Okay, danke, ciao! (eBook)
192 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-26003-3 (ISBN)
Katja Hübner, in Darmstadt geboren, studierte in Würzburg Kommunikationsdesign und führt heute die Agentur Kommune Art in Hamburg. Hier betreut sie als Grafikerin zahlreiche Kunden aus der Musikbranche, unter anderem Udo Lindenberg, für den sie seit Jahren die Albumcover gestaltet. Katja Hübner lebt mit ihrer Tochter und ihrem Partner im Hamburger Schanzenviertel, unweit der Grünanlage, in der sie Marc erstmals begegnet ist.
1.Tortillachips zum Frühstück
Mai bis Juni 2017
Kurz noch eine rauchen. Der Friseur winkt mir durchs Fenster zu, ich habe gleich einen Termin. In diesem Moment geht ein junger Typ mit Carhartt-Hose, Parka und Norwegermütze an mir vorbei. Er hat asiatische Gesichtszüge, bewegt sich auffallend langsam und wirkt irgendwie abwesend. Plötzlich bleibt er stehen, bückt sich und hebt eine Zigarettenkippe vom Boden auf. Ich bin kurz irritiert und betrete den Friseursalon. Ein sonniger Tag Anfang Mai.
In den kommenden Wochen sehe ich diesen jungen Mann immer wieder. Jedes Mal hat er die Kapuze seiner Jacke über seine Wollmütze gezogen, selbst bei sommerlichen Temperaturen. Wie das Wetter ist, scheint ihm egal zu sein. Entweder liegt er auf der Wiese neben dem Friseur, oder er läuft die Schanzenstraße auf und ab, den Blick stets auf den Boden gerichtet. Von Woche zu Woche wirkt er ungepflegter, die Fingernägel sind lang und bräunlich gelb verfärbt, bald nehme ich seinen Geruch schon aus einigen Metern Entfernung wahr.
In Hamburg sind Obdachlose ein alltäglicher Anblick. Viele campen in Parks, andere suchen Unterschlupf in Hauseingängen oder U-Bahn-Schächten. Es fällt schwer, nicht abzustumpfen, man hat sich an den Anblick gewöhnt. Warum mir nun ausgerechnet dieser Typ nicht aus dem Kopf geht, weiß ich nicht.
Als ich eines Tages auf dem Weg zur Arbeit bin, sehe ich ihn mal wieder bewegungslos – den Blick gen Himmel gerichtet – auf der Wiese liegen.
Ich gehe zu ihm und frage:
»Ist alles okay?«
Er setzt sich auf, schaut mich mit freundlichen Augen an und antwortet mit erstaunlich sanfter Stimme:
»Alles super. Hast du eine Zigarette?«
»Ja klar«, sage ich und frage, ob ich kurz bleiben darf.
»Klar.«
Wir rauchen zusammen, und ich spüre, dass er nicht weiter mit mir reden will. Also verabschiede ich mich und gehe.
Von nun an halte ich jedes Mal bei ihm an. Ich erfahre, dass er Marc heißt, siebenundzwanzig Jahre alt und der Sohn eines Deutschen und einer Indonesierin ist. An guten Tagen, wenn seine Augen klar sind, fragt er mich, woher ich gerade komme, oder will wissen, wie es mir geht. An schlechten Tagen, wenn er unbewegt auf den Boden starrt, fragt er nur nach Zigaretten und sagt eintönig »Danke«. Ich versuche trotzdem, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Manchmal lässt er sich auf ein Gespräch mit mir ein. Wann und ob das passiert, lässt sich im Voraus nie genau sagen. Also übe ich mich in Geduld.
»Warum sitzt du hier so alleine?«, frage ich ihn, während wir nebeneinander auf seiner Bank sitzen. »Das ist nicht gut. Gibt es denn nicht irgendwo jemanden, der dich vermisst?«
»Doch, schon«, antwortet er.
Und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Aber das ist jetzt auch egal.«
»Nein, das ist nicht egal«, sage ich. Aber Marc geht nicht weiter darauf ein.
»Okay, danke, ciao.«
Obwohl er mir so deutliche Zeichen gibt, mich immer wieder wegschickt, sobald ich zu viel frage, lasse ich nicht locker. Schon am nächsten Tag frage ich weiter:
»Was ist denn nur los mit dir? Du wirkst, als hättest du auf der letzten Party zu viele Drogen genommen.«
Marc starrt unbewegt vor sich hin.
»Das kann passieren«, sage ich. »Das kommt schon wieder in Ordnung. Du solltest dir im Krankenhaus helfen lassen.«
Keine Antwort. Stattdessen fragt er nach einer Pause:
»Hast du noch eine Zigarette?«
Ich halte ihm meine Packung hin, er nimmt sich eine und sagt:
»Okay, danke, ciao!«
Marc besitzt nichts. Gar nichts. Sein Essen holt er sich aus Mülltonnen, seine Kippen sammelt er vom Boden auf. Ab und zu legen ihm Anwohner eine Decke auf die Wiese. Diese Wiese und die Bank scheinen für Marc der einzige Ort zu sein, an dem er sich sicher fühlt. Das scheint ihm wichtiger zu sein, als sich vor Regen zu schützen. Eigentlich absurd, denn diese Hundewiese ist alles andere als beschaulich. Kaum fünfhundert Quadratmeter groß, bestückt mit drei, vier Bänken, direkt an einer stark befahrenen Straße gelegen. Vier große alte Bäume stehen hier, am hinteren Ende befindet sich eine Rhododendronhecke. Zweimal im Jahr kommen Angestellte der Stadt vorbei und mähen diesen großen Rasenfleck voller Hundekot.
Marcs Lage erscheint mir vollkommen unmenschlich. In den ruhigen Momenten des Tages denke ich an ihn. Wie kann ich zusehen, wenn ein offenbar einsamer junger Mensch kaum dreihundert Meter von meiner Wohnung entfernt völlig alleine auf einer Wiese sitzt? Wie kann ich achtlos Geld ausgeben für Taxifahrten oder das zehnte Paar Schuhe? Wie kann ich überflüssiges Essen wegwerfen, wenn er zeitgleich in der Mülltonne wühlt?
Am nächsten Tag packe ich eine Tüte mit Essen und Getränken und suche Marc. Ich treffe ihn in der Schanzenstraße. Er freut sich offenbar, mich zu sehen, und fragt:
»Hey, wie gehts?«
Dann will er mich tatsächlich umarmen. Dieses Links-/Rechts-Ding. Aber er riecht so schlimm. Ich reiße mich zusammen und lasse es zu. Er fragt:
»Hast du eine Zigarette?«
Ich gebe ihm eine und frage zurück:
»Sind wir Freunde?«
Marc sagt: »Klar sind wir Freunde.«
Ich drücke ihm meine Tüte in die Hand.
»Ich will nicht, dass meine Freunde Müll essen.«
Mit diesem Satz habe ich ihm etwas Würde schenken wollen, und gleichzeitig war er auch ernst gemeint. Natürlich wird das eine ungleiche Freundschaft, aber ich merke schon jetzt, dass ich diesen einsamen Menschen nicht einfach wieder seinem Schicksal überlassen kann.
Von nun an bringe ich Marc täglich Verpflegung. Morgens ein Getränk und belegte Brötchen, abends packe ich die Beutel dann schon fast übertrieben liebevoll zusammen. Immer ein Stück Obst und einen Schokoriegel, mal Kartoffelsalat und Würstchen, mal Nudeln mit Tomatensoße, jeden Tag etwas anderes, es soll abwechslungsreich sein. Manchmal erscheint es mir selbst sinnlos, aber die Hilfe, die eigentlich gefragt wäre, nämlich ein Dach über dem Kopf, ein Bett im Trockenen oder Unterstützung durch psychiatrisches Fachpersonal, scheint für Marc keine Option zu sein.
Gerade in dieser Anfangszeit beschäftigt mich Marcs verwahrloster Zustand sehr. Vielleicht weil diese äußere Verwahrlosung sichtbarer ist als die innere – und weil Hilfe hier einfacher möglich scheint. Eines Morgens packe ich zu Hause unsere Nagelschere ein und nehme sie mit auf die Wiese. Ich halte ihm die Schere hin und sage:
»Ich glaube, du solltest dir mal die Fingernägel schneiden.«
Er sieht auf seine Hände, nimmt die Schere und antwortet:
»Ja, mache ich später.«
»Gut«, sage ich, »heute Abend möchte ich sie gerne wiederhaben.«
Auf meinem Weg zur Arbeit überlege ich, ob ich diese Schere später desinfizieren oder dann doch lieber entsorgen sollte.
Doch auch diese Gedanken waren umsonst, wie ich abends auf der Wiese feststellen muss. Schon von Weitem sehe ich Marc in lässiger Haltung auf der Bank sitzen. Ich gehe zu ihm und reiche ihm die tägliche Essenstüte.
»Oh, danke«, sagt er und legt sie neben sich auf die Bank.
Ein Blick auf seine Hände lässt mich erschaudern. Blutverkrustete Fingerspitzen an beiden Zeigefingern. Die Fingernägel wurden offenbar abgerissen. An den übrigen Fingern sind immer noch lange gelbe Nägel.
»Was hast du denn da gemacht?«, frage ich und zeige auf seine Hände.
»Äh, nichts.«
»Tut das nicht weh?«
»Nein, nein, das geht schon.«
»Okay … Wo ist denn die Nagelschere?«
»Die liegt da drüben.« Marc geht zielsicher über die Wiese, bückt sich und hebt die Schere auf.
»Ich nehme die jetzt wieder mit«, sage ich und packe sie in meine Tasche. Und beschließe, die Sache mit den Fingernägeln erst einmal hintanzustellen.
»Das Ganze geht dir viel zu nah«, warnt mich eines Tages mein Freund Frank. »Du wirst in dieser Sache gar nichts erreichen.« Aber auch er weiß: Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, lasse ich mich von niemandem davon abbringen.
Allerdings bin ich tatsächlich etwas überempathisch. Wenn es Menschen in meinem Umfeld schlecht geht, leide ich jedes Mal mit. Was zunächst sympathisch klingen mag, aber niemandem etwas bringt. Ich kann Franks Bedenken also durchaus verstehen. Doch es ändert nichts an meinem Verhalten.
Marc ist ein höflicher Mensch. Er bedankt sich immer, wenn ich ihm etwas mitbringe. Aber den zwischenmenschlichen Kontakt kann er nie lange ertragen. In der Regel steht er schon nach wenigen Minuten auf, sagt sein übliches »Okay, danke, ciao« und geht weg. Bei einem unserer nächsten Treffen spreche ich ihn darauf an:
»Sag mir einfach, wenn ich dich alleine lassen soll. Es ist schließlich deine Bank und deine Wiese.«
»Okay, danke, ciao.« Ich gehe weiter.
Am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit sehe ich Marc schon von Weitem mitten auf der Wiese sitzen. Er hat eine Tüte Tortilla-Chips in der einen und ein Glas Chili-Dip in der anderen Hand. Ich lege die Tüte mit Frühstücksbrötchen neben ihn ins Gras und setze mich.
»Hey, wie gehts?«, begrüßt er mich. Offenbar hat er gute Laune.
»Mir gehts gut, dir auch?«, antworte ich.
»Ja, alles super«, sagt er und hält mir die Chipstüte und den Dip entgegen. »Willst du auch?«
»Nein danke, ich habe gerade gefrühstückt«, antworte ich mit Blick auf seine langen, dreckigen Fingernägel. Für eine Zigarettenlänge bleibe ich noch bei ihm im Gras sitzen, dann...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Angehörige • Beratungsstellen • Biografie • Biographien • eBooks • Fürsorge • Gesellschaft • Großstadt • Hamburg • Helfen • Hilfsangebote • Integration • Medizin • Obdachlosigkeit • Parkbank • Psychiatrie • Psychische Erkrankung • Psychologie • Psychose • Schanzenviertel • Schizophrenie • Sozialpsychiatrie • Wohnungslos |
ISBN-10 | 3-641-26003-5 / 3641260035 |
ISBN-13 | 978-3-641-26003-3 / 9783641260033 |
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