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Erneuern oder untergehen (eBook)

Evangelische Kirchen vor der Entscheidung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-27336-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erneuern oder untergehen - Markus Beile
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Für eine Kirche auf gutem Grund
Markus Beile ist überzeugt: Menschen haben nach wie vor ein Interesse an Religion. In der protestantischen Kirche finden ihre religiösen Fragen und Erfahrungen aber immer weniger Widerhall. Nur wenn die Kirche das ändert, wird sie nicht untergehen: Das ist die ebenso nüchterne wie scharfe These dieses Buches. Markus Beile zeigt, welche konkreten Merkmale eine zukunftsfähige Kirche haben muss. Eine mutige und pointierte Einladung zu Debatte und Erneuerung.

Dr. Markus Beile, geb. 1964, studierte Philosophie und evangelische Theologie. Er war Pfarrer in Immenstaad/Bodensee, in Singapur und in Allensbach/Bodensee. Seit 2016 arbeitet er als Pfarrer und Religionslehrer in Konstanz. Außerdem ist Markus Beile Coach, Meditationslehrer und Theaterpädagoge.

GESELLSCHAFTLICHE VERÄNDERUNGEN

Vor Kurzem war ich wieder einmal in der Stadt, in der ich vor mehr als 35 Jahren mein Abitur gemacht habe. Als ich durch die Gassen der Altstadt schlenderte, kam mir alles so vertraut vor, als ob ich nie weggewesen wäre. Der Marktplatz, die Gasthäuser, die Treppe hinauf zur Burg: Alles war wie früher. Selbst die Bäckerei, in der wir regelmäßig eingekauft haben, gab es noch. Die Häuser der Altstadt werden wie damals vom Turm der evangelischen Stadtkirche überragt. Im Großen und Ganzen, so schien es mir für einen Moment, hat sich nichts verändert.

Doch dieser Eindruck trügt! Auch wenn äußerlich vieles an die Zeit von damals erinnert: Die Welt ist eine andere geworden. Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte sind tiefgreifend und wirken zurück auf das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis jedes Einzelnen – auch wenn dies nicht allen gleichermaßen bewusst ist. In den größeren Städten sind die gesellschaftlichen Veränderungen unübersehbar. Aber auch auf dem Land machen sie sich bemerkbar, wenngleich vielleicht erst auf den zweiten Blick. Schlagwortartig lassen sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte folgendermaßen benennen:

PLURALISIERUNG

Unsere Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht plural geworden.

Sie ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Weltsichten.1 Das war früher anders. Im Mittelalter hatte – zumindest offiziell – die Kirche die Deutungshoheit für alle wichtigen Lebensbereiche. Dieses Monopol ist im Lauf der Zeit verloren gegangen; das Zeitalter der Aufklärung spielte dabei eine wichtige emanzipatorische Rolle.

Die vielen verschiedenen Weltsichten, die die europäische Gesellschaft heute prägen, haben unterschiedlichen Charakter und sind in sich vieldimensional. Es gibt die naturwissenschaftliche Weltsicht, die marktwirtschaftliche Weltsicht, die Weltsichten der Kunst und Poesie, politisch-gesellschaftliche Weltsichten (Demokratie, Marxismus u. a.), religiöse Weltsichten (Christentum, Buddhismus, Esoterik usw.) und viele weitere. Alle haben sie einen Wahrheitsanspruch, jede auf ihre Weise. Es liegt am Einzelnen, ihnen einen Wahrheitswert zuzumessen – oder auch nicht. Während einige dieser Weltsichten, vor allem die naturwissenschaftliche, die marktwirtschaftliche und mit Einschränkungen auch die demokratische Weltsicht, in ihrer Geltung weithin unumstritten sind und die spätmoderne Gesellschaft entsprechend prägen, gelten andere Weltsichten aus Sicht der Mehrheit als optional beziehungsweise sind in ihrem Wahrheitsanspruch angefochten.

Auch Werte und Lebenseinstellungen haben sich pluralisiert. Das früher dominante Familienmodell, bestehend aus Vater, Mutter und (zwei) Kindern – um ein Beispiel zu nennen –, wurde abgelöst von einer Vielzahl von Lebensformen: Es gibt immer mehr Singles und Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Lebensformen sind gesellschaftlich anerkannt.

Die Pluralisierung zeigt sich auch in der zunehmenden Multikulturalität unserer Gesellschaft: Über zehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland – so viele wie nie zuvor.

TECHNISIERUNG

Die rasante technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte bestimmt unser Leben immer mehr. Waren noch vor 30 Jahren Telefon, Fernsehen und Radio die vertrauten Kommunikationsmittel, so ergibt sich heutzutage eine völlig neue Situation: Internet und Smartphone ermöglichen es, überall und jederzeit erreichbar zu sein und auf alle aktuellen Informationen zurückgreifen zu können. Medien informieren jedoch nicht nur, sie unterhalten, dienen der Kommunikation und eröffnen virtuelle Welten. Die Nutzung der Medien nimmt beständig zu. Ihre Rolle ist kaum zu überschätzen: Sie vermitteln uns immer mehr das, was wir »Welt« nennen, und filtern bzw. strukturieren unsere Erfahrungen (dies kommt nicht zuletzt in der Diskussion um »Fake News« zum Ausdruck).

Welche Entwicklungen aufgrund einer fortschreitenden Automatisierung und Digitalisierung noch auf uns zukommen, lässt sich kaum absehen. In der Industrie zeichnet sich eine fortschreitende Digitalisierung der Fertigungstechnik ab (»Industrie 4.0«). Die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung liegt zunehmend in der Hand weniger digitaler Großkonzerne (Google, Amazon, Apple, Facebook). Derzeit wird die Gefahr einer universalen Überwachung heftig diskutiert. Zusätzlich rückt das Thema »Künstliche Intelligenz« in den Fokus. Möglicherweise steht uns auch eine »Datenreligion« bevor, die die komplette Wirklichkeit nach algorithmischen Maßstäben bewertet und eine hohe Eigendynamik gewinnt.2

GLOBALISIERUNG

Noch vor 30 Jahren waren Politik und Wirtschaft in erster Linie national orientiert. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Die internationalen Verflechtungen nehmen in allen Lebensbereichen zu. Damit steigt der ökonomische Druck. Die Leistungskraft der nationalen Wirtschaft muss sich auf dem Weltmarkt beweisen.

Auch in unserer Wahrnehmung ist die Welt ein globales Dorf geworden. Ob ein Regierungswechsel in den USA ansteht, ein Taifun über die Philippinen zieht oder ein afrikanisches Land ins politische Chaos gerät: Zu jeder Stunde bringen uns die Nachrichten auf den neuesten Stand, und wer will, kann sich jederzeit im Internet oder auf Fernsehkanälen informieren, die rund um die Uhr Nachrichten aus aller Welt senden.

ÖKONOMISIERUNG

Bestimmender Faktor unserer Gesellschaft ist der omnipräsente Markt: Bezog sich dieser früher auf den engeren Bereich von Gütern und Waren, so dringt er in heutiger Zeit in alle Bereiche der Gesellschaft (Medizin, Medien, Kunst, Familie, Politik, Recht, Bildung, Wissenschaft) vor. Der Patient wird zum Kunden. Moderne Kunst wird als Geldanlage betrachtet, dabei werden irre Summen ausgegeben. Die öffentlich subventionierte Kultur steht hingegen unter einem immer größeren Rechtfertigungsdruck. Das ökonomische Prinzip des »Immer mehr« wirkt sich auch auf Arbeit und Freizeit der Einzelnen aus. Selbst die Partnerwahl wird vermehrt unter dem Gesichtspunkt einer Investition mit erwartbarer Rendite betrachtet. Das wirtschaftliche System hinter all diesen Phänomenen ist der Kapitalismus, der sich inzwischen auch in den kommunistischen und ehemals kommunistischen Ländern durchgesetzt hat.

VERSCHÄRFTE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE KONFLIKTLAGEN

Die Globalisierung und Ökonomisierung der Welt hat politisch-gesellschaftliche Entwicklungen zur Folge, die in ihrer Schärfe und Dramatik vor 30 Jahren kaum absehbar gewesen sind. Der Raubbau an der Natur hat massive Konsequenzen, was sich vor allem im Klimawandel deutlich dokumentiert. Die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander – nicht nur global, sondern auch innerhalb der Industrieländer. Kriege gehören wieder zur Tagesordnung, selbst in Europa. Dabei spielen die Religionen häufig eine problematische Rolle. Kriege, die Folgen des Klimawandels und Armut führen zu großen Migrationsbewegungen Richtung Europa.

FLEXIBILISIERUNG

Organisationen und Personen müssen sich einer sich rasch verändernden Welt immer wieder neu anpassen. Das bedeutet für das Management von Wirtschaftsunternehmen eine stete Herausforderung. Leiharbeit und Zeitverträge tragen dieser Entwicklung Rechnung, projektbezogenes Arbeiten ist gefordert. Von Arbeitnehmern wird Flexibilität hinsichtlich der Arbeitszeit und des Arbeitsortes sowie permanente Erreichbarkeit erwartet. Lebenslanges Lernen ist selbstverständlicher Bestandteil einer Berufsbiografie. Menschen sind kaum mehr ein ganzes Leben bei einer Firma angestellt. Das bringt häufige Umzüge mit sich – und die Notwendigkeit, sich immer wieder neu einzuleben.

VERMINDERTE POLARITÄT

Die Freizeitbereich übernimmt die Rolle einer Art Gegenwelt zur Arbeit, die das Leben Berufstätiger immer mehr bestimmt. Ausspannen oder aktive Freizeitgestaltung, allein oder mit der Familie bzw. Freunden, in virtuellen Welten unterwegs sein, einkaufen gehen oder Events besuchen: Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, den Feierabend, das Wochenende oder den Urlaub zu nutzen. Der Wunsch, etwas Besonderes zu erleben, ist ausgeprägt. Entsprechend steigen die Anforderungen an das Freizeitangebot: Man ist bereit, viel Geld auszugeben und weite Entfernungen zurückzulegen, erwartet im Gegenzug aber auch ein entsprechendes Erlebnis.

Während die einen versuchen, ihre Freizeit hermetisch gegenüber der Arbeit abzuschotten, lassen die anderen – und ihre Anzahl steigt beständig – bewusst zu, dass die Arbeit immer mehr in ihre Freizeit eingreift.

GESTEIGERTE MOBILITÄT

Mobilität ist eine Grundsignatur unserer Gesellschaft. Die tägliche Fahrt zum Arbeitsplatz und zurück, die für manche mehrere Stunden dauert, die Fahrten, die man in der Freizeit zurücklegt: All das ist zeitintensiv. Statistisch gesehen, verbringt ein deutscher Bürger durchschnittlich rund zweieinhalb Jahre seines Lebens im Auto.

INDIVIDUALISIERUNG

In der unendlichen Vielzahl von Weltsichten, Arbeitsbereichen und Freizeitaktivitäten muss jeder seinen individuellen Weg finden. Vorgaben gibt es immer weniger, Handlungsoptionen immer mehr.

War die Lebenswelt früher geprägt durch klar bestimmbare soziale Gruppierungen (ständische Gesellschaft), ist sie in den letzten Jahrzehnten immer unübersichtlicher geworden. Ähnlichkeiten anhand von Wertorientierungen, Lebenszielen und Lebensweisen bzw. -stilen werden mithilfe des Milieubegriffs gekennzeichnet.

INSZENIERUNG

Reichte es früher, für ein Dorf- oder Stadtteilfest ein paar...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bedeutung des Christentums • eBooks • Kindesmissbrauch • Kirche auf gutem Grund • Kirchenaustritte • Kirchenreform • Kirchensteuer • Kirche und Jugend • Kirche und Politik • Kirche und Spiritualität • Schuld der Kirchen • Zukunft der Kirche • Zukunft des Christentums
ISBN-10 3-641-27336-6 / 3641273366
ISBN-13 978-3-641-27336-1 / 9783641273361
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