Die Natur auf der Flucht (eBook)
288 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-26789-6 (ISBN)
Benjamin von Brackel, geboren 1982, hat die Deutsche Journalistenschule in München absolviert, Politikwissenschaften in Erlangen und Berlin studiert und gehört heute zu den profiliertesten Umweltjournalisten in Deutschland. Als freier Journalist schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Natur hauptsächlich über den Klimawandel und hat das Onlinemagazin klimareporter° mitbegründet. 2016 wurde er mit dem Deutschen Umwelt-Medienpreis ausgezeichnet.
Das Signal
Washington D.C., 1985
Die Idee war ihm unter der Dusche gekommen. Dort hatte er oft die besten Einfälle. Robert Peters, von Freunden und Kollegen Rob genannt, hatte gerade seinen Biologieabschluss an der Universität Princeton in der Tasche und seinen ersten Job in der Hauptstadt bei einer kleinen Naturschutzorganisation namens Conservation Foundation begonnen. Für diese sollte er nun einen Aufsatz über den idealen Zuschnitt von Naturschutzgebieten schreiben. Im ganzen Land diskutierte die Umweltschutzszene: Ist es besser, ein großes Naturschutzgebiet zu haben oder doch lieber viele kleine?
Was wie eine nebensächliche Frage klingt, die eine kleine Gruppe von Experten beschäftigt, war alles andere als das. Diese Frage hatte aktuelle Relevanz: Auf der ganzen Welt schrumpften die Lebensräume für Tiere und Pflanzen, weil sich der Mensch immer weiter ausbreitete. Mehr und mehr Habitate waren umgeben von Städten und Ackerflächen oder zerschnitten von Straßen und Kanälen. Sie glichen Inseln im Meer.
Deshalb war es kein Zufall, dass sich Biologen wie Peters aus den Erkenntnissen der sogenannten Insel-Biogeografie bedienten, einem Fachgebiet, das sich mit der Frage beschäftigt, wie sich Arten auf Inseln entwickeln und wie sie aussterben. Grob gesagt kamen sie zu dem Schluss, dass Inseln umso weniger Arten beherbergen, je weiter sie vom Festland entfernt liegen und je isolierter und kleiner sie sind. Entscheidend für die Artenvielfalt ist schließlich der Austausch.
Das ließ sich auch auf fragmentierte Gebiete an Land übertragen: Waldstücke oder Naturschutzgebiete zum Beispiel. Damit hatten die Biologen eine neue Möglichkeit in der Hand, um zu berechnen, wie schnell die Arten dort aussterben werden.
Peters versank mit seinen Überlegungen regelrecht in der Materie, ehe er per Zufall auf ein weiteres Phänomen stieß, das die isolierten Lebensräume zu einem noch viel größeren Problem für die Arten machen sollte, als sie es ohnehin schon waren. Was als Schutzraum gedacht war, könnte sich auf lange Sicht als Falle herausstellen.
Unter der Dusche erinnerte sich Peters an einen Science-Artikel, der ihm in die Hände gefallen war. In diesem hatten NASA-Wissenschaftler die möglichen Auswirkungen des Treibhauseffekts beschrieben, eines Phänomens, über das noch kaum jemand sprach, und wenn, dann als Erscheinung der fernen Zukunft. Von sich verschiebenden Klimazonen schrieben die Wissenschaftler, welche ganze Landschaften in Nordamerika und Zentralasien in Wüsten verwandeln und den westantarktischen Eisschild abschmelzen lassen würden.1
Peters malte sich aus, was mit den Lebewesen in den Naturschutzgebieten passieren würde, wenn sich eines Tages die Klimazonen vom Äquator in Richtung beider Pole verschieben sollten. Und mit ihnen die Vegetationszonen. Dann, so wurde ihm klar, würden die Bedingungen für viele Arten schlagartig nicht mehr stimmen. Wer sich nicht anpassen konnte, würde zugrunde gehen. Es sei denn, den Arten würde es gelingen, abzuwandern. Aber wohin? Aus den Naturschutzgebieten heraus?
»Mein Gott«, dachte sich Peters, während das Wasser auf ihn herabprasselte. »Das wird furchtbar!«
»Eine lächerliche Idee«
Der Umweltschützer suchte die nächstgelegene Bibliothek auf. Er wollte wissen, was die Wissenschaft in den vergangenen Jahren zu diesem drohenden Problem herausgefunden hatte.
Er fand nichts.
Dann unterhielt er sich mit Artenschützern.
Keiner wusste etwas darüber. »Es wurde mir ziemlich schnell klar, dass niemand jemals darüber nachgedacht hatte«, erzählt Peters rückblickend. »Ich fühlte mich, als würde ich auf einem Gehsteig einen Zwanzig-Dollar-Schein finden, während alle Menschen daran vorbeilaufen und keiner ihn aufhebt.«
Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er sich.
Peters wusste, dass er an etwas Großem dran war, etwas, das ihn im heutigen Licht als Visionär erscheinen lässt, gehören doch apokalyptische Bilder von Kängurus, die durch verkohlte Wälder in Australien hüpfen, inzwischen genauso zu unserem Alltag wie ausgeblichene Korallenriffe oder Elche, die, übersät von Zecken, in kanadische Supermärkte einfallen.
Peters suchte deshalb Bob Jenkins auf, den Chefwissenschaftler von Nature Conservancy, einer der größten Naturschutzorganisationen der USA, die ihren Sitz ebenfalls in Washington, D.C. hat, in der Nähe des Weißen Hauses. Dieser hörte sich an, was der junge Biologe zu sagen hatte. Von seiner Antwort, die dann folgte, blieben Peters zwei Sätze im Kopf hängen.
»Eine lächerliche Idee.« Und: »Für den Artenschutz vollkommen wertlos.«
Diese Reaktion zeigte selbst bei einem Dickkopf wie Peters Wirkung: Der junge Uni-Absolvent, erst am Anfang seiner Karriere, war eingeschüchtert. Er stand als Spinner da. Trotzdem ließ ihn die Idee nicht mehr los. Er verliebte sich geradezu in sie. Also bat er eine befreundete Kollegin, die Ökologin Joan Darling, ihm bei seinem Fachartikel zu helfen. Sie wusste im Gegensatz zu ihm, was nötig war, um ihn zu publizieren. Und was als Erstes nötig war: mehr Informationen.
Diese fand er in der tiefen Vergangenheit. In der Arbeit von Forschern, die sich mit Vorliebe am Grund von Seen oder Mooren durch schlackige Sedimentschichten wühlen. Dort suchen Paläobiologen nach fossilem Blütenstaub. Bis zu hunderttausend Pollenkörner finden sich allein in einem Kubikzentimeter Seesediment.2 Für die Fossilienforscher ist das ein wahrer Schatz, der einen Blick weit zurück in die Geschichte des Lebens gewährt.
Durch besondere Lasermikroskope betrachten sie Pollen in drei Dimensionen. Aus ihrer Form können die Forscher auf die Gattung schließen, von der die Pollen abstammen, manchmal sogar auf die Art. Mehr noch: Sie können bestimmen, wann und wie viele Exemplare einer bestimmten Pflanzenart in der Erdgeschichte gewachsen sind. Denn jedes Jahr lagert sich auf dem Seegrund eine neue Sedimentschicht ab. Weil aber diese im Sommer anders gefärbt ist als im Winter, bilden sich ähnlich wie bei Bäumen Jahresringe. Aus diesen sogenannten Warven können die Paläoontologen Rückschlüsse auf frühere Klimaschwankungen ziehen, aber auch darauf, wie die Pflanzen darauf reagiert haben: Wie schnell breiteten sie sich über die Jahrtausende aus oder zogen sich zurück?
Diese Chronik der Erdgeschichte berichtete Peters von einem wiederkehrenden, archaischen Phänomen: Ungefähr alle hunderttausend Jahre setzt auf der Erde eine Warmzeit ein, die jede Tier- und Pflanzenart aktiviert und das Leben auf unserem Planeten neu verteilt. Scheinbar in stiller Übereinkunft begibt sich eine Art nach der anderen an Land und im Meer auf Wanderschaft: Insekten und Vögel, Amphibien und Reptilien, Säugetiere und Fische. Sogar Bäume. Massenhaft streben sie in Richtung der Pole, die Ozeane hinab und die Berge hinauf. Sie nutzen dabei den Raum, den ihnen die zurückweichenden Gletscher- und Eismassen überlassen. Wandelt sich das Klima erneut und kühlt sich ab, ziehen sich die Arten wieder zurück. Sie folgen einer unwiderstehlichen Kraft, die sie abwechselnd anzieht und wieder abstößt. Wie ein Tanz über den Planeten, den seine Bewohner im Laufe der letzten 2,6 Millionen Jahre Dutzende Male aufgeführt haben.
Schon Darwin hat das Phänomen vor über hundertfünfzig Jahren beschrieben: »Als die Eiszeit zurückwich und in beiden Hemisphären nach und nach wieder ihre vorigen Temperaturen herrschten, wurden die Formen der nördlichen gemäßigten Zonen, die im Tiefland am Äquator leben, in ihr früheres Habitat gedrängt oder vernichtet und von den aus dem Süden zurückkehrenden äquatorialen Formen ersetzt«, heißt es in Über die Entstehung der Arten.3
Aus Schutzgebieten werden Gefängnisse
Eines sprang Robert Peters bei der Recherche regelrecht ins Auge: Die Wanderung der Bäume lief mindestens eine Größenordnung langsamer ab als die Wanderung der Klimazonen. Mit anderen Worten: Viele Bäume blieben hoffnungslos zurück. Sie waren einfach zu langsam.
Auch für Tiere lagen den Paläobiologen Informationen vor. Für Bienen zum Beispiel, deren Chitinhüllen manchmal selbst über Jahrtausende im Sediment erhalten geblieben waren; ebenso wie die Knochen kleiner Säugetiere. Ihre Überreste offenbarten, dass viele Tiere zwar deutlich schneller auf die Klimaschwankungen reagieren konnten als Pflanzen, nur nutzte ihnen das nichts, wenn an den neuen Orten die Pflanzen fehlten, die sie zum Überleben brauchten.
Peters suchte nach Schere, Klebeband und Pinzette, um ein Schaubild zu basteln (Computer waren damals noch nicht weitverbreitet). Das erste Bild zeigte ein x-beliebiges Schutzgebiet, das er mit Schraffur unterlegte – das natürliche Verbreitungsgebiet einer Art. Das zweite Bild zeigte das Schutzgebiet immer noch innerhalb des schraffierten Bereichs, nun aber umgeben von weißen Flächen – Siedlungen und Anbauflächen von Menschen.
Auf dem dritten Schaubild befand sich das Schutzgebiet nun außerhalb der schraffierten Zone, also dem klimatischen Grenzbereich, in dem die Arten überleben können. Peters folgerte: »Die Konsequenzen wären am düstersten für all jene, die auf bestimmte Gebiete beschränkt sind oder die Charakteristiken von Arten teilen, die auf bestimmte Gebiete beschränkt sind, also eine begrenzte Reichweite haben, kleine Populationen und genetisch isoliert sind.«
Das hieß: Ausgerechnet die Schutzgebiete von heute würden zu den Gefängnissen von morgen werden.
Selbst...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Technik | |
Schlagworte | Artensterben • Artenvielfalt • Artenwanderung • Aussterben • Bären • Bedrohte Tierarten • Bieber • Bienen • Brakel • Brakkel • eBooks • Eisbären • Fischerei • #FridaysForFuture • Fridays For Future • FridaysForFuture • Greta Thunberg • Insekten • Insektensterben • Klima • Klimakatastrophe • Klimawandel • klimawandel auswirkungen • Meer • Naturschutz • Naturschutzgebiete • Ökozid • Treibhauseffekt • Wo sind die Tiere |
ISBN-10 | 3-641-26789-7 / 3641267897 |
ISBN-13 | 978-3-641-26789-6 / 9783641267896 |
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