwarzen Augen wirkt. YouTube-Star Anastasiya Shpagina aus Odessa, deren Make-up-Tutorial, wie sie sich als Miley Cyrus schminkt, 5 Millionen Mal aufgerufen wurde, und Kandee Johnson aus Los Angeles, deren Verwandlung in Barbie es auf 35 Millionen Aufrufe bringt, zeigen minutiös, wie man sich das Aussehen nahezu jeder prominenten Person zulegen kann, indem man Kosmetika, Filler und Hairstyling-Techniken so kompetent und raffiniert einsetzt wie die besten Maskenbildner*innen Hollywoods. Jede*r, so scheint es, kann wie jede*r aussehen. Auch wie Barbie oder Ken. Tatsächlich hat Justin Jedlica, ein Instagrammer, 125 Eingriffe auf sich genommen und 185000 Dollar ausgegeben, um wie Ken auszusehen; er ließ seinen Oberkörper, sein Gesicht, seine Oberarmmuskeln und seinen Haaransatz operieren. Sein Video haben über 16 Millionen Menschen gesehen. In China ist Beauty-Blogging ein Riesengeschäft. Eine spezielle Handy-App von Meitu ermöglicht sieben Stufen der Verschönerung von Selfies, und mindestens 3 Milliarden der 6 Milliarden Fotos, die jeden Monat hochgeladen werden, sind damit bearbeitet worden. Laut HoneyCC, einer geschäftstüchtigen Bloggerin und Influencerin, die es durch Werbung für Beauty- und Bodystyling-Produkte zu beträchtlichem Reichtum gebracht hat, sind bearbeitete Selfies inzwischen Teil der chinesischen Kultur. Der Begriff wang hong lian (Internet-Celebrity-Gesicht) bezeichnet den charakteristischen Look dieser Fotos. Hautton, Gesichtsform, Weißheit der Zähne und Styling sind mittlerweile Sache eines Tastendrucks.
Auch bei uns vermarkten Influencer*innen – d.h. Individuen, die auf Instagram und anderen Plattformen über ein Publikum von 30000 Followern aufwärts verfügen – sich selbst und ihre Schönheits- und Körpergestaltungspraktiken. Diese Art von Arbeit wird nicht als Schönheitsarbeit anerkannt, ist aber genau das. Unter dem Begriff der Schönheitsarbeit müssen wir nicht nur die Werbetätigkeit der Blogger*innen ansehen, sondern die Arbeit, die wir alle verrichten, wenn wir uns zurechtmachen. Meine dreijährige Enkelin war kürzlich auf eine Geburtstagsparty in einem Nagelstudio eingeladen, in dem die Kinder von zwei Müttern und zwei Nageltechnikerinnen betreut wurden. Heute habe ich einen Mann gesehen, der sich in einem Kaufhaus fast schon öffentlich die Augenbrauen mit dem Faden zupfen ließ. Schönheitsarbeit gilt zunehmend als unabdingbar für Mädchen, Frauen und Männer. Die Frage ist: warum? Und wie ist diese Arbeit, ob sie nun durch Chirurgie, Zahnmedizin oder Filter geleistet wird, zu etwas Erstrebenswertem geworden?
Dieses Buch vertritt die These, dass der Körper »gemacht« wird. Er gilt nicht mehr nur als etwas, das gewaschen, deodoriert, gekleidet und parfümiert werden muss, bevor wir unseren Tag beginnen. Der Körper ist heute unsere unendlich formbare Visitenkarte, er tilgt oder verkündet unsere Schichtzugehörigkeit, unsere geografische Herkunft, unseren ethnischen Hintergrund, unser Genderzugehörigkeitsgefühl. Aber das ist nicht immer ungefährlich. Die Körper Schwarzer Jungen und Männer sind, speziell in London, Angriffen ausgesetzt. Die Körper von Mädchen und Frauen waren immer schon Angriffsziele, und wir erfahren jeden Tag mehr darüber, was sie in Kriegsgebieten in aller Welt weiterhin erleiden müssen – man denke an die Jesidinnen, an den sogenannten Islamischen Staat, an weibliche Genitalverstümmelung. Wir sehen die schwerwiegenden Angriffe schon in frühen Jahren, wenn Flüchtlingskinder von ihren Eltern getrennt, wenn Mädchen der Genitalverstümmelung unterzogen, wenn Jungen und Mädchen Pädophilen preisgegeben werden. Gleichzeitig mehren sich auf den Straßen die Angriffe auf die, die nach Meinung anderer der falschen Schicht oder dem falschen Geschlecht angehören oder einfach schlechthin »falsch« sind.
Auf einer weiteren Ebene, parallel dazu, intensivieren sich Künstlichkeit und Konstruktion – eine Angriffsform, die so anders ist, dass sie vielleicht gar nicht als schädigend erkannt wird, zumal sie als etwas präsentiert wird, das Spaß macht (was sie auch tatsächlich sein kann), und manchmal sogar als etwas Notwendiges.
Sie möchten aussehen wie ein Filmstar? Eine Akademikerin mit genau dem richtigen Maß an Sex-Appeal, aber nicht zu viel? Ein Banker mit einer künstlerischen Ader? Sie möchten Smokey Eyes, Kulleraugen, Augen, die sexy sind, glamourös, aufreizend, lasziv etc.? Kein Problem. Diese Looks, online wie offline erhältlich, sind mittlerweile gefühlte – wenn nicht sogar tatsächliche – Voraussetzung für Jobs, die nichts mit Aussehen zu tun haben: Es kommt immer und überall aufs Aussehen an.
Das Äußere ist alles, wie Shoppingtempel für Mode und Make-up zeigen. Operative Eingriffe erschaffen Wadenmuskeln, prägnante Wangenknochen, schmalere oder aufgefüllte Lippen, runde oder flache Pos, vergrößerte oder verkleinerte Brüste, flache Bäuche, ewig jugendliche Kinnlinien. Rigide Geschlechterstereotype werden dadurch gesprengt, dass operative Brustentfernung sich ebenso mit einem Penis wie mit einer per Testosteronbehandlung vergrößerten Klitoris kombinieren lässt. Aussehen ist entscheidend, für die Ärztin wie für den Büroassistenten. Der einmal erreichte Look muss über Selfies und Sexting endlos geteilt und bestätigt werden. Die visuelle Dauerberieselung untergräbt, was einst privat oder intim war. Erleben – ob es darin besteht, dem eigenen Kind beim Purzelbaum schlagen zuzuschauen oder eine Mahlzeit zu sich zu nehmen – ist eine unsichere Sache, solange man es nicht postet, damit es gesehen wird. Wir ertappen uns dabei, wie wir unser Erleben dokumentieren, als wäre ohne die visuelle Dauerberieselung nichts gewesen.
Das Bedürfnis nach Bestätigung und danach, gesehen zu werden, ist so mächtig, dass es schon verwunderlich, ja, geradezu ein bisschen pervers wirkt, eine Zeitlang nicht in den Spiegel zu schauen. Aber vielleicht ist das ja nötig, um die zwanghafte Selbstbespiegelung zu durchbrechen, die wir betreiben, ohne zu merken, wie sehr wir sie brauchen. In Mirror, Mirror off the Wall beschreibt Kjerstin Gruys, Dozentin für Soziologie an der University of Nevada, ihren Selbstversuch, ein Jahr ohne Spiegel zu leben. Wohl die wenigsten...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2012 |
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Übersetzer | Cornelia Holfelder-von der Tann |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bestseller • Feminismus • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Ideale • Körper • Künstliche Intelligenz • Medien • metoo • Optimierung • Psychologie • Roboter • Schönheit • Schönheitswahn • Selbstwahrnehmung • Therapie |
ISBN-10 | 3-03790-133-0 / 3037901330 |
ISBN-13 | 978-3-03790-133-5 / 9783037901335 |
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